Jeder Mensch schafft sich Vorbilder, Heilige, Götter - und Widersacher. Wehe nur, wenn sie sich selbständig machen und das Regiment übernehmen.
R. R., eine junge Frau Mitte der sechziger Jahre in Westberlin, wird eines Tages von Stimmen heimgesucht, die sie aus der Bahn werfen. Wie in einer Art Geisteskrankheit hört sie »ihre Götter« Tag und Nacht sprechen, hört sie streiten, räsonieren, lachen, sie auslachen; sie kann sich nicht vor ihnen retten.
Damit gerät sie in eine kaum erträgliche Isolation.
Erst allmählich merkt sie, dass es in den Gesprächen und Monologen um ihre eigenen Befindlichkeiten zu gehen scheint: wenn zum Beispiel John Lennon und Emily Bronte über Einsamkeit sprechen und wie man sie aushält. Wenn Virginia Woolf und Robert Walser sich gegenseitig ihre »Verrücktheiten« vorrechnen. Wenn Dylan Thomas die Unfruchtbarkeit der heutigen Dichter verflucht (so dass die Geschichten sich von selbst werden fortpflanzen müssen). Und wenn Marilyn Monroe und Che Guevara um »wirkliches Leben« streiten.
Dabei fallen dieses Gespräche im Himmel der Literatur wesentlich schärfer, böser, doch auch leidenschaftlicher aus als die altbekannten des Lukian, und R. R. begreift, dass es nicht darauf ankommt, »sich von den Göttern retten oder unterhalten zu lassen, sondern sie weiterzudenken«.
R. R., eine junge Frau Mitte der sechziger Jahre in Westberlin, wird eines Tages von Stimmen heimgesucht, die sie aus der Bahn werfen. Wie in einer Art Geisteskrankheit hört sie »ihre Götter« Tag und Nacht sprechen, hört sie streiten, räsonieren, lachen, sie auslachen; sie kann sich nicht vor ihnen retten.
Damit gerät sie in eine kaum erträgliche Isolation.
Erst allmählich merkt sie, dass es in den Gesprächen und Monologen um ihre eigenen Befindlichkeiten zu gehen scheint: wenn zum Beispiel John Lennon und Emily Bronte über Einsamkeit sprechen und wie man sie aushält. Wenn Virginia Woolf und Robert Walser sich gegenseitig ihre »Verrücktheiten« vorrechnen. Wenn Dylan Thomas die Unfruchtbarkeit der heutigen Dichter verflucht (so dass die Geschichten sich von selbst werden fortpflanzen müssen). Und wenn Marilyn Monroe und Che Guevara um »wirkliches Leben« streiten.
Dabei fallen dieses Gespräche im Himmel der Literatur wesentlich schärfer, böser, doch auch leidenschaftlicher aus als die altbekannten des Lukian, und R. R. begreift, dass es nicht darauf ankommt, »sich von den Göttern retten oder unterhalten zu lassen, sondern sie weiterzudenken«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2000Brauchen wir sie, oder brauchen sie uns?
Gerlind Reinshagen spricht in ihrem neuen Roman mit den Göttern
„Wer braucht hier eigentlich wen?” fragt die Erzählerin in Gerlind Reinshagens neuem Roman Göttergeschichte, besinnt sich und präzisiert ihre Frage: „Sollten es etwa – wie alle Welt doch nun schon seit Jahrhunderten vermutet – nicht nur die Menschen sein, die sich in Furcht und Verzweiflung Götter machen, sondern im Gegenteil diese letzteren selbst, die in ihrer Armut Menschen brauchen, niedere und ihnen untergebene Geschöpfe, ihr Angesicht darüber leuchten zu lassen?”
Unterm Namenskürzel R. R. schlüpft die Autorin in die Rolle einer jungen Frau und erzählt deren Geschichte einer lebensbedrohenden Verwirrtheit. Wieder begehrt Gerlind Reinshagen gegen festgelegte gesellschaftliche Strukturen auf, diesmal verhaltener als sonst. Doch als dürfe sie ihre Widersetzlichkeit nicht im schönen Schein eines Romans verklären, verdoppelt sie sich selbst in den Namensinitialen der Erzählerin. R. R. wehrt sich verzweifelt gegen ein lästiges Fremdbestimmtsein von Kräften, die ihre Person ständig in Anspruch nehmen und bedrängen.
