Dempsey warf einen letzten Blick zurück auf den Salzsee und BurgBrück-Über-Salz, die wie schlafend über dem Wasser schwebte. ImGlanz der aufgehenden Sonne, der die Oberfläche des Salzsees ineinen goldweißen Spiegel verwandelte, wirkte alles so friedlich undunschuldig. Der Schein trog: Was hinter den Toren der Burg lauerte war dasgenaue Gegenteil von Frieden und Unschuld. Er schauderte, entsandte einenstummen Gruß an seine Schwestern, die diesem Unheil nicht entronnenwaren, und schloss dann im Eilschritt zu seinen neuen Kameraden auf.Garhelt, eine Späherin aus dem Gefolge der Crawfords, bedachte ihn miteinem misstrauischen Blick. "Na, hast du dem Trupp der Thys heimlichZeichen gegeben?""Ich hätte sie schon heute Nacht erwartet", sagte Dempsey mit einemLachen, "aber sie verspäten sich wohl."Wie auf ein unhörbares Kommando blieben Garhelt und die anderenSpäher stehen. Mit wenigen Schritten kreisten sie Dempsey ein, dabeischauten sie so feindselig drein, dass ihm das Lachen im Halse steckenblieb."Na warte, Freundchen."Schon ballten sich Hände zu Fäusten. Hilfesuchend schaute Dempsey zumTross, aber die hohen Herrschaften waren bereits außer Sichtweite.Das war´s."Aber die Regel lautet doch, dass ihr mir kein Leid antun dürft!""Ja, das haben die Krähen gesagt", murmelte Kinney, ein Schrank voneinem Mann. Er ließ die Fingerknöchel knacken. "Aber das gilt nicht fürKerle, die es verdient haben. Ich denk´, ich nehm´ dich auf der Stelleauseinander."Die Soldaten kamen langsam näher."Bitte, Freunde, das war doch nur ein dummer Scherz."Knochenbrecherblicke und Prügelmienen nahmen ihn ins Visier und erwusste, es gab kein Entrinnen mehr. Trotzig reckte Dempsey das Kinn vor.Er würde nicht winseln. "Na gut, dann schlagt eben einen Unschuldigen. Ichhalte das aus."Zuerst geschah nichts, dann, einer nach dem anderen, brachen die Späherin Gelächter aus."Wollen wir den Welpen bei uns aufnehmen?", fragte Garhelt in die Runde."Aye! Unser Welpe!"Statt ihn zu verdreschen, klopften die Späher ihm auf den Rücken undkniffen in seine Wangen, nannten ihn ,sü.e Babybacke` und ,Jaulwurf`.Dempseys Anspannung löste sich mit einem Lachen, doch seine Knie warenweich wie Butter und der Schweiß stand ihm auf der Haut. Ehe er sich versah,kreiste ein Beutel mit Kaukraut und wer wollte, bekam auch ein wenig Khatdazu. So gestärkt ging es weiter die Landstraße entlang, immer nach Norden.In den nächsten zwei Tagen der Reise lernte Dempsey, dass solche rauenScherze bei den Krähen schlichtweg dazugehörten, unter den Soldaten undAdligen gleichermaßen. Obwohl es ständig regnete und die Nässe bald allenin die Kleider kroch, herrschte in der Truppe eine gute Stimmung.Nun also war er Gefolgsmann von Wicked Cass, den er sich im Übrigengänzlich anders vorgestellt hatte: größer, über und über mit Gold behangen,laut und ungehobelt, aber nicht in schlichtes Schwarz gekleidet, gesammeltund mit schaurigen Augen.Außerdem hatte er niemals davon gehört, dass er braune Haut hatte.Was die Leute sonst noch redeten, schien aber zu stimmen: Wicked Casssagten auch seine neuen Kameraden und er konnte es mit eigenen Augensehen: Die Crawfords gingen mit jeder Frau und jedem Mann respektvoll um,egal ob Commoner oder Adliger, und sie dankten ihren Dienern für derenganz gewöhnliche tägliche Arbeit.Das käme einem Thy niemals in den Sinn.Earl Cassander ließ es sich nicht nehmen, regelmäßig vom Pferd zu steigen,um Seite an Seite mit seinen Untergebenen zu wandern und sich mit ihnen zuunterhalten. Zuerst waren die Leute furchtbar eingeschüchtert, aber esdauerte nicht lange, bis sie frei heraus plauderten und munter mit ihm lachten.Auch jetzt war der Earl zu Fuß unterwegs. Er verabschiedete SpäherinGarhelt, mit der er sich unterhalten hatte, blieb stehen und wartete, bisDempsey zu ihm aufgeschlossen hatte. Ein freundliches Lächeln lag um seineLippen, aber seine Augen funkelten listig. "Ich weiß gerne, mit wem ich michumgebe. Erzähl mir von dir, Dempsey.""Viel gibt es da nicht zu erzählen. Mein Vater war Soldat. Er fiel im Krieg.Meine Mutter ist Amme bei den hohen Herrschaften. Meine drei Schwesterndienen alle auf der Burg.""Du hast sie zurückgelassen.""Ich wollte sie ... Es ging nicht. Ich bin Hals über Kopf getürmt.""Werden sie nun deinetwegen bestraft?""Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich denke lieber nicht darüber nach."Earl Cassander hüllte sich in Schweigen und sah dabei furchtbar wütendaus. "Wie lange hast du gebraucht, um das Bogenschützenhandwerk zumeistern?", fragte er irgendwann."Ich habe das Handwerk von klein auf von meinem Vater gelernt. Wirgeben das Wissen seit Generationen in der Familie weiter. Es braucht vieleJahre, um es zu lernen. Ich bin erst wirklich gut geworden, als ich schon fasterwachsen war.""Wie hast du letzte Nacht geschlafen?"Dempsey wunderte sich über den abrupten Themenwechsel. EarlCassanders Blick lastete schwer auf ihm und er wusste, dass er jetzt nichtsFalsches sagen durfte. "Eher schlecht als recht", antwortete er leise."Meine neuen Diener erzählten mir, dass sie so gut geschlafen haben wielange nicht.""Ich hatte Angst. Die Thys lassen Fahnenflüchtige jagen. Menschenjagd."Wieder schwieg sein neuer Herr."Bitte glaubt mir.""Bitte vertrau mir", raunte Wicked Cass und grinste wie ein Wolf."Was meint Ihr? Ich vertraue Euch doch.""Und warum kannst du dann nachts nicht schlafen?""Ich sage die Wahrheit, auch wenn ich es Euch nicht beweisen kann.""Stimmt, das kannst du nicht. Darum erzählst du mir jetzt alles, wirklichalles, was du über die Möwen weißt. Ich will wissen, wer von den ThysProbleme beim Scheißen hat, wer ein Säufer ist, wer wen betrügt und vorallem will ich wissen, wer den meisten Dreck unter den Fingernägeln hat."Er macht mich zum Verräter und Verräter können nicht zurück."Meine Loyalität gilt nun Euch, darum erzähle ich Euch alles, was ichweiß."Dempsey redete sich von der Seele, was er aufgeschnappt hatte, erzähltevon Fehltritten, körperlichen Gebrechen und Intrigen innerhalb der FamilieThy. Sein neuer Earl lauschte ihm aufmerksam und stellte gelegentlichNachfragen. Besonders hellhörig wurde er, als Dempsey erwähnte, dass AdalErren schon vor vielen Jahren bei seinem Vater Earl Gerwald in Ungnadegefallen war und seitdem um Anerkennung rang.Viel ausgiebiger noch als über Familienangelegenheiten konnte Dempseydie Zustände im Heer wiedergeben, berichtete mit immer wieder stockenderStimme, mit welcher Strenge die Hauptmänner der Thys ihre Soldatenbestraften, wie er selbst bestraft worden war, und wie wütend und bissig dasdie Männer werden ließ. Von seinen Schwestern wusste er, dass es beimGesinde nicht viel besser zuging. "Jeder gegen jeden. Ständig gehen dieMänner aufeinander los. Ich prügelte mich mit meinen Kameraden, wenn ichbeim Kartenspielen verlor, oder weil mich einer falsch angeschaut hatte.Einmal prügelte ich einen Boten aus der Burg, weil er gegenüber dem Earl dieForm nicht gewahrt hatte. Ada Vilburga machte mich gar zu ihremPrügelknaben. In feiner Kleidung mache ich was her, das gefiel ihr.""Und wie gefiel es dir?""Zuerst mochte ich es. Als ich meine Schwester verprügeln musste, das ...werde ich mir nie verzeihen. Von dem Tag an habe ich es gehasst."Earl Cassander blieb stehen und musterte ihn aus seinen stechend grünenAugen, während Mitreisende rechts und links an ihnen vorbeizogen. Als erschon dachte, dass sein neuer Herr ihn auf der Stelle fortschicken würde,wurde sein Gesichtsausdruck milde und er drückte seine Schulter. "Es ist nichtleicht, sich gegen die Mächtigen aufzulehnen, vor allem, wenn man Wert aufheile Knochen legt. Am Ende hast