Goethe's Minchen: Auf Grund Ungedruckter Briefe (1889) is a book by the renowned German writer Johann Wolfgang Von Goethe. The book is a collection of unpublished letters written by Goethe to his beloved Minchen, offering readers a unique insight into the writer's personal life and relationships. The letters are written in German and have been translated into English by various translators over the years. The book provides an intimate glimpse into the emotional and intellectual life of one of the greatest writers of all time, and is a must-read for anyone interested in Goethe's life and work.This scarce antiquarian book is a facsimile reprint of the old original and may contain some imperfections such as library marks and notations. Because we believe this work is culturally important, we have made it available as part of our commitment for protecting, preserving, and promoting the world's literature in affordable, high quality, modern editions, that are true to their original work.
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Süddeutsche ZeitungDer Schuhu und der Deserteur
Wie Goethe den 28. August 1786 beging und was er der Geburtstagsgesellschaft verschwieg – die historisch-kritische Ausgabe seiner Briefe weiß es
Seinen 37. Geburtstag feierte Goethe in Karlsbad. Ein paar Freunde, das Ehepaar Herder, die Weimarer Hofdame von Waldner, die mit Frau von Stein verwandte Familie von Imhoff und neue Urlaubsbekanntschaften, ein preußisches Fräulein von Asseburg und Gräfin Aloisia Lanthiery aus Graz, legten sich ins Zeug und stellten eine kleine Feier auf die Beine. „Die Waldner soll dir alles erzählen wie es war und die Gedichte und Geschencke mitbringen“, schrieb Goethe zwei Tage später an Charlotte von Stein. Diese war bereits zwei Wochen zuvor von Karlsbad wieder nach Weimar abgereist. Goethe hatte sie ein Stück begleitet, und die Gelegenheit genutzt, ein paar Wegstunden allein mit ihr zu verbringen. Am 28. August legte sie ein Geschenk auf den Tisch von Goethes Gartenhaus; in sechs Wochen, dachte sie, würde er es finden.
Die Karlsbader Feier am selben Tag zeigte die Damen in Kostümen der „Vögel“, einer Aristophanes-Bearbeitung Goethes, um einen Altar mit Säulen und Kränzen und einem Schattenbild Goethes gruppiert, vor dem die Geschenke lagen. „Die Asseburg hat im Nahmen der Vögel, als Papagey, eine recht artige Gratulation gemacht“, berichtete Goethe, „die eine guten Ton hat und überhaupt wohl gerathen ist“. Gräfin Lanthiery trat als „Schuhu“ in Erscheinung.
Fünf Tage nach dieser fröhlichen Feier war Goethe auf dem Weg nach Italien, auf jener langen Reise seiner Lebensmitte, von der er erst am 18. Juni 1788 nach Weimar zurückkehren sollte. Doch keiner seiner Freunde ahnte auch nur, was er vorhatte. Nur der Weimarer Herzog Carl August, der sich in diesen Tagen ebenfalls in Karlsbad aufhielt, war summarisch ins Vertrauen gezogen und zu Stillschweigen verpflichtet worden. Den ersten Brief aus Rom erhielt Frau von Stein nicht vor dem 27. November 1786, und dieses heimliche Sichdavonstehlen ihres Geliebten gehörte zu den Vorwürfen, die später zum Bruch führten. Im Übrigen wusste man in Weimar nur, dass Goethe für eine Weile die Einsamkeit suche und daher in Wäldern und Bergen herumziehen wolle.
Bloß dem Freund Friedrich Jacobi hatte Goethe am 12. Juli eine Andeutung gemacht: „Du bist in England und wirst des Guten viel geniesen; wenn du wiederkommst werde ich nach einer andern Weltseite geruckt seyn.“ Aber da Jacobi eben so weit weg war, konnte für ihn der Schleier des Geheimnisses etwas höher angehoben werden. Sonst war außer dem Herzog nur Goethes Diener Philipp Seidel im Bilde. Ihm hatte Goethe vor der Abreise nach Karlsbad Ende Juli sein Weimarer Hauswesen übergeben. Er sollte alle eingehenden Briefe öffnen und die sich daraus ergebenden Schritte einleiten. Außerdem hatte Goethe im herzoglichen Archiv zwei Kisten mit Papieren hinterlegt, die im Falle seines Todes zu öffnen waren; sie dürften auch ein Testament enthalten haben, denn mit dem Tod musste damals jeder rechnen, der eine so weite Reise annahm.
