Produktdetails
- Verlag: Patmos
- ISBN-13: 9783491690295
- Artikelnr.: 24622949
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.1999Goethes Opfer von Tag zu Tag
Immer auf die Schwachen: Tilman Jens verwaltet eine Sammelklage
Schlechte Zeiten für Olympier, es bröckelt allerorten. Im Falle Goethes werden die Angriffe zahlreicher, leicht ramponiert geht sein Standbild ins Jubiläumsjahr. Da ist von Spitzeldiensten und Zensur die Rede (Daniel W. Wilson); auch die literarische Karriere hat spätestens seit Hans Mayers "Versuch über den Erfolg" (1973) an Glanz verloren. Und Goethes Lebensverhältnisse? Daß sie zum bildungsbürgerlichen Vorbild nicht taugen, ist fast noch das Beste, was sich über sie sagen läßt.
So erscheint die von Tilman Jens vorgelegte "Schmähschrift" gut vorbereitet und zur rechten Stunde. Klassikerverehrung ist ihre Sache nicht, doch setzt die Schmähung den Personenkult voraus. Friede den Werken, Polemik ihrem Urheber. Hier steht er vor uns in all seiner Schuftigkeit. Goethe und seine Opfer: Glücklicherweise hat Jens sein Pamphlet à jour geschrieben, denn unter diesem Titel wäre auch ein Dossier von enzyklopädischen Ausmaßen vorstellbar. Das unterhaltsame Bändchen beschränkt sich auf die Nacherzählung der bekannten und schwerwiegenden Fälle. Da sind die einstigen Sturm-und-Drang-Konsorten Lenz, Klinger, Herder: vom geadelten Minister verleugnet und verstoßen. Die Jenaer Freigeister Schiller, Hölderlin und Fichte: im Stich gelassen, mit herablassenden Ratschlägen abgespeist oder der Lächerlichkeit preisgegeben. Der unglückliche Kleist sah seinen "Zerbrochnen Krug" in Goethes Händen, aufgeführt und durchgefallen. Nach einem wiederkehrenden Handlungsmuster zu suchen fällt Jens nicht schwer. Sie alle zogen Goethes verdrängten Selbsthaß auf sich, denn sie erinnerten ihn an den radikalen, leidenschaftlichen Dichter, der er gewesen war oder hätte sein können. Mit dem schlechten Gewissen des Renegaten verfolgte er ehemalige Mitstreiter und junge Talente. Je näher sie seinen Träumen kamen, desto harscher wurden sie abgestraft.
Das Jahr 1775, mit dem Jens seine Reihe beginnen läßt, bildet die Wasserscheide. Die Berufung nach Weimar bringt Goethe definitiv auf die Karrierespur, in die Sphäre des genußreichen Lebens und der politischen Macht. Der Geheime Rat dient seinem Fürsten nicht als weltfremder Schöngeist. Mit höfischer Klugheit setzt dieser Tasso seinen Ehrgeiz darein, der bessere Antonio zu sein. Nach einer mißglückten Begegnung in Teplitz klagte Beethoven, dem Schöpfer des Egmont behage inzwischen die Hofluft "mehr, als es einem Dichter ziemt". Ist er Politiker auf Kosten des Künstlers? Jens läßt ein Dutzend Stimmen zu Wort kommen, die genau diesen Vorwurf erheben. Einmal mehr bekräftigt er unfreiwillig den alten Antagonismus von Geist und Macht. Schon die Zeitgenossen glaubten, ein Goethe in Amt und Würden "sei als Dichter auf viele Jahre für die Welt verloren". Doch Befürchtungen wie diejenige Wielands erwiesen sich als verfrüht. Auf der Strecke blieb nicht Goethes Produktivität, sondern seine sterbliche Umgebung.
Und es starb sich zahlreich in der Nähe des Olympiers. Seine Schwester Cornelia überlebte er ebenso wie die spät geehelichte Christiane und schließlich den eigenen Sohn, der am Alkohol zugrunde ging: "Der Helden Söhne werden Taugenichtse", weiß Leonardo in den "Lehrjahren". Das Ableben seiner Anverwandten kam Goethe stets ungelegen, "da es mich in so glücklichen Zeiten überrascht", wie er nach dem Tode Cornelias 1777 seufzte. Dergleichen paßte nicht zu seinem notorischen Wohlbefinden und mußte mit allen Mitteln ferngehalten werden. Von Schillers Tod wagt ihn Christiane erst am nächsten Tage in Kenntnis zu setzen, um seine Nachtruhe zu schonen. Sie selbst stirbt elend, aber diskret; "keine zehn Meter" von ihrem Mann entfernt, wie Jens vorrechnet, und doch ohne Goethes Beistand. "Kopf leicht und frei", kann er während Christianes Todeskampf im Tagebuch notieren. Menschliches Versagen, versagte Menschlichkeit. Dabei wollte Goethe doch nur "lieben, ohne dass mich's plagt".
