Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 3,50 €
  • Gebundenes Buch

Anne Weber hat ihre Erzählerin in ein Schweizer Großraumbüro versetzt: feste Arbeitszeiten, ein Schreibtisch in der Dentalabteilung von "Cendres & Métaux", telefonierende Kollegen, klappernde Tastaturen, ein Durcheinander von Stimmen und Bürogeräuschen - ein idealer Ort zum Schreiben? Hier jedenfalls verwandelt sich die Arbeitswelt in ein Refugium, in dem das Beobachten genauso anregend wird wie das wild schweifende Assoziieren. Eine Schreibtischlampe, eine Zimmerpflanze, die Zahnmodelle und Spezialgeräte der Firma und der Blick aus dem Fenster bergen Geheimnisse, die die Phantasie anregen.…mehr

Produktbeschreibung
Anne Weber hat ihre Erzählerin in ein Schweizer Großraumbüro versetzt: feste Arbeitszeiten, ein Schreibtisch in der Dentalabteilung von "Cendres & Métaux", telefonierende Kollegen, klappernde Tastaturen, ein Durcheinander von Stimmen und Bürogeräuschen - ein idealer Ort zum Schreiben?
Hier jedenfalls verwandelt sich die Arbeitswelt in ein Refugium, in dem das Beobachten genauso anregend wird wie das wild schweifende Assoziieren. Eine Schreibtischlampe, eine Zimmerpflanze, die Zahnmodelle und Spezialgeräte der Firma und der Blick aus dem Fenster bergen Geheimnisse, die die Phantasie anregen. Die Erzählerin erlaubt sich schräg in die herrschende Diktion hineinragende Gedanken über das Ende des Kapitalismus, die Naturgesetze oder den abwesenden Direktor und stellt scheinbar naive Fragen zu den ökonomischen Verhältnissen. Sich dem Angestelltendasein so leichtfüßig zu nähern, gelingt, weil die Erzählerin das Privileg genießt, sich freiwillig und unabhängig im Büro zu bewegen.
Das Gegenbild zu diesem entspannten Ausflug in den Werktag zeichnet der Brief an die "lieben Bürovögel": Geschrieben aus der Perspektive einer des erwerbstätigen Eingezwängtseins Müden, liest er sich als eine wütende Tirade, ein Befreiungsschlag, die furiose Verabschiedung von der Angestelltenexistenz.
Autorenporträt
Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren. 1983 ging sie nach Paris und absolvierte das Studium der französischen Literatur sowie der vergleichenden Literaturwissenschaften an der Sorbonne. Von 1989 bis 1996 arbeitete sie in Lektoraten verschiedener französischer Verlage. Sie begann, deutsche Texte (u.a. von Hans Mayer, Jacob Burckhardt, Eleonore Frey, Sibylle Lewitscharoff, Birgit Vanderbeke und Wilhelm Genazino) ins Französische zu übersetzen. 1998 veröffentlichte sie bei Le Seuil die französische Originalfassung von Ida erfindet das Schießpulver. 1999 erschien das Buch auf deutsch im Suhrkamp Verlag, der im Herbst 2000 auch Im Anfang war veröffentlichte. 2004 erschien ihr viertes Buch Besuch bei Zerberus.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2005

Wer den Singular nicht ehrt, ist des Plurals nicht wert
Im Großraum geht das Leben weiter, egal, was geschieht: Anne Webers nonchalante Prosa aus einem Schweizer Dentallabor

Wo schreiben, wenn nicht im Großraumbüro einer Schweizer Zahntechnikfirma? Alle wissen, was zu tun ist, keiner trödelt oder zögert: "Im Großraum geht das Leben weiter, egal, was am Himmel und auf Erden geschieht." Sich auf diesem Helikon wahrer Alltäglichkeit inspirieren zu lassen muß der Plan Anne Webers gewesen sein, als sie bei Cendres & Metaux in Biel für ein paar Monate als Gast einen Schreibtisch bezog. Die Autorin, die in den letzten Jahren mehrere Prosa-Reflexionen publiziert und dafür 2004 den Heimito-von-Doderer-Preis und kürzlich in Klagenfurt den 3Sat-Preis erhalten hat, weiß aber auch, wo sie nicht hinwill: "Der Weg nach Bitterfeld führt, wie die meisten Wege, in die Irre." Wie entsteht aber dann in einem Industriebüro Kunst?

Man füge ein wenig Metaphysik dazu, eine Prise Kapitalismuskritik, einen Schuß Satire, einige Löffel Schreibreflexion, rühre und knete, bis die Masse geschmeidig ohne Sinnklumpen von der Hand geht und sich fein ausziehen läßt. Darein fülle man Topfpflanzen, Flachbildschirme, schrullige Schweizer und Dental-Geräte, forme aus allem eine Rolle und schiebe sie ins Rohr, bis der Strudel einen goldigen Farbton annimmt. Er macht nicht dick, aber auch nicht satt. Für die "Du darfst"-Kultur ist dies genau das Richtige, doch wer die Wahrheitsfrage nicht vorweg aus der Literatur verbannt, wird dies anders sehen.

