Martin Burckhardts Essay Going Viral! schließt an den zusammen mit Dirk Höfer verfassten programmatischen Versuch an, die Urformel aller Digitalität, das Boole'sche x = xn, als Triebwerk der neuen Ordnung der Dinge zu deuten. War Alles und Nichts eine Meditation über die symbolische Viralität, geht Burckhardt nun einen Schritt weiter und postuliert ein durch die Pandemie ausgelöstes Ende des postmodernen Phantasmas, mitten in den Abgrund der Geschichte hinein. Wenn Wittgenstein einmal gesagt hat »Die Welt ist, was der Fall ist«, lässt sich der Sturz als Zusammenstoß mit dem Realitätsprinzip deuten. Oder genauer: als Einsicht, dass die überkommenen Sprach- und Gesellschaftsspiele nicht mehr zu tragen vermögen. Als blinder Passagier der globalen Warenketten und Reisebewegungen erweist sich die Pandemie als böser Zwilling der Netzwerkgesellschaft, die mit ihrem Ruf des Going Viral! die industriellen Gesellschaften grundstürzend verändert hat, der nun aus seinem Untergrund auftaucht.Als Behemoth? Oder nicht doch: als fremdes Porträt unserer selbst?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Thiel sieht den Technikphilosophen Martin Burckhardt in der Falle des postmodernen Denkens zappeln. Beim Versuch, die Pandemie in den Kontext des digitalen Wandels einzubetten, das Virus als Realitätseinbruch in der postmodern verspielten Welt zu deuten, übersieht der Autor laut Thiel die frühe Verbindung von postmodernem Denken und Computerisierung. Außerdem läuft das Internet auch im Lockdown munter weiter, merkt der Rezensent an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2021Digitale Ödnis
Martin Burckhardt über Effekte der Pandemie auf das vernetzte Leben
Seit das Coronavirus Deutschland erreichte, hat sich eine Rhetorik der Zäsur eingebürgert, als hätte man nur auf diesen geschichtlichen Augenblick gewartet. Fraglos wird die Pandemie über Krankheitsfälle und Tote hinaus Folgen haben: Verlagerung ökonomischer Gewinne, Deklassierung des Mittelstands, Verödung des öffentlichen Raums, Ausbau labiler Schuldenökonomien. Die politischen Folgen lassen sich nur erahnen. Die oft zu hörende Meinung, nach Corona könne nichts mehr sein wie zuvor, steht trotzdem auf schwachen Füßen.
Die Globalisierung wird wegen Corona und anderen Viren nicht aufhören, sie wird nur zu anderen Bedingungen laufen, schon deshalb, weil ihr Vorzeige-Medium, das Internet, durch das Virus keine Abwertung, sondern einen Expansionsschub erfuhr. "Wenn uns die Pandemie überrascht, so deswegen, weil sich die Netzwerkgesellschaft nur in abgespaltener, technischer Form realisiert hat", schreibt der Technikphilosoph Martin Burckhardt, dem es in seinem Essay "Going Viral" darum geht, den Krisenmoment in den bisher nicht ausreichend durchdrungenen digitalen Wandel und seine ideologischen Begleiterscheinungen einzubetten.
Burckhardt zufolge sind wir im digitalen Kosmos tendenziell keine reflexiven Individuen, sondern Konformisten, die Bedingungen und Folgen ihres Handelns nicht durchschauen. Die materielle Welt, die wir parallel bewohnen, bekommt musealen Charakter und wird besonders dort zum Fremdkörper, wo sie nicht mit der virtuellen Welt verkabelt ist. Im Reich der Materie fordern wir Transparenz, Demokratie und Selbstbestimmung, in der digitalen Welt geben wir sie ab.
Burckhardt beschreibt die Pandemie als Einbruch der Realität ins postmoderne Reich der Sprachspiele und Optionen. Das postmoderne Individuum erfährt Beschränkungen, die seinen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung spotten. Tatsächlich lagen die Dinge aber schon vorher anders. Das postmoderne Denken ist seit Lyotards Gründungsschrift "La condition postmoderne" (1981) fest mit der Computerisierung verbunden. Während die postmoderne Theorie das Ende der Wahrheit verkündete und Wirklichkeit zur Spielfläche individueller Gestaltungen erklärte, hat die Informatik, soweit sie sich mit Maschinen verbindet, einen schärferen Realitätsbegriff beibehalten.
Es gab in der Vergangenheit immer wieder schockartige Einbrüche der physischen Wirklichkeit, die auch als Ende ideeller Spekulationsblasen gedeutet wurden. Neben der Finanzkrise, in der die Realwirtschaft die fiktive Geldwirtschaft auf den Boden der Realität holte, nennt Burckhardt den 11. September. Am fortschreitenden Bedeutungsverlust der analogen Sphäre haben beide nichts geändert. Auch wenn die Pandemie die ernüchternde Erfahrung brachte, wie öde die digitale Welt für sich genommen ist, wird sich diese Tendenz vermutlich fortsetzen. Das Handeln folgt gerade in der stark kommerzialisierten Internetwirklichkeit weniger der Einsicht als den Regeln der Ökonomie.
Gibt es nun überhaupt einen besonderen Zusammenhang zwischen dem Virus und dem Digitalen? Eine Brücke scheint im Wort "Virus" zu liegen. Das Coronavirus ist ein biologisches Faktum, und Informationen darüber hätten sich ohne vorherige Digitalisierung nicht im Zeitraffer global verbreiten können. Wenn man von "Virus" spricht, so tut man das trotzdem einmal im biologischen, das andere Mal nur im metaphorischen Sinn. Dieser Unterschied bleibt auch da erhalten, wo Analogien feststellbar sind, was von Burckhardt aber ignoriert wird.
