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The cigarette is the deadliest artifact in the history of human civilization. It is also one of the most beguiling, thanks to more than a century of manipulation at the hands of tobacco industry chemists. This title explores how the cigarette came to be the most widely-used drug on the planet, with six trillion sticks sold per year.

Produktbeschreibung
The cigarette is the deadliest artifact in the history of human civilization. It is also one of the most beguiling, thanks to more than a century of manipulation at the hands of tobacco industry chemists. This title explores how the cigarette came to be the most widely-used drug on the planet, with six trillion sticks sold per year.
Autorenporträt
Robert N. Proctor is Professor of the History of Science at Stanford University and author of Cancer Wars, Racial Hygiene, and The Nazi War on Cancer He is also a Fellow of the American Academy of Arts and Sciences.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.03.2012

Die vermeidbarste Todesursache der Welt

Ein Mordinstrument für Milliarden von Toten: Der Stanford-Historiker Robert Proctor erzählt eine drastische Geschichte der Zigarette - und geißelt die Macht der Konzerne.

Was ist der Plural von Holocaust? Es gibt ihn nämlich mittlerweile in mehreren Farben. Als den "Schwarzen Holocaust" (an den afrikanischen Sklaven), den "Roten" (an den Opfern des Kommunismus) und nun also den "Goldenen Holocaust" (an den Rauchern und Passivrauchern). Nur der Holocaust an den Juden steht noch farblos da. Begriffsschöpfer des "Golden Holocaust" und Autor des gleichnamigen Buches ist der Medizinhistoriker Robert Proctor. Seine Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften in Deutschland und besonders zur Krebsforschung im Dritten Reich haben ihm einen hohen Ruf, eine Professur an der Universität Stanford und eine Mitgliedschaft in der American Academy of Arts and Sciences eingetragen.

1999 trat Proctor erstmals in einem Prozess gegen die Tabakindustrie auf, und zwar nicht, wie andere Historiker vor ihm, als Expertenzeuge der Konzerne, sondern der Raucher. Seither wirft ihm die Zigarettenlobby nach Kräften Knüppel zwischen die Beine, und er zahlt es ihr mit wissenschaftlichen und anderen Mitteln heim. Was sich dabei abspielt, ist ein Paradebeispiel dafür, wie viel ein Wissenschaftler in der Rolle des Aktivisten bewegen kann und wie rasch er in Teufels Küche gerät.

Die Entstehungsgeschichte dieses Buches übersteigt vieles, was Akademiker an westlichen Universitäten zu ertragen gewohnt sind. 2009 reichten mehrere Zigarettenkonzerne Klage ein, um die Herausgabe von Proctors Manuskript zu erzwingen. Nachdem sie damit abgeblitzt waren, gelangten sie am 13. Februar dieses Jahres erneut vor Gericht, um die Verwendung des Buches als juristisches Beweismittel zu verbieten. In der zwölfseitigen Klageschrift wird Proctor Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen: Er schreibe "um zu schockieren und zu unterhalten und nicht um eine unvoreingenommene, objektive, faktengetreue Geschichte der Tabakindustrie vorzulegen"; er biete eine Analyse aus zweiter Hand, deren Aussagegehalt dem "Hörensagen über Hörensagen" entspreche, und er schmücke seinen Titel mit Worten, die "Geschworene voreingenommen machen müssten". Die Chuzpe der Anwälte, vor Gericht ein Buch zu verreißen, von dem sie nur Titel und Waschzettel kennen, ist auch eine Leistung.

Eines aber kann man den Advokaten der Tabakindustrie kaum vorwerfen: die Motive ihres Gegners zu verkennen. Proctor macht in seinem Buch den Zigarettenproduzenten den Prozess, und seine Begriffswahl und Beweisführung erwecken den Eindruck, er führe ihn weniger vor der Richterinstanz der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als vor Laiengeschworenen eines amerikanischen Bezirksgerichts. In der Einleitung beteuert er, "den Begriff Holocaust mit Bedacht" zu gebrauchen. Die Parallele zwischen Judenmord und Zigarettenkonsum bestehe in einer "Katastrophe von epischen Proportionen, mit zu vielen, die bereit sind wegzuschauen, und zu vielen, die dem Horror einfach seinen Lauf lassen".