du die richtigen Entscheidungen getroffen.Dafür hast du meinen Respekt."Vor lauter Stolz über dieses Kompliment wurde Dempsey glatt ein Stückgrößer. "Danke ... auch dafür, dass Ihr Ada Vilburga die Stirn geboten habt.Wie Ihr ihr Kleid mit Wein und Sauce versaut habt, das war ... unvergesslich.Davon erzähle ich noch meinen Enkelkindern."Lachend schob der Earl ihn an. Seite an Seite gingen sie weiter, nunmehram Ende des Trosses."Es gibt noch etwas, das Ihr wissen solltet. Es ist aber nichts Nettes.""Immer raus damit.""Die Thys nennen Euch Krähen dreckige Halunken und behaupten, Ihrwürdet dem Knochenkönig huldigen. Euch schimpfen sie einen Brandstifterund Frauenräuber.""Autsch.""Die einfachen Leute in Thy und auf Brück-Über-Salz stehen auf EurerSeite. Sie kennen Geschichten von Euch und verehren Euch. Die wenigstenglauben den hohen Herrschaften." Dempsey breitete die Arme aus. "Das istalles. Ich weiß nicht mehr über die Thys, als das, was ich Euch erzählt habe,aber ich weiß, dass sie mich zu einem schlechten Menschen gemacht haben.""Du hat unsere Regeln gehört, aber eine Regel, die kennst du noch nicht.Egal, was du getan hast, bevor du die Regeln kanntest, wir geben dir einezweite Chance. Jetzt bist du einer von uns. Es kann nur besser werden." Seinneuer Herr war stehengeblieben, um ihm das zu sagen, und ging nun weiter,ein Lächeln um die Lippen.Dempsey schaute ihm einen Moment lang nach und fragte sich im Stillen,warum er überhaupt Angst vor ihm gehabt hatte.Er schloss zum Tross auf und gesellte sich zu seinen Kameraden, dachtewährend der langen Wanderung über all die Dinge nach, die bei denCrawfords so anders waren, als er es bei den Thys kennengelernt hatte. DieKrähen waren freundlich und obwohl sie Adlige waren, sprachen sie dieSprache der Commoners und kannten ihre Sorgen und Nöte. Jeder, nicht wieanderswo nur die Adligen, durfte hier heruwidische Amulette tragen und mitKnochenwürfeln spielen. Der Earl und Ada Zederin trugen sogar Ringe mitBernsteinen und einer der Ritter im Gefolge der Crawfords hieß Sir HarrenBernstein, was einem erhobenen Mittelfinger in Richtung Goldhomegleichkam. Alle durften ihre Meinung sagen und wurden dafür nicht bestraft,nein, der Earl wollte sogar wissen, was seinen Leuten nicht passte. Besonderserstaunlich fand Dempsey aber, dass Frauen wie Garhelt Soldatinnen waren.Ein Lächeln kroch in Dempseys Gesicht, während sich ein freudigesKribbeln in seiner Brust ausbreitete. Es bescherte ihm ein Gefühl vonLeichtigkeit.Fühlte sich so Freiheit an?Am Abend des zweiten Tages wurde der Regen so stark, dass sie noch weitvor Einbruch der Dunkelheit ihre Zelte aufschlagen und kampieren mussten.Dempsey beobachtete, wie die Rinnsale von den ledernen Regendächernhinabliefen und vor den Zelten Matschpfützen entstehen ließen. Er und seineneuen Kameraden rückten eng zusammen und warfen reichlich Holz insFeuer, damit es die Kälte aus den Knochen trieb. Bei jeder Rast spielteDempsey mit Sir Harren, Garhelt, Kinney, Hollis und Isa Würfel umKnochenmünzen und bei der Nachtwache verrieten sie einander kleineschmutzige Geheimnisse, um ihren Bund zu besiegeln.Trotz allem war die Stimmung gut, abgesehen vom Wissenden derCrawfords, der sich fortwährend über die Witterung und sein störrisches Pferdbeschwerte.Zur Nacht des dritten Reisetages erzählte Ada Rhona die heruwidischeLegende vom Opfer des Monds, und alle, die noch wach waren, lauschtengebannt. "Einst war der Mond genauso strahlend und warm wie die Sonne.Er schaute vom Himmel herab und sah, wie sich die Menschen ob derFährnisse des Schicksals quälten. Sie wussten von ihrer Sterblichkeit undtrugen tiefe Gefühle in ihren Herzen, aber sie waren ihnen nicht gewachsen.Beinahe verrückt vor Angst und Kummer hockten sie in ihren Höhlen undWäldern und zitterten und