Den Tag vor seiner Abfahrt von Karlsbad nach Italien nutzte Goethe noch einmal zum Briefeschreiben. In der neuen historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen, deren sechster Band mit zwei Teilbänden, je einen für Text und Kommentar, soeben erschienen ist, nehmen diese sechs Stücke fünfzehn Druckseiten ein, der Kommentar dazu hat den eher moderaten Umfang von zwanzig Seiten. Die Empfänger sind der Diener Seidel, das Ehepaar Herder, Herzog Carl August, Charlotte von Stein und Georg Joachim Göschen, Goethes neuer Verleger.
Dieser erhielt sogar das umfangreichste Schreiben, denn es enthielt den Vertrag über eine achtbändige Werkausgabe – die erste, die der Dichter selbst veranstaltete –, an der Goethe schon seit mehreren Wochen arbeitete und die er im kommenden Jahr 1787 abschließen wollte; natürlich hat er erheblich länger gebraucht. Auch dieser für die materielle Geschichte der deutschen Literatur so wichtige Verlagsvertrag liegt nun zum ersten Mal nach allen Regeln der Kunst diplomatisch ediert vor.
Dass das jetzt erst geschieht und dass diese Briefausgabe überhaupt nötig ist, mag erstaunen. Sie ist Teil des seit Jahrzehnten von vielen Seiten betriebenen Vorhabens, die bisher maßgebliche Edition der Werke und Briefe Goethes, die „Weimarer Ausgabe“, Abteilung für Abteilung zu ersetzen. Jene Ausgabe entstand von 1887 bis 1919 in einer für insgesamt über 140 Bände erstaunlichen Geschwindigkeit. Daher blieb sie so gut wie unkommentiert, selbst in den textkritischen Apparaten von skeletthafter Dürre, sodass die Entscheidungen der Editoren und die Anordnung der Lesarten oft nur mit Mühe nachzuvollziehen sind.
Die „Weimarer Ausgabe“ hat vier Abteilungen, neben den poetischen Werken die naturwissenschaftlichen Schriften in dreizehn Bänden, danach fünfzehn Bände Tagebücher und fünfzig Briefbände. Die naturwissenschaftlichen Schriften wurden seit den vierziger Jahren neu von der Halleschen Leopoldina herausgebracht, an den Tagebüchern arbeitet die Stiftung Weimarer Klassik mit einem hochkarätigen Team seit den neunziger Jahren; es ist die aufwendigst kommentierte Goethe-Edition überhaupt, ein Werk unendlichen Forschungsfleißes, das jede Silbe von Goethes täglichen Notizen mit historischen Realien anreichert.
Zur Erneuerung der ersten Abteilung, der dichterischen Werke, gibt es bisher nur abgebrochene Anläufe, vor allem einzelne Bände der (Ost)Berliner Akademie der Wissenschaften aus den fünfziger Jahren; doch da diese Werke in den großen Ausgaben des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder ediert und kommentiert wurden, erscheint hier der Bedarf geringer. Aber natürlich geht auch auf diesem Feld die Arbeit weiter, so ist eine historisch-kritische Ausgabe des „Faust“ in Arbeit, die selbst die vorzüglichen Texte der „Frankfurter Ausgabe“ (von Albrecht Schöne) und der „Münchner Ausgabe“ (von Dorothea Hölscher-Lohmeyer) überholen wird. Übrigens hat soeben auch der Reclam-Verlag eine kritisch fundierte, schmal kommentierte Leseausgabe des „Faust“ herausgebracht, die kommagetreu den Goetheschen Handschriften und Druckvorlagen folgt (herausgegeben von Ulrich Gaier).