Auch wer außer Konkurrenz stand, subaltern oder gar in Schwierigkeiten war, konnte Goethes Opfer werden. Seine Bedienten Seidel und Stadelmann hat er im Undank entlassen und vergessen. Sie hatten nicht einmal die Chance, ihm lästig zu fallen wie sein früherer Gönner Johann Heinrich Merck, den Goethe wissen ließ: "Dein Schicksal drückt mich." Goethe mied diesen Druck, oder er parierte ihn. Gewiß war er, was Jens ihm in immer neuen Anläufen vorwirft: gefühlskalt und bindungsunfähig. Aber ging er wirklich über Leichen? Sein Überlebensprinzip bestand darin, den Tod zu delegieren. "Lenz starb seinen Goethe-Tod im Straßengraben, Seidel im Irrenhaus, Stadelmann im Obdachlosen-Asyl." Und schlimmer noch für Jens: Goethe leistete keine Trauerarbeit. "Keine Rekriminationen", war seine Devise, "keine Vorwürfe über Vergangnes nun doch nicht zu Änderndes." Damit ist der Punkt bezeichnet, an dem die Privatangelegenheiten seiner Lebensführung in die poetische Produktion übergreifen und allgemeines Interesse verdienen. Obwohl in dieser Abrechnung von der Literatur eher weniger die Rede ist, bietet sie unterhalb des moralischen Cantus firmus einigen Aufschluß über die Zurüstungen und Zurichtungen, die der Kunst vorangehen. Vielleicht eignet sich "Goethe als Mensch" mehr zur theatralischen denn zur journalistischen Aufbereitung. Ein Leben voller Prätention, Geltungssucht, Zwanghaftigkeit, als wärs ein Stück von Thomas Bernhard. Kunst ist, zuerst und im mehrfachen Sinne, Behauptung. Nicht Ausdruck des Selbst, sondern das große Abräumen vor seinem Auftritt. Goethes Entschlossenheit, die dichterische Existenz von allen Nebengeräuschen freizuhalten, von Vorwürfen oder Erwartungen gar, die sich aus der Not anderer für ihn ergeben konnten, verdichtete sich zum Habitus der Kälte.
"Goethe und seine Opfer" beginnt und endet mit dem verlassenen und verfallenen Hauptdarsteller allein auf leerer Bühne. Doch für die Leere des Subjekts, für seinen destruktiven Charakter als Pendant schöpferischer Energie hat Jens keinen Blick. Ihm erklären sich die aufgelisteten Grausamkeiten als Beziehungstaten eines Sohnes, der die Jugend in sich verriet und zum Vater wurde. Karl August Böttiger wird angeführt mit der Beobachtung: "Alles gezwickte, Ministerartige hat Göthe von seinem Vater." Dieses Winks hätte es nicht bedurft. Schon mit dem ersten, ausführlichen Kapitel über Jakob Michael Reinhold Lenz signalisiert Tilman Jens, daß er ein Vaterbuch im Geist der späten 68er geschrieben hat. Seine Schmähschrift läßt das Werthersche Gefühlsbad unangetastet. Jens wendet die Emphase ästhetischer Pubertät gegen jenen, der es verstand, durch immer neue Häutungen Überwundenes von sich abzustreifen und daraus sein Lebenselixier bezog. Goethes prominente Opfer hingegen waren zornige, empfindliche Söhne, die das Zentralgestirn nur auf exzentrischer Bahn umrunden konnten.