Diese poetische Fallstudie einer Vereinsamten, die sich Mitte der sechziger Jahre hilflos in einem intellektuellen Westberliner Milieu bewegt, gipfelt in therapeutischen Zwiegesprächen. Die angebeteten Idole dieser Zeit, die helfenden, rettenden Götter kommen ins Spiel, doch lassen sie sich nicht kommandieren noch reagieren sie auf Anbiederungen und fromme Gebete. „Die Gegenstände der Anbetung können sich ändern wie die französischen Moden”, schrieb der Preußenkönig Friedrich an Voltaire, „doch was liegt mir daran, ob man sich vor einem ungesäuerten Brotteig oder vor einer Statue niederwirft: Der Aberglaube ist derselbe. ”
In Gerlind Reinshagens Roman geht es, wie es die Kapitelüberschriften suggerieren, um den Verlauf einer Krankheit: Vom Ausbruch, schwerem Fieber, falscher Hoffnung kommt es zu Rückfall, Krisis, Rekonvaleszenz. Im Krankheitsverlauf einer Person ist der Entkräftungs- und Abnutzungsprozess der aufbegehrenden Achtundsechziger präzis widergespiegelt: der Kampf gegen das Establishment und seine Machtausübung – „gegen Gläubiger, Lehrer, Vorgesetzte; gegen die sich einschleichende Rezession, gegen die Wiederbewaffnung, die Atomkraft, Studenten kämpften gegen den Krieg in Vietnam, gegen den Staub, den Zement in den Institutionen”. Der Kampf war zu Ende, er hatte Verluste gebracht. Schon früh gab es die Abtrünnigen, die Verlorengegangenen, die schmerzlich Vermissten. Auch der Kreis der Erzählerin war gesprengt, wie sollte er sich wieder zusammen und zurecht finden?
Die Namen der Freunde und Bekannten kamen zwar bald in ihr Gedächtnis zurück. Sie rief sie auf, sich wieder in ihrem Kopf zu versammeln. Hatte sie sich kurz zuvor noch gefragt: „Sind etwa auch meine Götter Vermisste?”, so rief sie, wieder genesen von den epidemischen Fieberphantasien der Zeit, auch ihre Götter zu Gesprächen, setzte sie paarweise zueinander und schrieb auf, worüber sie debattierten: „Im Eifer des Schreibens geschah es nicht selten, dass ihr auch gänzlich Neues unterkam, dass unzugehörige Sätze auftauchten, solche, die keiner der Besucher jemals ausgesprochen hatte; sie nahm sich aber nicht die Zeit, zu untersuchen, woher sie stammten, zu sehr war sie damit beschäftigt, die Fäden zu entwirren und sie noch einmal anders zu verknüpfen, zu tief in das verschlungene Gewebe verstrickt. ” Denn manche Götter hatten sich als Götzen der Besserwisserei, der Vieldeutigkeit, der scheinheiligen Tugend und des falschen Freiheitswahn entpuppt.
Parallelen zu Lukian
Gerlind Reinshagen gelingt es, eine Poetik des Redens über das Reden zu entwerfen. In ihrer eleganten, äußerst sinnlichen Erzählsprache greift sie vom Romanhaften hinüber ins Lyrische; der Geschichte ihrer leidenden Heldin folgen die Gespräche der selbst ernannten Götter: So sprechen Virginia Woolf und Robert Walser über die Krankheit zum Leben, Einstein und Picasso über das vollkommene Werk, Georg Büchner und Rudolf Nurejew über Eigennutz und Gemeinnutz. Dylan Thomas hält ein Selbstgespräch über die Unsterblichkeit, Sigmund Freud über das Vermessen und Marilyn Monroe über den Stolz. Es sprechen Ernesto Che Guevara und John Lennon, Maxim Gorki und Isaak Babel, aber auch Emily Brontë und Giorgio Morandi.