Alles, schreibt er, werde mit der Digitalisierung zum komplett vom Gegenstand abgelösten Zeichen. Das gilt aber weder für die Idee der Gerechtigkeit, einen Wochenendausflug noch für die Cloud selbst, die sich ohne Serverfarm und Energiezufuhr in Luft auflösen würde - und auch nicht für das Coronavirus. So geht Burckhardt dem postmodernen Denken, das er gerade für passé erklärt hatte, am Ende selbst in die Falle. Das Internet ist ein Produkt des Atomzeitalters. Es wurde entworfen als dezentrales Kommunikationsnetz, das selbst im Fall des Atomschlags funktionsfähig ist. Es ist auch das Medium, das im Lockdown weiterläuft.
THOMAS THIEL
Martin Burckhardt: "Going Viral!". Ein Abgesang der Postmoderne. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 120 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Burckhardt über Effekte der Pandemie auf das vernetzte Leben
Seit das Coronavirus Deutschland erreichte, hat sich eine Rhetorik der Zäsur eingebürgert, als hätte man nur auf diesen geschichtlichen Augenblick gewartet. Fraglos wird die Pandemie über Krankheitsfälle und Tote hinaus Folgen haben: Verlagerung ökonomischer Gewinne, Deklassierung des Mittelstands, Verödung des öffentlichen Raums, Ausbau labiler Schuldenökonomien. Die politischen Folgen lassen sich nur erahnen. Die oft zu hörende Meinung, nach Corona könne nichts mehr sein wie zuvor, steht trotzdem auf schwachen Füßen.
Die Globalisierung wird wegen Corona und anderen Viren nicht aufhören, sie wird nur zu anderen Bedingungen laufen, schon deshalb, weil ihr Vorzeige-Medium, das Internet, durch das Virus keine Abwertung, sondern einen Expansionsschub erfuhr. "Wenn uns die Pandemie überrascht, so deswegen, weil sich die Netzwerkgesellschaft nur in abgespaltener, technischer Form realisiert hat", schreibt der Technikphilosoph Martin Burckhardt, dem es in seinem Essay "Going Viral" darum geht, den Krisenmoment in den bisher nicht ausreichend durchdrungenen digitalen Wandel und seine ideologischen Begleiterscheinungen einzubetten.
Burckhardt zufolge sind wir im digitalen Kosmos tendenziell keine reflexiven Individuen, sondern Konformisten, die Bedingungen und Folgen ihres Handelns nicht durchschauen. Die materielle Welt, die wir parallel bewohnen, bekommt musealen Charakter und wird besonders dort zum Fremdkörper, wo sie nicht mit der virtuellen Welt verkabelt ist. Im Reich der Materie fordern wir Transparenz, Demokratie und Selbstbestimmung, in der digitalen Welt geben wir sie ab.
Burckhardt beschreibt die Pandemie als Einbruch der Realität ins postmoderne Reich der Sprachspiele und Optionen. Das postmoderne Individuum erfährt Beschränkungen, die seinen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung spotten. Tatsächlich lagen die Dinge aber schon vorher anders. Das postmoderne Denken ist seit Lyotards Gründungsschrift "La condition postmoderne" (1981) fest mit der Computerisierung verbunden. Während die postmoderne Theorie das Ende der Wahrheit verkündete und Wirklichkeit zur Spielfläche individueller Gestaltungen erklärte, hat die Informatik, soweit sie sich mit Maschinen verbindet, einen schärferen Realitätsbegriff beibehalten.
Es gab in der Vergangenheit immer wieder schockartige Einbrüche der physischen Wirklichkeit, die auch als Ende ideeller Spekulationsblasen gedeutet wurden. Neben der Finanzkrise, in der die Realwirtschaft die fiktive Geldwirtschaft auf den Boden der Realität holte, nennt Burckhardt den 11. September. Am fortschreitenden Bedeutungsverlust der analogen Sphäre haben beide nichts geändert. Auch wenn die Pandemie die ernüchternde Erfahrung brachte, wie öde die digitale Welt für sich genommen ist, wird sich diese Tendenz vermutlich fortsetzen. Das Handeln folgt gerade in der stark kommerzialisierten Internetwirklichkeit weniger der Einsicht als den Regeln der Ökonomie.
Gibt es nun überhaupt einen besonderen Zusammenhang zwischen dem Virus und dem Digitalen? Eine Brücke scheint im Wort "Virus" zu liegen. Das Coronavirus ist ein biologisches Faktum, und Informationen darüber hätten sich ohne vorherige Digitalisierung nicht im Zeitraffer global verbreiten können. Wenn man von "Virus" spricht, so tut man das trotzdem einmal im biologischen, das andere Mal nur im metaphorischen Sinn. Dieser Unterschied bleibt auch da erhalten, wo Analogien feststellbar sind, was von Burckhardt aber ignoriert wird.
Alles, schreibt er, werde mit der Digitalisierung zum komplett vom Gegenstand abgelösten Zeichen. Das gilt aber weder für die Idee der Gerechtigkeit, einen Wochenendausflug noch für die Cloud selbst, die sich ohne Serverfarm und Energiezufuhr in Luft auflösen würde - und auch nicht für das Coronavirus. So geht Burckhardt dem postmodernen Denken, das er gerade für passé erklärt hatte, am Ende selbst in die Falle. Das Internet ist ein Produkt des Atomzeitalters. Es wurde entworfen als dezentrales Kommunikationsnetz, das selbst im Fall des Atomschlags funktionsfähig ist. Es ist auch das Medium, das im Lockdown weiterläuft.
THOMAS THIEL
Martin Burckhardt: "Going Viral!". Ein Abgesang der Postmoderne. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 120 S., br., 14,- [Euro].
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