Jens hegt Sympathie für die underdogs, soviel ist klar. Aber sein Faible für die Lenz, Kleist, Klinger bleibt auf deren erdrückendes Gegenüber eigentümlich fixiert. Stumpf wird eine Invektive, die den Mythos, den sie angreift, negativ fortschreibt. Es könnte sein, daß Goethes Größe weiter wächst, gerade an seinen Opfern und deren Verteidigern. Nicht das Schlechteste in Zeiten um sich greifender Kanonverdrossenheit - die Wiederkehr des Lesetips im Gestus pädagogischer Bedenklichkeit. Vor diesem Dichter sollte vielleicht wirklich einmal gewarnt werden. ALEXANDER HONOLD
Tilman Jens: "Goethe und seine Opfer". Eine Schmähschrift. Patmos Verlag, Düsseldorf 1999. 156 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Immer auf die Schwachen: Tilman Jens verwaltet eine Sammelklage
Schlechte Zeiten für Olympier, es bröckelt allerorten. Im Falle Goethes werden die Angriffe zahlreicher, leicht ramponiert geht sein Standbild ins Jubiläumsjahr. Da ist von Spitzeldiensten und Zensur die Rede (Daniel W. Wilson); auch die literarische Karriere hat spätestens seit Hans Mayers "Versuch über den Erfolg" (1973) an Glanz verloren. Und Goethes Lebensverhältnisse? Daß sie zum bildungsbürgerlichen Vorbild nicht taugen, ist fast noch das Beste, was sich über sie sagen läßt.
So erscheint die von Tilman Jens vorgelegte "Schmähschrift" gut vorbereitet und zur rechten Stunde. Klassikerverehrung ist ihre Sache nicht, doch setzt die Schmähung den Personenkult voraus. Friede den Werken, Polemik ihrem Urheber. Hier steht er vor uns in all seiner Schuftigkeit. Goethe und seine Opfer: Glücklicherweise hat Jens sein Pamphlet à jour geschrieben, denn unter diesem Titel wäre auch ein Dossier von enzyklopädischen Ausmaßen vorstellbar. Das unterhaltsame Bändchen beschränkt sich auf die Nacherzählung der bekannten und schwerwiegenden Fälle. Da sind die einstigen Sturm-und-Drang-Konsorten Lenz, Klinger, Herder: vom geadelten Minister verleugnet und verstoßen. Die Jenaer Freigeister Schiller, Hölderlin und Fichte: im Stich gelassen, mit herablassenden Ratschlägen abgespeist oder der Lächerlichkeit preisgegeben. Der unglückliche Kleist sah seinen "Zerbrochnen Krug" in Goethes Händen, aufgeführt und durchgefallen. Nach einem wiederkehrenden Handlungsmuster zu suchen fällt Jens nicht schwer. Sie alle zogen Goethes verdrängten Selbsthaß auf sich, denn sie erinnerten ihn an den radikalen, leidenschaftlichen Dichter, der er gewesen war oder hätte sein können. Mit dem schlechten Gewissen des Renegaten verfolgte er ehemalige Mitstreiter und junge Talente. Je näher sie seinen Träumen kamen, desto harscher wurden sie abgestraft.
Das Jahr 1775, mit dem Jens seine Reihe beginnen läßt, bildet die Wasserscheide. Die Berufung nach Weimar bringt Goethe definitiv auf die Karrierespur, in die Sphäre des genußreichen Lebens und der politischen Macht. Der Geheime Rat dient seinem Fürsten nicht als weltfremder Schöngeist. Mit höfischer Klugheit setzt dieser Tasso seinen Ehrgeiz darein, der bessere Antonio zu sein. Nach einer mißglückten Begegnung in Teplitz klagte Beethoven, dem Schöpfer des Egmont behage inzwischen die Hofluft "mehr, als es einem Dichter ziemt". Ist er Politiker auf Kosten des Künstlers? Jens läßt ein Dutzend Stimmen zu Wort kommen, die genau diesen Vorwurf erheben. Einmal mehr bekräftigt er unfreiwillig den alten Antagonismus von Geist und Macht. Schon die Zeitgenossen glaubten, ein Goethe in Amt und Würden "sei als Dichter auf viele Jahre für die Welt verloren". Doch Befürchtungen wie diejenige Wielands erwiesen sich als verfrüht. Auf der Strecke blieb nicht Goethes Produktivität, sondern seine sterbliche Umgebung.
Und es starb sich zahlreich in der Nähe des Olympiers. Seine Schwester Cornelia überlebte er ebenso wie die spät geehelichte Christiane und schließlich den eigenen Sohn, der am Alkohol zugrunde ging: "Der Helden Söhne werden Taugenichtse", weiß Leonardo in den "Lehrjahren". Das Ableben seiner Anverwandten kam Goethe stets ungelegen, "da es mich in so glücklichen Zeiten überrascht", wie er nach dem Tode Cornelias 1777 seufzte. Dergleichen paßte nicht zu seinem notorischen Wohlbefinden und mußte mit allen Mitteln ferngehalten werden. Von Schillers Tod wagt ihn Christiane erst am nächsten Tage in Kenntnis zu setzen, um seine Nachtruhe zu schonen. Sie selbst stirbt elend, aber diskret; "keine zehn Meter" von ihrem Mann entfernt, wie Jens vorrechnet, und doch ohne Goethes Beistand. "Kopf leicht und frei", kann er während Christianes Todeskampf im Tagebuch notieren. Menschliches Versagen, versagte Menschlichkeit. Dabei wollte Goethe doch nur "lieben, ohne dass mich's plagt".
