»Oft und gern« sei er »in Gotha gewesen«, an seine Aufenthalte dort würden »sich die reichsten Erinnerungen eines langen Lebens knüpfen«, erinnert sich der 78-jährige Goethe. Als junger Mann hatte er von Italien dem Gothaer Herzog sogar seine Dienste angeboten. Dennoch ist Weimar über fünfzig Jahre Goethes Lebensort geblieben; die Stadt, an die sich der Begriff der Weimarer Klassik bindet. Hätte es nicht auch Gotha sein können? Diese Frage ist der Ausgangspunkt von Sigrid Damms neuem Buch. Vom ersten Aufenthalt des 19-jährigen Studenten auf Schloss Friedenstein über die intensive Zeit der Freundschaft Goethes zum Gothaer Regenten und dessen Bruder bis hin zum alten Dichter, dem Besuche und Nachrichten aus Gotha stets willkommen sind, wird erzählt. Wir erleben Goethe als gern gesehenen Gast und umworbenen Gesprächspartner in Gotha, als Dichter, privat und in diplomatischer Mission, erfahren die vielfältigen Gründe seiner Anwesenheit zwischen 1776 und 1801, später die seines Fernbleibens von Gotha. Dieses Buch - wie stets bei Sigrid Damm auf der Grundlage akribischer Recherchen erarbeitet - enthüllt vor dem Hintergrund von Kriegen und Wirrnissen, von Kongruenz und Widerstreit zwischen den benachbarten Fürstenhöfen Gotha und Weimar ein weitgehend unbekanntes Kapitel in Goethes Biographie und fügt ihr eine neue aufregende Farbe hinzu.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mehr Fantasie hätte Rezensent Wolfgang Bunzel der Autorin Sigrid Damm und ihrem Buch über Goethe und Gotha gewünscht. Was an Fakten über Goethes Verbindungen zum Gothaer Hof ausfindig zu machen ist, bringt die Autorin ins Buch ein, daran zweifelt der Rezensent nicht. Auch daran, dass Damm sich nicht in die sensationsheischende Art anderer Goethe-Darstellungen einreiht, sondern versiert erzählend Fakten ansammelt, mag der Rezensent nicht herummäkeln. Im Gegenteil, bewundernd konstatiert er die Vollständigkeit der Darstellung. Grund für Bunzels Unbehagen ist der Umstand, dass Goethe nur in der Zeit von 1776 is 1801 nennenswerte Verbindungen zu Gotha pflegte. Die übrige Zeit jedoch, so erklärt der Rezensent, füllt die Autorin mit Briefpassagen, Tagebucheinträgen, allgemeinen Goethe-Daten oder Exkursen zu Napoleon und zu den Befreiungskriegen, anstatt "Möglichkeitsräume" zu erforschen, etwa Gothas Rolle in der Konkurrenz zwischen Weimar und Jena betreffend.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2014Wenn Goethe nach Gotha gegangen wäre
Noch eine Residenzstadt: Sigrid Damm ergründet die wenig bekannten Beziehungen des Dichters zu ihrem Heimatort
Die auf ein breiteres Publikum zielenden Goethe-Darstellungen der letzten Jahre waren zumeist Sensationsgeschichten. Erst ging es darum, Goethe und den Weimarer Hof als intrigante Gegenspieler der Illuminaten zu entlarven (Daniel W. Wilson), dann wieder sollte die Herzoginmutter Anna Amalia die eigentliche Geliebte Goethes vor Christiane Vulpius sein (Ettore Ghibellino). Von solchen auf die Sensationsgier der Leser schielenden "Enthüllungen" hebt sich das neue Buch von Sigrid Damm wohltuend ab. Es lenkt das Augenmerk auf ein vergleichsweise wenig bekanntes Kapitel in Goethes Leben, nämlich die Beziehungen, die ihn mit der benachbarten Residenzstadt Gotha verbanden. Nach und nach schält sich heraus, dass der von 1776 an in Weimar lebende und bald zum sachsen-weimarischen Minister aufgestiegene Dichter intensiv auch mit dem benachbarten Hof zu tun hatte.
Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg und seine Frau Charlotte schätzten den aus der Freien Reichsstadt Frankfurt stammenden Goethe sehr und suchten den Kontakt zu ihm. Umgekehrt genoss dieser die Gunst, die ihm von der Regentenfamilie entgegengebracht wurde. Die gemeinsamen Interessengebiete waren dabei weit gespannt und reichten von der bildenden Kunst bis zur Astronomie. Allerdings wurde die beiderseitige Verbundenheit schon bald auf eine harte Probe gestellt, weil der Gothaer Herzog, die Herzogin und der Kronprinz - ganz im Gegensatz zum Weimarer Hof und zu Goethe selbst - erkennbar Sympathien für die Ziele der Französischen Revolution hegten. Nun traten erste Spannungen auf, die indes überspielt werden konnten, solange Ernst II. lebte. Nach seinem Tod und dem Regierungsantritt des Sohnes August im Jahr 1804 lockerte sich das Verhältnis dann rasch, und es blieb bei einem sporadischen Austausch.
Einigermaßen ergiebig für eine biographisch-zeitgeschichtliche Darstellung ist also nur die Zeit zwischen 1776 und 1801. Die in Gotha zur Welt gekommene Sigrid Damm aber möchte Goethes Beziehungen zu ihrer Geburtsstadt, deren Ehrenbürgerin sie seit 2010 ist, unbedingt bis zu seinem Lebensende weiterverfolgen. Und weil sie sich nach der auch quellenmäßig dichten ersten Phase mit einem sehr viel weniger ergiebigen und obendrein diskontinuierlichen Folgezeitraum herumschlagen muss, reichert sie ihre Darstellung durch ausführliche Exkurse etwa zu Napoleon oder den Befreiungskriegen an. Das ist legitim, hat jedoch zur Folge, dass der Leser vom elften der insgesamt siebzehn Kapitel an einen allgemeinen Abriss von Goethes Biographie vor sich hat, der zwar immer wieder auf Gotha zurücklenkt, in dem die Nachbarresidenz aber nur noch eine Nebenrolle spielt.
Wie in ihren früheren Büchern zu Jakob Michael Reinhold Lenz, zu Goethes Schwester Cornelia oder zu seiner Frau Christiane erweist sich Damm als überaus versierte Erzählerin, die ihren Stoff souverän handhabt, durch kluge Vorgriffe oder gezielte Rückblenden auflockert und dem Leser gekonnt nahebringt. Dass die Darstellung diesmal etwas spröder als sonst gerät, liegt zum einen am Thema, zum anderen daran, dass sich die Verfasserin entschlossen hat, keinen erhalten gebliebenen Quellenbeleg ungenutzt zu lassen. Dieser fast enzyklopädisch zu nennende Anspruch zwingt zum Referieren, was der Darstellung zuweilen etwas Bemühtes gibt. Wiederholt werden lange Passagen aus Briefen, Gesprächen oder aus Goethes Tagebüchern zitiert. Sigrid Damms Buch ist im Grunde eine Nach-Erzählung; Es rekonstruiert Goethes wechselvolle Beziehungen zu Gotha und dem dortigen Hof in bewundernswerter Vollständigkeit, überlässt sich dabei freilich weitgehend dem vorgefundenen Material.
Daraus Thesen abzuleiten ist ihre Sache nicht. Ebenso wenig interessiert sie sich für die Ergebnisse der Konstellationenforschung, die in den letzten Jahren etwa zeigen konnte, was für ein produktives topographisches Spannungsfeld Weimar und Jena um 1800 gebildet haben. Nur zu gern hätte man gewusst, welche Rolle Gotha in dieser Städtekonkurrenz spielt.
Spannend wird die Studie immer dann, wenn sich die Verfasserin aus der Deckung des Faktischen wagt. So berichtet Damm etwa von der Begegnung des jungen Goethe mit dem berühmten Schauspieler Conrad Ekhof, der mit der Truppe Abel Seylers in Weimar gastiert. Nach dem Brand des dortigen Theaterhauses schlägt dieser vor, dass die Höfe in Weimar und Gotha ein gemeinsames Ensemble unterhalten sollten: "Man stelle sich vor, der in Theatersachen noch unerfahrene Goethe und der lebenskluge, reife Ekhof, der Vater der deutschen Schauspielkunst, hätten des Längeren miteinander arbeiten können." Leider kam es nicht dazu. Ein anderes Mal geht Damm auf Goethes Unentschiedenheit ein, ob er nach seinem anderthalb Jahre dauernden Aufenthalt in Italien wirklich nach Weimar zurückkehren soll, wo die Gefahr droht, dass er die Schriftstellerei wieder seiner amtlichen Tätigkeit unterordnen muss. Zumindest kurzzeitig überlegt er, dass doch Gotha ein neuer geeigneter Wirkungsort für ihn sein könnte.