Proctor ist, wie er zu seiner Rechtfertigung anführt, nicht der erste, der das Rauchen und seine Folgen mit dem Holocaust-Begriff versieht, aber er geht über frühere Vergleiche hinaus, indem er dem "Goldenen Holocaust" eine einzigartige Dimension verleiht: 100 Millionen Todesopfer habe die Zigarettensucht im zwanzigsten Jahrhundert gefordert, und wenn es im gleichen Stil weitergehe, vor allem in den Wachstumsmärkten Asiens, stünden die Chancen gut, dass in diesem Jahrhundert noch eine Milliarde dazukomme. Damit sei Rauchen die mit Abstand häufigste vermeidbare Todesursache der Welt. Die Zahlen sind, zumindest für das zwanzigste Jahrhundert, schwer zu bestreiten. Die Analogie mit dem Judenmord wird dadurch aber nicht besser.

Sind es nicht zwei verschiedene Paar Schuhe, wenn eine Industrie die Sofortvernichtung von Millionen zum primären Ziel hat, als wenn eine Industrie für eine möglichst große und treue Kundschaft den frühzeitigen Tod von Millionen aus ihrer Mitte in Kauf nimmt? Proctor beschränkt sich auf die Feststellung, es gäbe "bedeutende Unterschiede", hält es aber für wichtiger, eine Sprache zu wählen, die nicht "mit Euphemismen handelt". Eine drastische Sprache reicht nicht aus, um eine drastische Sache in ihrer Spezifik zu erfassen - am allerwenigsten, wenn sie mit Brachialanalogien operiert. Auf der Basis von Proctors Todesursachenstatistik könnte man auch die Massenvöllerei im Westen und den Massenhunger im Süden als Holocaust bezeichnen und würde genau das Gleiche erreichen: einen schreiend schiefen Vergleich.

Proctors Bemühen um Drastik zieht sich durch die ganzen siebenhundertfünfzig Seiten seines Buches. Es führt nicht nur zu Wiederholungen, sondern letztlich zu einer anderen Geschichte als jener, die er ankündigt. "Mein Ziel ist, die Zigarette als Teil der normalen Technikgeschichte zu beschreiben - und als zutiefst politisches (und trügerisches) Artefakt." Das ist ein vielversprechendes Vorhaben, und in den besten Passagen, dort, wo der der Historiker Proctor den Aktivisten Proctor kurz zum Schweigen bringt, lässt das Buch erahnen, welch spannungsreiches Gesamtportrait der Spätmoderne sich rund um die Zigarette entfalten ließe.

Das Buch will dreierlei sein: ein Stück Abschreckungspropaganda, eine politisch-juristische Kampfschrift und eine Geschichte der Zigarette - und ist dann doch in keinem völlig überzeugend. Die Abschreckungspropaganda bietet mehr als astronomische Todeszahlen. Proctor präsentiert und kommentiert eine Liste von Giftstoffen, die in Zigaretten enthalten sind. Er macht Freiluftraucher für "die tödlichste Form der Luftverschmutzung in den meisten europäischen Städten" verantwortlich, warnt vor schlechter Haut und früher Impotenz, regt zu verschwörungstheoretischen Phantasien an ("Try to imagine the inside of a cigarette factory, and if you can't, think about why that might be so") und widmet ein ganzes Unterkapitel unappetitlichen Zufallsfunden, die man in Zigaretten gemacht hat: Metallsplitter, Plastik, Insektenkot, Würmer. Die Lektüre wirkt abschreckend, aber nicht immer so, wie es der Autor wünscht. Proctor verpasst seinen Lesern eine Aufklärungslektion, die sie eher in die Unmündigkeit zurückwirft als aus ihr befreit. Wer mitdenken will, kann oft nicht mitfolgen.