Wer beim Lesen genau hinschaut und sich Zeit lässt, das kunstvolle Gewebe aus Sprache und Gedankenverbindungen zu durchdringen, wird die manchmal verborgenen, manchmal aber auch auffälligen Parallelen zu Lukians Göttergesprächen entdecken. Die Dialoge des griechischen Ironikers über die Besserwisserei der Rhetoriker und die Leichtgläubigkeit des Publikums kehren, zeitgenössisch verwandelt, in den Zwiegesprächen dieses Romans wieder. Am schönsten dort, wo die konventionelle Plausibilität auf den Kopf gestellt wird wie bei Lukian im Gespräch zwischen Zeus und Herakles über den höheren Rang. Es sei nicht mehr als billig, dass Asklepios über Herakles sitze, schlichtet Zeus den Streit, „wär es auch aus keinem anderen Grunde, als weil er zuerst gestorben ist”.
Pikanterweise spricht R. R. am Ende des Romans von Gerlind Reinshagen mit den Göttern über das Atemanhalten.
LUDWIG HARIG
GERLIND REINSHAGEN: Göttergeschichte. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 224 Seiten, 36 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Gerlind Reinshagen spricht in ihrem neuen Roman mit den Göttern
„Wer braucht hier eigentlich wen?” fragt die Erzählerin in Gerlind Reinshagens neuem Roman Göttergeschichte, besinnt sich und präzisiert ihre Frage: „Sollten es etwa – wie alle Welt doch nun schon seit Jahrhunderten vermutet – nicht nur die Menschen sein, die sich in Furcht und Verzweiflung Götter machen, sondern im Gegenteil diese letzteren selbst, die in ihrer Armut Menschen brauchen, niedere und ihnen untergebene Geschöpfe, ihr Angesicht darüber leuchten zu lassen?”
Unterm Namenskürzel R. R. schlüpft die Autorin in die Rolle einer jungen Frau und erzählt deren Geschichte einer lebensbedrohenden Verwirrtheit. Wieder begehrt Gerlind Reinshagen gegen festgelegte gesellschaftliche Strukturen auf, diesmal verhaltener als sonst. Doch als dürfe sie ihre Widersetzlichkeit nicht im schönen Schein eines Romans verklären, verdoppelt sie sich selbst in den Namensinitialen der Erzählerin. R. R. wehrt sich verzweifelt gegen ein lästiges Fremdbestimmtsein von Kräften, die ihre Person ständig in Anspruch nehmen und bedrängen.
Diese poetische Fallstudie einer Vereinsamten, die sich Mitte der sechziger Jahre hilflos in einem intellektuellen Westberliner Milieu bewegt, gipfelt in therapeutischen Zwiegesprächen. Die angebeteten Idole dieser Zeit, die helfenden, rettenden Götter kommen ins Spiel, doch lassen sie sich nicht kommandieren noch reagieren sie auf Anbiederungen und fromme Gebete. „Die Gegenstände der Anbetung können sich ändern wie die französischen Moden”, schrieb der Preußenkönig Friedrich an Voltaire, „doch was liegt mir daran, ob man sich vor einem ungesäuerten Brotteig oder vor einer Statue niederwirft: Der Aberglaube ist derselbe. ”
In Gerlind Reinshagens Roman geht es, wie es die Kapitelüberschriften suggerieren, um den Verlauf einer Krankheit: Vom Ausbruch, schwerem Fieber, falscher Hoffnung kommt es zu Rückfall, Krisis, Rekonvaleszenz. Im Krankheitsverlauf einer Person ist der Entkräftungs- und Abnutzungsprozess der aufbegehrenden Achtundsechziger präzis widergespiegelt: der Kampf gegen das Establishment und seine Machtausübung – „gegen Gläubiger, Lehrer, Vorgesetzte; gegen die sich einschleichende Rezession, gegen die Wiederbewaffnung, die Atomkraft, Studenten kämpften gegen den Krieg in Vietnam, gegen den Staub, den Zement in den Institutionen”. Der Kampf war zu Ende, er hatte Verluste gebracht. Schon früh gab es die Abtrünnigen, die Verlorengegangenen, die schmerzlich Vermissten. Auch der Kreis der Erzählerin war gesprengt, wie sollte er sich wieder zusammen und zurecht finden?