Was wäre passiert, wenn er diese Option gewählt hätte? Wie wäre Goethes Leben dann verlaufen? Wenn Sigrid Damm solchen Möglichkeitsräumen der Geschichte nachspürt und ihr Buch den - mit Jean Paul zu sprechen - Charakter einer Konjekturalbiographie annimmt, wirkt die Darstellung regelrecht elektrisierend. Leider ruft sich die Verfasserin allzu rasch wieder zur Ordnung: "Aber nicht der Phantasie wollen wir Raum geben, sondern den Tatsachen." Nach der Lektüre ihres neuen Werks wird sich wohl bei manchem das Gefühl einstellen, es wäre ratsamer gewesen, die nüchternen Fakten ein wenig mehr in den Hintergrund zu rücken und stärker die Kraft der Phantasie wirken zu lassen.
WOLFGANG BUNZEL
Sigrid Damm: "Goethes Freunde in Gotha und Weimar". Insel Verlag, Berlin 2014. 239 S., geb., 19,95 [Euro].
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Noch eine Residenzstadt: Sigrid Damm ergründet die wenig bekannten Beziehungen des Dichters zu ihrem Heimatort
Die auf ein breiteres Publikum zielenden Goethe-Darstellungen der letzten Jahre waren zumeist Sensationsgeschichten. Erst ging es darum, Goethe und den Weimarer Hof als intrigante Gegenspieler der Illuminaten zu entlarven (Daniel W. Wilson), dann wieder sollte die Herzoginmutter Anna Amalia die eigentliche Geliebte Goethes vor Christiane Vulpius sein (Ettore Ghibellino). Von solchen auf die Sensationsgier der Leser schielenden "Enthüllungen" hebt sich das neue Buch von Sigrid Damm wohltuend ab. Es lenkt das Augenmerk auf ein vergleichsweise wenig bekanntes Kapitel in Goethes Leben, nämlich die Beziehungen, die ihn mit der benachbarten Residenzstadt Gotha verbanden. Nach und nach schält sich heraus, dass der von 1776 an in Weimar lebende und bald zum sachsen-weimarischen Minister aufgestiegene Dichter intensiv auch mit dem benachbarten Hof zu tun hatte.
Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg und seine Frau Charlotte schätzten den aus der Freien Reichsstadt Frankfurt stammenden Goethe sehr und suchten den Kontakt zu ihm. Umgekehrt genoss dieser die Gunst, die ihm von der Regentenfamilie entgegengebracht wurde. Die gemeinsamen Interessengebiete waren dabei weit gespannt und reichten von der bildenden Kunst bis zur Astronomie. Allerdings wurde die beiderseitige Verbundenheit schon bald auf eine harte Probe gestellt, weil der Gothaer Herzog, die Herzogin und der Kronprinz - ganz im Gegensatz zum Weimarer Hof und zu Goethe selbst - erkennbar Sympathien für die Ziele der Französischen Revolution hegten. Nun traten erste Spannungen auf, die indes überspielt werden konnten, solange Ernst II. lebte. Nach seinem Tod und dem Regierungsantritt des Sohnes August im Jahr 1804 lockerte sich das Verhältnis dann rasch, und es blieb bei einem sporadischen Austausch.
Einigermaßen ergiebig für eine biographisch-zeitgeschichtliche Darstellung ist also nur die Zeit zwischen 1776 und 1801. Die in Gotha zur Welt gekommene Sigrid Damm aber möchte Goethes Beziehungen zu ihrer Geburtsstadt, deren Ehrenbürgerin sie seit 2010 ist, unbedingt bis zu seinem Lebensende weiterverfolgen. Und weil sie sich nach der auch quellenmäßig dichten ersten Phase mit einem sehr viel weniger ergiebigen und obendrein diskontinuierlichen Folgezeitraum herumschlagen muss, reichert sie ihre Darstellung durch ausführliche Exkurse etwa zu Napoleon oder den Befreiungskriegen an. Das ist legitim, hat jedoch zur Folge, dass der Leser vom elften der insgesamt siebzehn Kapitel an einen allgemeinen Abriss von Goethes Biographie vor sich hat, der zwar immer wieder auf Gotha zurücklenkt, in dem die Nachbarresidenz aber nur noch eine Nebenrolle spielt.