Als politische Kampfschrift wirbt Proctors Buch für nichts weniger als eine Prohibition des Zigarettenhandels. Einzig der private Konsum von Selbstgezüchtetem, -getrocknetem und -gedrehtem solle noch erlaubt sein. Gleichzeitig dürfe zum Schutz der Nichtraucher Qualmen auf öffentlichem Grund und in dichtbesiedelten Gebieten nicht mehr toleriert werden. Gegen den Einwand, was beim Alkohol versagt habe, könne bei der Zigarette nicht klappen, führt Proctor an, Alkohol sei eine Genussdroge, die nur drei Prozent der Konsumenten zu Süchtigen mache, während Tabak eine stärkere Abhängigkeit hervorrufe als Heroin und Kokain, so dass die meisten Tabakkonsumenten ein Verbot ihrer Droge als Ausstiegshilfe begrüßen würden. Das könnte man auch anders sehen: Wäre Tabak wirklich eine hartnäckigere Droge als Heroin und Kokain, dann dürften in erster Linie Drogenbarone und Gefängnisunternehmen ein Verbot begrüßen, während Raucher, die sich den Luxus einer privaten Tabakplantage nicht leisten könnten, für teureres Geld schlechtere Ware beschaffen müssten.

Von ungleich höherem Gehalt sind die historischen Ausführungen. Sie beginnen mit dem Aufstieg des papierumhüllten "fast smoke" zur Massendroge am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts. Voraussetzung dafür war zum einen der Übergang von der manuellen zur maschinellen Zigarettenproduktion, zum andern eine Revolution in der Feuerentfachung: die Erfindung von Streichhölzern. Aber auch mit der Allgegenwärtigkeit einer billig zu erstehenden, leicht zu entzündenden und rasch zu konsumierenden Tabakware war der "Holocaust" noch nicht perfekt. Dazu bedurfte es des Übergangs vom Paffen zum Inhalieren. Die Produzenten senkten den PH-Wert und erhöhten den Zuckergehalt des Zigarettentabaks, damit er im Hals weniger irritierte, und sie priesen das Einatmen des Rauches als erotischeres Erlebnis an, im Wissen darum, dass es die Nikotinsucht verstärken würde. Ihre Anstrengungen wurden im globalen Siegeszug des "Virginia blend" oder hellen Tabaks gekrönt, dem Proctors Holocaust seine Farbe verdankt.

Einen entscheidenden Anteil am Siegeszug hatte die amerikanische Politik während und nach den beiden Weltkriegen. 1914 wurde die Zigarette auf Betreiben der Tabakindustrie obligatorische Beilage militärischer Lebensmittelrationen, was den Pro-Kopf-Konsum innerhalb von fünf Jahren verdreifachte, und nach 1945 stieg sie zum wichtigsten "Nahrungsmittel" des Marshall-Plans auf. Die Anfangsgeschichte der Masseninhalationssucht findet ihr Gegenstück in der Anfangsgeschichte der Antitabakbewegung. Zu deren Pionieren zählt Proctor deutsche Wissenschaftler im Allgemeinen und eingefleischte Nazis im Besonderen. Das "Dritte Reich" hatte die weltweit führenden Epidemiologen, und viele von ihnen widmeten sich den gesundheitlichen Folgen des Rauchens. Sie genossen dabei die Unterstützung Hitlers, der den Tabak zur "Rache des roten Mannes am weißen Mann für dessen Gabe des Schnapses" erklärte. Ihre statistischen und experimentellen Forschungen führten zum ersten Mal einen Konsens unter Medizinern über die Schädlichkeit des Rauchens herbei.

Das Kapitel über Nazi-Deutschland gehört zu den stärksten des Buches. Sein Befund, unter den Fittichen des "Führers" sei internationale Spitzenforschung betrieben und fortschrittliche Gesundheitspolitik gemacht worden, verlangt nach einer historischen Kontextualisierung, und Proctor leistet sie, indem er die rassistische Ideologie vom gesunden, aber gefährdeten Volkskörper als perfekten Nährboden für die medizinische Betrachtung des Rauchens als Körperbedrohung und für die politische Stigmatisierung der Zigarette als "Turngerät der Willenlosen" darstellt. Sobald Proctor die amerikanische Nachkriegszeit erreicht, lässt das Kontextualisieren nach. Nun wird der Stoff nach juristischen, nicht nach historiographischen Gesichtspunkten geordnet.