Die Namen der Freunde und Bekannten kamen zwar bald in ihr Gedächtnis zurück. Sie rief sie auf, sich wieder in ihrem Kopf zu versammeln. Hatte sie sich kurz zuvor noch gefragt: „Sind etwa auch meine Götter Vermisste?”, so rief sie, wieder genesen von den epidemischen Fieberphantasien der Zeit, auch ihre Götter zu Gesprächen, setzte sie paarweise zueinander und schrieb auf, worüber sie debattierten: „Im Eifer des Schreibens geschah es nicht selten, dass ihr auch gänzlich Neues unterkam, dass unzugehörige Sätze auftauchten, solche, die keiner der Besucher jemals ausgesprochen hatte; sie nahm sich aber nicht die Zeit, zu untersuchen, woher sie stammten, zu sehr war sie damit beschäftigt, die Fäden zu entwirren und sie noch einmal anders zu verknüpfen, zu tief in das verschlungene Gewebe verstrickt. ” Denn manche Götter hatten sich als Götzen der Besserwisserei, der Vieldeutigkeit, der scheinheiligen Tugend und des falschen Freiheitswahn entpuppt.
Parallelen zu Lukian
Gerlind Reinshagen gelingt es, eine Poetik des Redens über das Reden zu entwerfen. In ihrer eleganten, äußerst sinnlichen Erzählsprache greift sie vom Romanhaften hinüber ins Lyrische; der Geschichte ihrer leidenden Heldin folgen die Gespräche der selbst ernannten Götter: So sprechen Virginia Woolf und Robert Walser über die Krankheit zum Leben, Einstein und Picasso über das vollkommene Werk, Georg Büchner und Rudolf Nurejew über Eigennutz und Gemeinnutz. Dylan Thomas hält ein Selbstgespräch über die Unsterblichkeit, Sigmund Freud über das Vermessen und Marilyn Monroe über den Stolz. Es sprechen Ernesto Che Guevara und John Lennon, Maxim Gorki und Isaak Babel, aber auch Emily Brontë und Giorgio Morandi.
Wer beim Lesen genau hinschaut und sich Zeit lässt, das kunstvolle Gewebe aus Sprache und Gedankenverbindungen zu durchdringen, wird die manchmal verborgenen, manchmal aber auch auffälligen Parallelen zu Lukians Göttergesprächen entdecken. Die Dialoge des griechischen Ironikers über die Besserwisserei der Rhetoriker und die Leichtgläubigkeit des Publikums kehren, zeitgenössisch verwandelt, in den Zwiegesprächen dieses Romans wieder. Am schönsten dort, wo die konventionelle Plausibilität auf den Kopf gestellt wird wie bei Lukian im Gespräch zwischen Zeus und Herakles über den höheren Rang. Es sei nicht mehr als billig, dass Asklepios über Herakles sitze, schlichtet Zeus den Streit, „wär es auch aus keinem anderen Grunde, als weil er zuerst gestorben ist”.
Pikanterweise spricht R. R. am Ende des Romans von Gerlind Reinshagen mit den Göttern über das Atemanhalten.
LUDWIG HARIG
GERLIND REINSHAGEN: Göttergeschichte. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 224 Seiten, 36 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Im letzten Absatz seiner Rezension verrät Ludwig Harig, wie es zu dem Titel des Reinshagen-Buchs gekommen ist: eine Anspielung auf Lukians "Göttergespräche", die von der Autorin in verwandelter Form weitergeführt würden. Auch Reinshagen hält Zwiesprache mit den Göttern, sagt Harich, nämlich den selbsternannten Göttern und Idolen der 68er Generation, die sich teilweise als falsche Götter erwiesen haben. Die dialogische Götterspeisung ist Teil des Genesungsprozesses einer jungen Frau, die wieder zu sich und aus dem Westberliner Intellektuellenmilieu der 70er Jahre heraus finden muss. Der Rezensent schwärmt von der eleganten und sinnlichen Sprache der Autorin, der es in diesem Roman gelungen sei, "eine Poetik des Redens über das Reden" zu kreieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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