Die umfangreichste vierte Abteilung der „Weimarer Ausgabe“ mit Goethes Briefen wird nun nach langer Vorbereitung seit 2008 ähnlich aufwendig reformiert wie die Tagebücher. Gerade im spontanen, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Genre des Briefes ist ein nicht normierter, sondern den Handschriftenstand präzise nachbildender Text besonders erwünscht; und auch hier gibt es einen ausgreifenden, das Goethesche Leben in alle Richtungen einbeziehenden Kommentierungsbedarf.
Die beiden ersten Doppelbände (erschienen 2008 und 2009), die die Briefe des jugendlichen Goethe vor der Weimarer Zeit bis 1775 brachten, haben sich folgerichtig ganz auf die historischen Realien konzentriert, nicht nur in der Textsicherung (selbst Verschreibungen und Korrekturen bleiben erkennbar), bei den Datierungen, dem möglichst vollständigen Nachweis verlorengegangener, aber erschlossener Stücke, sondern vor allem im Kommentar; hier wird jede heute noch greifbare Einzelheit von Goethes Frankfurter Jugend und seinen Studienzeiten in Leipzig und Straßburg plastisch. Das oft beschriebene sprachliche Drama vor allem von Goethes Leipziger Briefen, in denen er erst eigenständig zu schreiben lernte und schon den Stil des „Werther“ vorwegnahm, tritt dagegen in den Hintergrund.
Nun liegt das dritte zweibändige Stück der Edition vor, und es enthält, mit einem zeitlichen Sprung, die Zeit vom Januar 1785 bis zum 3. September 1786, dem Tag, an dem Goethes Italienreise begann. Der Textband mit 377 Briefen, 9 amtlichen Schriftstücken und 88 erschlossenen Briefen hat 300, der Kommentar dazu 685 Seiten. Rechnet man diese Dimensionen auf geplante 36, also samt Erläuterungen insgesamt 72 weitere Bände hoch, wird die Dimension dieses ebenfalls von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Goethe-Schiller-Archiv verantworteten Unternehmens abschätzbar: Nicht alle Leser dieses Berichts dürften den Abschluss noch erleben, selbst wenn das bisherige Tempo eingehalten wird. Vielleicht haben wir also in einem halben Jahrhundert die definitive Ausgabe dieses überreichen, eine riesenhafte Epoche umspannenden Briefwerks von mehr als 14 380 erhaltenen Stücken.
Wer einen ersten Überblick in diesem Mare magnum erhalten möchte, kommt um Auswahl-Ausgaben nicht herum, unter denen der umfängliche Band von Friedhelm Kemp („Goethes Leben und Welt in Briefen“) der empfehlenswerteste ist. Hier sind alle die berühmten, erschütternden Stücke enthalten, die fiebrigen Ergüsse des Leipziger Studenten, die Bekenntnisse an Auguste von Stolberg und Frau von Stein, die großen Antworten an Schiller, das Kondolenzschreiben an Zelter nach dem Selbstmord von dessen Sohn, in dem Goethe zum Du übergeht, das Schreiben an Reinhard zum Brand von Moskau, der Brief zum Tod des Großherzogs, und natürlich der letzte aller Briefe, der Weltabschied, den Goethe an Wilhelm von Humboldt richtete. Hier ist Goethes Leben, das nur Idioten für schatullenhaft und geheimrätlich halten können, ganz unmittelbar enthalten.
Und so unmittelbar lässt uns der nun neue Band auch den letzten Tag vor der großen Reise, die Goethes Dasein umwälzen sollte, jenen 2. September 1786, aus nächster Nähe erleben. Da ist der seit Juni über Mittelsmänner kompliziert ausgehandelte Vertrag mit Göschen, der nicht nur genaue Bestimmungen über Inhalt, Gestaltung, Lieferung, Preise der Werkausgabe enthielt, in wasserdichter juridischer Formulierung, die Goethe als geschulten Anwalt zeigen, sondern der vor allem das höchste bis dahin je gezahlte Honorar der deutschen Literaturgeschichte festlegte: 2000 Reichstaler für acht Bände. Das waren 400 Taler mehr als Goethes damaliges Weimarer Jahresgehalt und mehr als dreimal so viel wie das durchschnittliche Jahresgehalt eines Weimarer Beamten.