Auch wer außer Konkurrenz stand, subaltern oder gar in Schwierigkeiten war, konnte Goethes Opfer werden. Seine Bedienten Seidel und Stadelmann hat er im Undank entlassen und vergessen. Sie hatten nicht einmal die Chance, ihm lästig zu fallen wie sein früherer Gönner Johann Heinrich Merck, den Goethe wissen ließ: "Dein Schicksal drückt mich." Goethe mied diesen Druck, oder er parierte ihn. Gewiß war er, was Jens ihm in immer neuen Anläufen vorwirft: gefühlskalt und bindungsunfähig. Aber ging er wirklich über Leichen? Sein Überlebensprinzip bestand darin, den Tod zu delegieren. "Lenz starb seinen Goethe-Tod im Straßengraben, Seidel im Irrenhaus, Stadelmann im Obdachlosen-Asyl." Und schlimmer noch für Jens: Goethe leistete keine Trauerarbeit. "Keine Rekriminationen", war seine Devise, "keine Vorwürfe über Vergangnes nun doch nicht zu Änderndes." Damit ist der Punkt bezeichnet, an dem die Privatangelegenheiten seiner Lebensführung in die poetische Produktion übergreifen und allgemeines Interesse verdienen. Obwohl in dieser Abrechnung von der Literatur eher weniger die Rede ist, bietet sie unterhalb des moralischen Cantus firmus einigen Aufschluß über die Zurüstungen und Zurichtungen, die der Kunst vorangehen. Vielleicht eignet sich "Goethe als Mensch" mehr zur theatralischen denn zur journalistischen Aufbereitung. Ein Leben voller Prätention, Geltungssucht, Zwanghaftigkeit, als wärs ein Stück von Thomas Bernhard. Kunst ist, zuerst und im mehrfachen Sinne, Behauptung. Nicht Ausdruck des Selbst, sondern das große Abräumen vor seinem Auftritt. Goethes Entschlossenheit, die dichterische Existenz von allen Nebengeräuschen freizuhalten, von Vorwürfen oder Erwartungen gar, die sich aus der Not anderer für ihn ergeben konnten, verdichtete sich zum Habitus der Kälte.
"Goethe und seine Opfer" beginnt und endet mit dem verlassenen und verfallenen Hauptdarsteller allein auf leerer Bühne. Doch für die Leere des Subjekts, für seinen destruktiven Charakter als Pendant schöpferischer Energie hat Jens keinen Blick. Ihm erklären sich die aufgelisteten Grausamkeiten als Beziehungstaten eines Sohnes, der die Jugend in sich verriet und zum Vater wurde. Karl August Böttiger wird angeführt mit der Beobachtung: "Alles gezwickte, Ministerartige hat Göthe von seinem Vater." Dieses Winks hätte es nicht bedurft. Schon mit dem ersten, ausführlichen Kapitel über Jakob Michael Reinhold Lenz signalisiert Tilman Jens, daß er ein Vaterbuch im Geist der späten 68er geschrieben hat. Seine Schmähschrift läßt das Werthersche Gefühlsbad unangetastet. Jens wendet die Emphase ästhetischer Pubertät gegen jenen, der es verstand, durch immer neue Häutungen Überwundenes von sich abzustreifen und daraus sein Lebenselixier bezog. Goethes prominente Opfer hingegen waren zornige, empfindliche Söhne, die das Zentralgestirn nur auf exzentrischer Bahn umrunden konnten.
Jens hegt Sympathie für die underdogs, soviel ist klar. Aber sein Faible für die Lenz, Kleist, Klinger bleibt auf deren erdrückendes Gegenüber eigentümlich fixiert. Stumpf wird eine Invektive, die den Mythos, den sie angreift, negativ fortschreibt. Es könnte sein, daß Goethes Größe weiter wächst, gerade an seinen Opfern und deren Verteidigern. Nicht das Schlechteste in Zeiten um sich greifender Kanonverdrossenheit - die Wiederkehr des Lesetips im Gestus pädagogischer Bedenklichkeit. Vor diesem Dichter sollte vielleicht wirklich einmal gewarnt werden. ALEXANDER HONOLD
Tilman Jens: "Goethe und seine Opfer". Eine Schmähschrift. Patmos Verlag, Düsseldorf 1999. 156 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main