Hauptquelle ist eine frei zugängliche Online-Datenbank mit sechzig Millionen Seiten aus Unterlagen der Zigarettenindustrie, die in der Prozesslawine der vergangenen Jahrzehnte an die Oberfläche gespült wurden. Der Autor nutzt die Unterlagen für den Nachweis, dass die führenden Figuren der Branche intern schon Anfang der fünfziger Jahre zugaben, dass Rauchen krebserregend war, nach außen aber noch jahrzehntelang behaupteten, die Verbindung sei nicht bewiesen. Um die Behauptung aufrechtzuerhalten, bestachen sie renommierte Lungenforscher, die für sie als Zeugen vor Gericht auftraten und im Namen der wissenschaftlichen Seriosität in Frage stellten, was alle wussten.

Erst in den achtziger Jahren habe die Tabaklobby diese Verteidigungslinie aufgegeben, um nun das genaue Gegenteil zu behaupten: Jedermann sei über die Gefahren des Rauchens im Bild gewesen und mithin der Vorwurf einer willentlichen Täuschung haltlos. Um die neue Version vor Gericht durchzusetzen, waren nicht mehr Pneumologen, sondern Historiker gefragt, und so eröffnete sich für eine Reihe von Proctors Kollegen die Möglichkeit, als Zeugen der Tabaklobby ein Zubrot zu verdienen. Proctor stellt die Professoren einzeln an den Pranger, wodurch ersichtlich wird, dass nicht nur Nobodys aus Provinzuniversitäten, sondern auch Stars aus Harvard und Stanford der Versuchung erlagen. Die wenigsten von ihnen scheinen Überzeugungstäter gewesen zu sein, und einige forschten in Gebieten, die vor Gericht gar nicht gefragt waren.

In den letzten Jahrzehnten stellt Proctor die amerikanischen Zigarettenfirmen als raffinierte Mördertruppe mit prall gefüllter Kriegskasse dar. Ganz abwegig ist das Bild nicht. Allein, wie so oft bei Verschwörungstheorien ist das Empörungspotential größer als die Erklärungskraft. Für ein vertieftes Verständnis der Vorgänge fehlt die Hälfte der Geschichte: jene der amerikanischen Antitabaklobby. Proctor blendet ihre Entstehung und Zusammensetzung ebenso aus wie ihren Aufstieg zu Macht, Reichtum und Ansehen. Damit weckt er, anders als im Kapitel über das Dritte Reich, den Eindruck, als sei der Kampf gegen das Rauchen nicht von Menschen mit bestimmten Ideologien und Interessen geführt worden, sondern von der Wahrheit selbst.

Dass dem nicht so war, verrät ein Absatz, in dem Proctor die Voraussetzungen für die gigantischen Ablassprozesse der achtziger und neunziger Jahre erwähnt. Zu ihren Hauptinitiatoren zählte die Asbestindustrie, die für die Krebserkrankungen der Fabrikangestellten deren Zigarettenkonsum verantwortlich machte und beim Sammeln von Beweismaterial erkannte, welch kolossalen Reibach die gerichtliche Verfolgung der Tabakkonzerne versprach.

Offenbar sind Gut und Böse in dieser Geschichte nicht so klar verteilt, wie es das Buch haben möchte, und es wäre angemessener, den gerichtlichen Grabenkrieg weniger als Kampf der wissenschaftlichen Wahrheit gegen die wissenschaftlich verhüllte Lüge zu beschreiben denn als Kollision von Ideologie und Gier. Weil Experten im amerikanischen Gerichtssystem nicht als Zeugen des Richters, sondern der Parteien auftreten, verkommt die Wissenschaft - den Plünderungen von beiden Seiten ausgeliefert, steht sie längst als Hauptopfer des Gerichtskrieges fest.

CASPAR HIRSCHI

Robert N. Proctor: "Golden Holocaust". Origins of the Cigarette Catastrophe and the Case for Abolition.

University of California Press, Kalifornien 2012. 737 S., geb., 37,80 [Euro].

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