Dieses Honorar hatte Goethe mit unnachgiebiger Zähigkeit für seinen Reisezweck erstritten; denn er wusste im Frühsommer 1786 noch nicht, wie sein Herzog auf seinen unmäßigen Urlaubswunsch reagieren und ob er ihn weiter alimentieren würde. Für den seufzenden Göschen, den Goethe später recht ungnädig behandelte, wurde die Ausgabe am Ende kein Geschäft: Den 7067 Reichstalern an Ausgaben standen nur 5376 Taler Einnahmen gegenüber.
Der Adlatus Seidel erhielt an dem Karlsbader Vorabend noch letzte Vollmachten und Instruktionen, so das Pseudonym „Jean Philippe Möller a Rome“ für den Postverkehr sowie die strikte Anweisung, die für die Werkausgabe von unterwegs eintreffenden Manuskripte nur gegen Vorkasse an Göschen weiterzugeben; die Korrekturen sollte Herder lesen. Die Briefe an Carl August und die Herders aber sind voll von versteckten Feierlichkeiten: „Sie sind glücklich“, schrieb Goethe dem Herzog, „Sie gehen einer gewünschten und gewählten Bestimmung entgegen, Ihre häuslichen Angelegenheiten sind in guter Ordnung, auf gutem Weege, und ich weis Sie erlauben mir auch daß ich nun an mich dencke.“ Knapp erklärt der Kommentar, worum es geht: Nach dem am 17. August eingetretenen Tod Friedrichs des Großen gedachte Carl August in nähere politische, ja dienstliche Verbindung mit Preußen zu treten, außerdem war die Herzogin Louise soeben von einer Tochter entbunden worden.
Und an Herder schrieb Goethe fast wie an sich selbst: „Die zehen Weimarische Jahre sind dir nicht verlohren wenn Du bleibst, wohl wenn du änderst, denn du mußt am neuen Ort doch wieder von vorne anfangen.“ Herder hatte, wie wir im Kommentar erfahren, die Anfrage erhalten, ob er als Nachfolger von Lessings Erzfeind Goeze Hauptpastor an St. Katharinen in Hamburg werden wolle. Goethe riet dem Freund zum Bleiben und damit auch sich selbst zum Wiederkommen; doch das konnte Herder zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Charlotte von Stein bekam ebenfalls einen letzten Gruß. Pakete von Goethe solle sie nicht in Gegenwart anderer aufmachen, sondern sich in ihr Kämmerlein verschließen. „Endlich, endlich bin ich fertig und doch nicht fertig, denn eigentlich hätte ich noch acht Tage hier zu thun, aber ich will fort und sage auch dir noch einmal Adieu! Lebe wohl du süses Herz! ich bin dein. G.“
Die übrige Karlsbader Gesellschaft erfuhr erst nach und nach von Goethes heimlicher Abreise am frühen Morgen des 3. September. „Der Geheime Rat von Goethe ist ein Deserteur, dem ich gern nach nach aller Strenge des Kriegsrechts behandeln möchte“, schrieb das preußische Fräulein von Asseburg, der „Papagey“ vom 28. August, eine Woche später an Herzog Carl August. „Er hat sich salviert, ohne von uns Abschied zu nehmen, ohne im geringsten seinen Entschluss vermuten zu lassen. Das war wirklich recht hässlich!“
GUSTAV SEIBT
JOHANN WOLFGANG GOETHE: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 6 I und II. Anfang 1785 bis 3. September 1786. Texte und Kommentar. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik herausgegeben von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch. Akademie Verlag, Berlin 2010. Zwei Bände, zus. 985 Seiten, 188 Euro.
„Die Asseburg hat im Nahmen
der Vögel, als Papagey, eine recht
artige Gratulation gemacht“
Der Vertrag mit Göschen legte
das bis dahin höchste Honorar der
deutschen Literaturgeschichte fest
Das Briefwerk Goethes, eine
riesenhafte Epoche umspannend,
besteht aus mehr als 14 380 Stücken
„ . . . ich will fort und sage auch
dir noch einmal Adieu!