Kritiker müssen sich freilich in acht nehmen, denn Anne Weber stellt sie pauschal unter Realismusverdacht. Indes, dieser Rezensent will keinen Realismus, sondern einzig Kunst, deren sprachliche Erkenntnisqualität sie von Kitsch und Kunstgewerbe trennt. Da Leser und Kritiker im Text mehrfach explizit angesprochen werden, wollen wir einmal der Autorin beim Schreiben zuhören: "Wie soll es nun weitergehen? Drei Sätze bieten sich an, den nächsten Absatz anzuführen: 1. Von den Metallen kann man einiges lernen. 2. Wer den Singular nicht ehrt, ist den Plural nicht wert. 3. Die Schweiz ist die Heimat der Ovomaltine."

Geht man diesen Katalog rückläufig durch wie Homer, ergibt sich folgender Befund. Zur "Ovomaltine" ist der Autorin gar nichts, zum Plural (außer dem richtigen Kasus) einiges eingefallen: Aus den Komposita Naturgesetz und Gesetzgeber in Verbindung mit dem Plural erschafft sie etwa die Ein-Wort-Anthropologie "die Naturgesetzgeber". Chapeau! Aber Anne Weber macht nichts daraus, es bleibt ein Gag, wie ihn die meisten Menschen in ihren täglichen fünfzehn Genie-Sekunden hinkriegen. Ähnlich steht es mit dem Lernen von den Metallen. Anne Weber entdeckt im unabschaltbaren Hochtemperaturschmelzofen der Firma den "Dauerblitz", der alle Sprachalchemisten von Heraklit bis René Char begeistert hätte, aber Weber macht daraus nichts, kein Symbol (zum Glück!), aber leider auch kein Kriterium für Kunst: "Ich will ja der Realität nicht habhaft werden, verteidige ich mich, sondern ihr als Stimme, als Filter, als Durchlauferhitzer und Kühlapparat dienen." Die Autorin läßt ihr Double im Text, das man in der Mitte des Bandes sogar auf einem Foto des realen Großraumbüros sieht, plötzlich sehr kleinlaut werden: Kunst als sirrende Klimaanlage - ist das nicht ein bißchen wenig?

Vermutlich ist es nur Mimikry, denn die Autorin ist mit vielen literarischen Finten vertraut. Französische Autoren werden herbei- und wieder fortzitiert, Alain Robbe-Grillet wird namentlich verleugnet, erhält aber eine Sonder-Hommage durch die Beschreibung der Jalousie im Großraumbüro. Anne Weber formuliert alltagstaugliche Aphorismen ("Jeder hat Zähne, zumindest gehabt"), wirft zwei rasante Seiten Filmskript für eine Dreiecksgeschichte hin und stülpt beiläufig unsere Weltsicht um: "Die Vögel fliegen an unseren verglasten Großräumen vorbei, wie Zoobesucher, die aus Mitleid oder Gedankenverlorenheit keinen Blick in die Käfige werfen." Ja, so könnte Literatur anfangen - und gleich daneben steht Läppisches, das man gar nicht zitieren mag. Anne Weber kann offensichtlich alles, was sie will, aber sie will nichts. Taoistisch gesehen, bedeutet dies die Vollkommenheit, literarisch ist Nonchalance auf Dauer zuwenig. Denn nicht einmal in einem Büro kann es vierzig Jahre lang immer so weitergehen, geschweige denn in der Literatur. Der Rezensent wünscht sich daher von Anne Weber keineswegs mehr Realismus, sondern den Mut zur Konstruktion von Kunst, von Unerhörtem, dessen erhellende Macht uns vom Bürostuhl reißt - oder lesend darauf bannt.

So weit war diese Kritik geschrieben, als der Rezensent die Homepage des genannten Bieler Unternehmens anklickte - und sich vom prismatischen Realismus all der Brücken, Implantate und Schrauben überzeugen ließ. Mit welcher Liebe preisen diese Schweizer High-Tech-Schmiede ihren Spezialschraubenzieher, der auf alle fünf Schraubentypen im Mund paßt! Im Ernstfall möchte man nur solche Spezialisten an Kopf und Kiefer heranlassen, die offenbar Doderers Erzähl- und Wirklichkeitsprinzip verinnerlicht haben: "Die Tiefe ist außen." Zahntechnik und Poetik treffen sich idealerweise im Mund.

Anne Weber: "Gold im Mund". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 127 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Thomas Poiss ist enttäuscht, und zwar tief. Denn diese Prosa ist aus seiner Sicht zwar gekonnt geschrieben, bringt aber wenig Erkenntnisgewinn. Der Rezensent ist auch deshalb so enttäuscht, weil er eigentlich einiges von den Fähigkeiten der Autorin hält. Bei manchen Passagen schöpft Poiss jähe Hoffnung auf den Beginn des literarischen Teils der Geschichte aus einem Schweizer Dentallabor. Doch kurz darauf wird es so banal, dass er nicht mal zitieren möchte. "Kitsch und Kunstgewerbe", klagt er. Dabei könne die Autorin ganz anders. Doch scheint sie zur Bestürzung von Poiss diesmal nicht zu wollen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Klagenfurt: 3sat-Preis für Anne Weber
"Der literarisch gereifteste Text des Wettbewerbs" Ijoma Mangold Frankfurter Rundschau