Wie in ihren früheren Büchern zu Jakob Michael Reinhold Lenz, zu Goethes Schwester Cornelia oder zu seiner Frau Christiane erweist sich Damm als überaus versierte Erzählerin, die ihren Stoff souverän handhabt, durch kluge Vorgriffe oder gezielte Rückblenden auflockert und dem Leser gekonnt nahebringt. Dass die Darstellung diesmal etwas spröder als sonst gerät, liegt zum einen am Thema, zum anderen daran, dass sich die Verfasserin entschlossen hat, keinen erhalten gebliebenen Quellenbeleg ungenutzt zu lassen. Dieser fast enzyklopädisch zu nennende Anspruch zwingt zum Referieren, was der Darstellung zuweilen etwas Bemühtes gibt. Wiederholt werden lange Passagen aus Briefen, Gesprächen oder aus Goethes Tagebüchern zitiert. Sigrid Damms Buch ist im Grunde eine Nach-Erzählung; Es rekonstruiert Goethes wechselvolle Beziehungen zu Gotha und dem dortigen Hof in bewundernswerter Vollständigkeit, überlässt sich dabei freilich weitgehend dem vorgefundenen Material.
Daraus Thesen abzuleiten ist ihre Sache nicht. Ebenso wenig interessiert sie sich für die Ergebnisse der Konstellationenforschung, die in den letzten Jahren etwa zeigen konnte, was für ein produktives topographisches Spannungsfeld Weimar und Jena um 1800 gebildet haben. Nur zu gern hätte man gewusst, welche Rolle Gotha in dieser Städtekonkurrenz spielt.
Spannend wird die Studie immer dann, wenn sich die Verfasserin aus der Deckung des Faktischen wagt. So berichtet Damm etwa von der Begegnung des jungen Goethe mit dem berühmten Schauspieler Conrad Ekhof, der mit der Truppe Abel Seylers in Weimar gastiert. Nach dem Brand des dortigen Theaterhauses schlägt dieser vor, dass die Höfe in Weimar und Gotha ein gemeinsames Ensemble unterhalten sollten: "Man stelle sich vor, der in Theatersachen noch unerfahrene Goethe und der lebenskluge, reife Ekhof, der Vater der deutschen Schauspielkunst, hätten des Längeren miteinander arbeiten können." Leider kam es nicht dazu. Ein anderes Mal geht Damm auf Goethes Unentschiedenheit ein, ob er nach seinem anderthalb Jahre dauernden Aufenthalt in Italien wirklich nach Weimar zurückkehren soll, wo die Gefahr droht, dass er die Schriftstellerei wieder seiner amtlichen Tätigkeit unterordnen muss. Zumindest kurzzeitig überlegt er, dass doch Gotha ein neuer geeigneter Wirkungsort für ihn sein könnte.
Was wäre passiert, wenn er diese Option gewählt hätte? Wie wäre Goethes Leben dann verlaufen? Wenn Sigrid Damm solchen Möglichkeitsräumen der Geschichte nachspürt und ihr Buch den - mit Jean Paul zu sprechen - Charakter einer Konjekturalbiographie annimmt, wirkt die Darstellung regelrecht elektrisierend. Leider ruft sich die Verfasserin allzu rasch wieder zur Ordnung: "Aber nicht der Phantasie wollen wir Raum geben, sondern den Tatsachen." Nach der Lektüre ihres neuen Werks wird sich wohl bei manchem das Gefühl einstellen, es wäre ratsamer gewesen, die nüchternen Fakten ein wenig mehr in den Hintergrund zu rücken und stärker die Kraft der Phantasie wirken zu lassen.
WOLFGANG BUNZEL
Sigrid Damm: "Goethes Freunde in Gotha und Weimar". Insel Verlag, Berlin 2014. 239 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Spannend wird die Studie immer dann, wenn sich die Verfasserin aus der Deckung des Faktischen wagt.« Wolfgang Bunzel Frankfurter Allgemeine Zeitung 20140923