Lebe wohl du süses Herz!“
Das Ziel der kurz nach dem 37. Geburtstag, am 3. September 1786, von Karlsbad aus angetretenen Reise Goethes: Italien. Seine aquarellierte Federzeichnung „Italienische Küstenlandschaft“ entstand im Sommer 1787. Foto: bpk
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Wie Goethe den 28. August 1786 beging und was er der Geburtstagsgesellschaft verschwieg – die historisch-kritische Ausgabe seiner Briefe weiß es
Seinen 37. Geburtstag feierte Goethe in Karlsbad. Ein paar Freunde, das Ehepaar Herder, die Weimarer Hofdame von Waldner, die mit Frau von Stein verwandte Familie von Imhoff und neue Urlaubsbekanntschaften, ein preußisches Fräulein von Asseburg und Gräfin Aloisia Lanthiery aus Graz, legten sich ins Zeug und stellten eine kleine Feier auf die Beine. „Die Waldner soll dir alles erzählen wie es war und die Gedichte und Geschencke mitbringen“, schrieb Goethe zwei Tage später an Charlotte von Stein. Diese war bereits zwei Wochen zuvor von Karlsbad wieder nach Weimar abgereist. Goethe hatte sie ein Stück begleitet, und die Gelegenheit genutzt, ein paar Wegstunden allein mit ihr zu verbringen. Am 28. August legte sie ein Geschenk auf den Tisch von Goethes Gartenhaus; in sechs Wochen, dachte sie, würde er es finden.
Die Karlsbader Feier am selben Tag zeigte die Damen in Kostümen der „Vögel“, einer Aristophanes-Bearbeitung Goethes, um einen Altar mit Säulen und Kränzen und einem Schattenbild Goethes gruppiert, vor dem die Geschenke lagen. „Die Asseburg hat im Nahmen der Vögel, als Papagey, eine recht artige Gratulation gemacht“, berichtete Goethe, „die eine guten Ton hat und überhaupt wohl gerathen ist“. Gräfin Lanthiery trat als „Schuhu“ in Erscheinung.
Fünf Tage nach dieser fröhlichen Feier war Goethe auf dem Weg nach Italien, auf jener langen Reise seiner Lebensmitte, von der er erst am 18. Juni 1788 nach Weimar zurückkehren sollte. Doch keiner seiner Freunde ahnte auch nur, was er vorhatte. Nur der Weimarer Herzog Carl August, der sich in diesen Tagen ebenfalls in Karlsbad aufhielt, war summarisch ins Vertrauen gezogen und zu Stillschweigen verpflichtet worden. Den ersten Brief aus Rom erhielt Frau von Stein nicht vor dem 27. November 1786, und dieses heimliche Sichdavonstehlen ihres Geliebten gehörte zu den Vorwürfen, die später zum Bruch führten. Im Übrigen wusste man in Weimar nur, dass Goethe für eine Weile die Einsamkeit suche und daher in Wäldern und Bergen herumziehen wolle.
Bloß dem Freund Friedrich Jacobi hatte Goethe am 12. Juli eine Andeutung gemacht: „Du bist in England und wirst des Guten viel geniesen; wenn du wiederkommst werde ich nach einer andern Weltseite geruckt seyn.“ Aber da Jacobi eben so weit weg war, konnte für ihn der Schleier des Geheimnisses etwas höher angehoben werden. Sonst war außer dem Herzog nur Goethes Diener Philipp Seidel im Bilde. Ihm hatte Goethe vor der Abreise nach Karlsbad Ende Juli sein Weimarer Hauswesen übergeben. Er sollte alle eingehenden Briefe öffnen und die sich daraus ergebenden Schritte einleiten. Außerdem hatte Goethe im herzoglichen Archiv zwei Kisten mit Papieren hinterlegt, die im Falle seines Todes zu öffnen waren; sie dürften auch ein Testament enthalten haben, denn mit dem Tod musste damals jeder rechnen, der eine so weite Reise annahm.
