Jüdische Unsichtbarkeit und die Relevanz von Bündnissen
Antisemitismus ist gerade in linken Kreisen ein schwieriges Thema. Man ist ja reflektiert und positioniert sich gegen Ausgrenzungen, aber in der Aufzählung von Seximus, Rassismus und Homophobie, die nicht gedultet werden, wird er häufig
nicht exmplizit genannt. Er wird oft übersehen, fälschlicherweise mit Rassismus gleichgesetzt, in linker…mehrJüdische Unsichtbarkeit und die Relevanz von Bündnissen
Antisemitismus ist gerade in linken Kreisen ein schwieriges Thema. Man ist ja reflektiert und positioniert sich gegen Ausgrenzungen, aber in der Aufzählung von Seximus, Rassismus und Homophobie, die nicht gedultet werden, wird er häufig nicht exmplizit genannt. Er wird oft übersehen, fälschlicherweise mit Rassismus gleichgesetzt, in linker Kapitalismuskritik kolportiert bis offen vertreten und nicht zuletzt der Nahostkonflikt bietet mehr als genug Zündstoff für innerlinke Debatten.
Jüdinnen_Juden halten sich auch deshalb häufig aus linkem Aktivismus heraus, obwohl, so Judith Coffey und Vivien Laumann, intersektionale Bündnisse dringend nötig sind – um das Verständnis für Antisemitismus zu verbessern und gegenwärtige Jüdinnen_Judenfeindschaft zu bekämpfen. Dafür fehlt jedoch bisher noch ein Begriff, der die nichtjüdische Notm benennt. Analog zum Begriff der Heteronormativität entwickeln die Autornnen daher den Begriff der Gojnormativität, um die Unsichtbarmachung von jüdischem Leben benennbar zu machen (Goj ist der jiddische Begriff für einen nichtjüdischen Menschen). Damit analysieren sie den Umgang mit Jüdinnen_Juden in linken Kreisen und das Problem, dass sich linkes Engagement oft auf Erinnerungsarbeit konzentriert und aktuellen Antisemitismus ausblendet.
Als Person, die in der sogenannten antideutschen Antifa sozialisiert wurde, d.h. den Teilen der autonomen Linken, die einen starken Fokus auf Antisemitismus setzt, diesen kritisiert, eine konsequente Aufarbeitung der deutschen Schuld fordert, Israel als Schutzraum betrachtet und Antisemitismus und Rassismus als unterschiedliche Diskriminierungsformen begreift, fand ich besonders die Auseinandersetzung mit innerlinken Streits spannend. Denn die Autorinnen benennen die wichtige antideutsche Arbeit bezüglich Antisemitismus und kritisieren Pauschalisierungen antideutscher Kreise als rechts oder uninteressiert an Intersektionalität (denn leider gibt es manche Kreise, bei denen die Kritik an Antisemitismus in Rassismus o.ä. umschlägt). Andererseits halten die Autorinnen aber auch eine pauschale Kritik an Identitätspolitik für problematisch, da sie die Benennung als weiß, christlich, jüdisch etc. als notwendig erachten, um daraus politische Forderungen abzuleiten. Aus dieser Perspektive hinterfragen sie gerade auch die scheinbare Neutralität mancher Antideutscher, die sich in Opposition zu fixen Identitätskategorien sehen, aber dann in einem identitären Philosemitismus, der ebenso eine falsche Vorstellung von jüdischer Identität hat, mitunter selbst Identitätspolitik auf Kosten von (lebenden) Jüdinnen_Juden betreiben. Auch auf Ungleichheit, dass die Definitionshoheit über Erinnerungspolitik und Aufarbeitung sehr stark bei Gojs liegt, weisen sie hin.
Das Buch versteht sich als solidarisch-kritisch und liefert neben den benannten Leerstellen auch Denkanstöße und Verweise auf vergangene Bündnisse, um aus der gelieferten Zustandsbeschreibung herauszukommen und Jüdinnen_Juden sowie Antisemitismus in linker Praxis aktiv mitzudenken. Den Begriff Gojnormativität finde ich nicht nur subjektiv großartig, sondern denke, dass er gerade für jene, die Identitätspolitik als aktivistisches Mittel begreifen, eine Möglichkeit sein kann, eigene Ignoranz zu erkennen. Dass der Begriff so spät und von zwei Jüdinnen vorgeschlagen wird, sagt bereits einiges aus über den Stellenwert von Antisemitismus in linkem Aktivismus. Denn wer „Pass the mic“ ruft, sollte sich auch selbst fragen, wer eigentlich gefahrlos vor Ort sein kann, um das Mikro anzunehmen – und wer nicht.