Den Tag vor seiner Abfahrt von Karlsbad nach Italien nutzte Goethe noch einmal zum Briefeschreiben. In der neuen historisch-kritischen Ausgabe von Goethes Briefen, deren sechster Band mit zwei Teilbänden, je einen für Text und Kommentar, soeben erschienen ist, nehmen diese sechs Stücke fünfzehn Druckseiten ein, der Kommentar dazu hat den eher moderaten Umfang von zwanzig Seiten. Die Empfänger sind der Diener Seidel, das Ehepaar Herder, Herzog Carl August, Charlotte von Stein und Georg Joachim Göschen, Goethes neuer Verleger.
Dieser erhielt sogar das umfangreichste Schreiben, denn es enthielt den Vertrag über eine achtbändige Werkausgabe – die erste, die der Dichter selbst veranstaltete –, an der Goethe schon seit mehreren Wochen arbeitete und die er im kommenden Jahr 1787 abschließen wollte; natürlich hat er erheblich länger gebraucht. Auch dieser für die materielle Geschichte der deutschen Literatur so wichtige Verlagsvertrag liegt nun zum ersten Mal nach allen Regeln der Kunst diplomatisch ediert vor.
Dass das jetzt erst geschieht und dass diese Briefausgabe überhaupt nötig ist, mag erstaunen. Sie ist Teil des seit Jahrzehnten von vielen Seiten betriebenen Vorhabens, die bisher maßgebliche Edition der Werke und Briefe Goethes, die „Weimarer Ausgabe“, Abteilung für Abteilung zu ersetzen. Jene Ausgabe entstand von 1887 bis 1919 in einer für insgesamt über 140 Bände erstaunlichen Geschwindigkeit. Daher blieb sie so gut wie unkommentiert, selbst in den textkritischen Apparaten von skeletthafter Dürre, sodass die Entscheidungen der Editoren und die Anordnung der Lesarten oft nur mit Mühe nachzuvollziehen sind.
Die „Weimarer Ausgabe“ hat vier Abteilungen, neben den poetischen Werken die naturwissenschaftlichen Schriften in dreizehn Bänden, danach fünfzehn Bände Tagebücher und fünfzig Briefbände. Die naturwissenschaftlichen Schriften wurden seit den vierziger Jahren neu von der Halleschen Leopoldina herausgebracht, an den Tagebüchern arbeitet die Stiftung Weimarer Klassik mit einem hochkarätigen Team seit den neunziger Jahren; es ist die aufwendigst kommentierte Goethe-Edition überhaupt, ein Werk unendlichen Forschungsfleißes, das jede Silbe von Goethes täglichen Notizen mit historischen Realien anreichert.
Zur Erneuerung der ersten Abteilung, der dichterischen Werke, gibt es bisher nur abgebrochene Anläufe, vor allem einzelne Bände der (Ost)Berliner Akademie der Wissenschaften aus den fünfziger Jahren; doch da diese Werke in den großen Ausgaben des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder ediert und kommentiert wurden, erscheint hier der Bedarf geringer. Aber natürlich geht auch auf diesem Feld die Arbeit weiter, so ist eine historisch-kritische Ausgabe des „Faust“ in Arbeit, die selbst die vorzüglichen Texte der „Frankfurter Ausgabe“ (von Albrecht Schöne) und der „Münchner Ausgabe“ (von Dorothea Hölscher-Lohmeyer) überholen wird. Übrigens hat soeben auch der Reclam-Verlag eine kritisch fundierte, schmal kommentierte Leseausgabe des „Faust“ herausgebracht, die kommagetreu den Goetheschen Handschriften und Druckvorlagen folgt (herausgegeben von Ulrich Gaier).
Die umfangreichste vierte Abteilung der „Weimarer Ausgabe“ mit Goethes Briefen wird nun nach langer Vorbereitung seit 2008 ähnlich aufwendig reformiert wie die Tagebücher. Gerade im spontanen, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Genre des Briefes ist ein nicht normierter, sondern den Handschriftenstand präzise nachbildender Text besonders erwünscht; und auch hier gibt es einen ausgreifenden, das Goethesche Leben in alle Richtungen einbeziehenden Kommentierungsbedarf.
Die beiden ersten Doppelbände (erschienen 2008 und 2009), die die Briefe des jugendlichen Goethe vor der Weimarer Zeit bis 1775 brachten, haben sich folgerichtig ganz auf die historischen Realien konzentriert, nicht nur in der Textsicherung (selbst Verschreibungen und Korrekturen bleiben erkennbar), bei den Datierungen, dem möglichst vollständigen Nachweis verlorengegangener, aber erschlossener Stücke, sondern vor allem im Kommentar; hier wird jede heute noch greifbare Einzelheit von Goethes Frankfurter Jugend und seinen Studienzeiten in Leipzig und Straßburg plastisch. Das oft beschriebene sprachliche Drama vor allem von Goethes Leipziger Briefen, in denen er erst eigenständig zu schreiben lernte und schon den Stil des „Werther“ vorwegnahm, tritt dagegen in den Hintergrund.
Nun liegt das dritte zweibändige Stück der Edition vor, und es enthält, mit einem zeitlichen Sprung, die Zeit vom Januar 1785 bis zum 3. September 1786, dem Tag, an dem Goethes Italienreise begann. Der Textband mit 377 Briefen, 9 amtlichen Schriftstücken und 88 erschlossenen Briefen hat 300, der Kommentar dazu 685 Seiten. Rechnet man diese Dimensionen auf geplante 36, also samt Erläuterungen insgesamt 72 weitere Bände hoch, wird die Dimension dieses ebenfalls von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Goethe-Schiller-Archiv verantworteten Unternehmens abschätzbar: Nicht alle Leser dieses Berichts dürften den Abschluss noch erleben, selbst wenn das bisherige Tempo eingehalten wird. Vielleicht haben wir also in einem halben Jahrhundert die definitive Ausgabe dieses überreichen, eine riesenhafte Epoche umspannenden Briefwerks von mehr als 14 380 erhaltenen Stücken.
Wer einen ersten Überblick in diesem Mare magnum erhalten möchte, kommt um Auswahl-Ausgaben nicht herum, unter denen der umfängliche Band von Friedhelm Kemp („Goethes Leben und Welt in Briefen“) der empfehlenswerteste ist. Hier sind alle die berühmten, erschütternden Stücke enthalten, die fiebrigen Ergüsse des Leipziger Studenten, die Bekenntnisse an Auguste von Stolberg und Frau von Stein, die großen Antworten an Schiller, das Kondolenzschreiben an Zelter nach dem Selbstmord von dessen Sohn, in dem Goethe zum Du übergeht, das Schreiben an Reinhard zum Brand von Moskau, der Brief zum Tod des Großherzogs, und natürlich der letzte aller Briefe, der Weltabschied, den Goethe an Wilhelm von Humboldt richtete. Hier ist Goethes Leben, das nur Idioten für schatullenhaft und geheimrätlich halten können, ganz unmittelbar enthalten.
Und so unmittelbar lässt uns der nun neue Band auch den letzten Tag vor der großen Reise, die Goethes Dasein umwälzen sollte, jenen 2. September 1786, aus nächster Nähe erleben. Da ist der seit Juni über Mittelsmänner kompliziert ausgehandelte Vertrag mit Göschen, der nicht nur genaue Bestimmungen über Inhalt, Gestaltung, Lieferung, Preise der Werkausgabe enthielt, in wasserdichter juridischer Formulierung, die Goethe als geschulten Anwalt zeigen, sondern der vor allem das höchste bis dahin je gezahlte Honorar der deutschen Literaturgeschichte festlegte: 2000 Reichstaler für acht Bände. Das waren 400 Taler mehr als Goethes damaliges Weimarer Jahresgehalt und mehr als dreimal so viel wie das durchschnittliche Jahresgehalt eines Weimarer Beamten.
Dieses Honorar hatte Goethe mit unnachgiebiger Zähigkeit für seinen Reisezweck erstritten; denn er wusste im Frühsommer 1786 noch nicht, wie sein Herzog auf seinen unmäßigen Urlaubswunsch reagieren und ob er ihn weiter alimentieren würde. Für den seufzenden Göschen, den Goethe später recht ungnädig behandelte, wurde die Ausgabe am Ende kein Geschäft: Den 7067 Reichstalern an Ausgaben standen nur 5376 Taler Einnahmen gegenüber.
Der Adlatus Seidel erhielt an dem Karlsbader Vorabend noch letzte Vollmachten und Instruktionen, so das Pseudonym „Jean Philippe Möller a Rome“ für den Postverkehr sowie die strikte Anweisung, die für die Werkausgabe von unterwegs eintreffenden Manuskripte nur gegen Vorkasse an Göschen weiterzugeben; die Korrekturen sollte Herder lesen. Die Briefe an Carl August und die Herders aber sind voll von versteckten Feierlichkeiten: „Sie sind glücklich“, schrieb Goethe dem Herzog, „Sie gehen einer gewünschten und gewählten Bestimmung entgegen, Ihre häuslichen Angelegenheiten sind in guter Ordnung, auf gutem Weege, und ich weis Sie erlauben mir auch daß ich nun an mich dencke.“ Knapp erklärt der Kommentar, worum es geht: Nach dem am 17. August eingetretenen Tod Friedrichs des Großen gedachte Carl August in nähere politische, ja dienstliche Verbindung mit Preußen zu treten, außerdem war die Herzogin Louise soeben von einer Tochter entbunden worden.
Und an Herder schrieb Goethe fast wie an sich selbst: „Die zehen Weimarische Jahre sind dir nicht verlohren wenn Du bleibst, wohl wenn du änderst, denn du mußt am neuen Ort doch wieder von vorne anfangen.“ Herder hatte, wie wir im Kommentar erfahren, die Anfrage erhalten, ob er als Nachfolger von Lessings Erzfeind Goeze Hauptpastor an St. Katharinen in Hamburg werden wolle. Goethe riet dem Freund zum Bleiben und damit auch sich selbst zum Wiederkommen; doch das konnte Herder zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Charlotte von Stein bekam ebenfalls einen letzten Gruß. Pakete von Goethe solle sie nicht in Gegenwart anderer aufmachen, sondern sich in ihr Kämmerlein verschließen. „Endlich, endlich bin ich fertig und doch nicht fertig, denn eigentlich hätte ich noch acht Tage hier zu thun, aber ich will fort und sage auch dir noch einmal Adieu! Lebe wohl du süses Herz! ich bin dein. G.“
Die übrige Karlsbader Gesellschaft erfuhr erst nach und nach von Goethes heimlicher Abreise am frühen Morgen des 3. September. „Der Geheime Rat von Goethe ist ein Deserteur, dem ich gern nach nach aller Strenge des Kriegsrechts behandeln möchte“, schrieb das preußische Fräulein von Asseburg, der „Papagey“ vom 28. August, eine Woche später an Herzog Carl August. „Er hat sich salviert, ohne von uns Abschied zu nehmen, ohne im geringsten seinen Entschluss vermuten zu lassen. Das war wirklich recht hässlich!“
GUSTAV SEIBT
JOHANN WOLFGANG GOETHE: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Band 6 I und II. Anfang 1785 bis 3. September 1786. Texte und Kommentar. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik herausgegeben von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch. Akademie Verlag, Berlin 2010. Zwei Bände, zus. 985 Seiten, 188 Euro.
„Die Asseburg hat im Nahmen
der Vögel, als Papagey, eine recht
artige Gratulation gemacht“
Der Vertrag mit Göschen legte
das bis dahin höchste Honorar der
deutschen Literaturgeschichte fest
Das Briefwerk Goethes, eine
riesenhafte Epoche umspannend,
besteht aus mehr als 14 380 Stücken
„ . . . ich will fort und sage auch
dir noch einmal Adieu!
Lebe wohl du süses Herz!“
Das Ziel der kurz nach dem 37. Geburtstag, am 3. September 1786, von Karlsbad aus angetretenen Reise Goethes: Italien. Seine aquarellierte Federzeichnung „Italienische Küstenlandschaft“ entstand im Sommer 1787. Foto: bpk
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