weinten. Raubte das grausame Schicksal ihnenwieder einmal die Kinder oder fegte ihre Hütten mit einem Sturm hinfort,zerkratzten sie sich vor lauter Gram die Augen und stürzten sich von einemhohen Felsen in den Tod.Der Mond hatte Mitleid mit den Menschen und beschloss, ihnen etwas zuschenken. Das einzige Geschenk aber, das er machen konnte, war sein Licht,das seine ganze Kraft barg.Er wusste, dieses Licht zu verschenken, wäre sein Ende, doch stärker als seinEigennutz war seine Liebe und so zündete er sich selbst an. So zerbarst derMond in einem gleißenden Licht, so hell, dass es selbst die Sonne überstrahlte,und dieses Licht ergoss sich in alles Lebendige. Der größte Teil seiner Kraftfloss in die Herzen der Menschen, aber sie fuhr auch ein in die Tiere undBäume, Farne und Flüsse, selbst in den kleinsten Käfer.Seit diesem Tag ist der Mond nur noch ein Abglanz seiner selbst, aber alles,was von seiner Kraft erfüllt ist, strahlt aus sich heraus. Wir können es an derWärme und dem Lebenswillen spüren, der den Menschen und Tieren zueigen ist und manche von uns spüren auch die Kraft im Wasser und in denWäldern.Durch das Opfer des Mondes wurden die Herzen der Menschen stark.Sie lernten einander zu lieben.Von neuem Lebenswillen erfüllt, krochen sie aus ihren Höhlen undWaldverstecken und wagten es endlich, dem Schicksal zu trotzen und ihmabzujagen, was ihnen zustand. Von nun an konnten sie sogar hin und wiederüber das Unheil lachen, das ihnen widerfuhr.Wenn ihnen das grausame Schicksal das Liebste nahm, fanden sie nuneinen Weg aus der Trauer, statt sich von einem hohen Felsen oder in einMesser zu stürzen, wie sie es früher immer getan hatten.Der Mond zeigte den Menschen, dass es weitergeht, so wie uns dieMondphasen noch heute und bis ans Ende der Zeit beweisen, dass auf jedesEnde ein neuer Anfang folgt, so wie nach jedem Neumond wieder die Sicheldes Neulichts vom Nachthimmel scheint.Und in Gedenken an sein großes Opfer zählen wir die Stunden des Tagesnach dem Mond und darum segnen wir einander in seinem Namen.Maha de manin.""Maha de manin", murmelten alle in der Runde."Samantan de manin, samantan de sternan, wolf", sagte Sir Harren.Der Ritter und die Crawfords lachten."Wie du willst, Harren. Dann erzähle ich auch noch von den Sternen. DieSterne sind Fetzen des Mondlichts, die das Schicksal berührten und ihmStücke entrissen. Mitsamt ihrer Beute flogen sie in den kalten Nachthimmelund froren dort fest.Manche aber wandeln weiter über den Himmel, weil sie noch nichtabgekühlt sind: Fuchs, Hase und Wolf, Geier und Adler, der Prophet und derWeise, Hammer und Flamme, die Münze und der Gast, die Greisin, dasSonnenkind und das Schattenkind. Die Sterne bergen Weisheiten über denLauf des Schicksals, die der Kundige aus ihnen lesen kann. Sie sind unsereVerbündeten und weisen uns den Weg.""Aber hütet euch, die Alte Kunst der Sterndeutung zu nutzen", mahnte SirHarren. "Das Schicksal schätzt es nicht, wenn man ihm in die Karten schaut."Die Menschen am Feuer nickten in stiller Zustimmung.Viele hatten Tränen in den Augen und hielten sich an einer Freundin,einem Bruder oder einem Geliebten fest, wie der Mond es ihnen beigebrachthatte.Dempsey schaute nach oben. Über seinem Kopf zogen die Wandelsterneihre geheimnisvollen Bahnen, zeichneten still die Geheimnisse des Schicksalsan den Himmel. Er wusste nicht, was das Schicksal ihm bringen würde, docher wusste, er hatte nun Freunde, die ihm beistehen würden.Die Wälder im Niemandsland zwischen Thy und Isenbork waren feucht, stillund zwielichtig, voller riesiger Nadelbäume, deren Stämme so dick waren, alstrügen sie den Himmel. Ihnen begegneten Holzfäller und wortkarge Köhler,die ihrem Tagewerk nachgingen. Sonst lebte hier keine Menschenseele.Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung. Etwas abseits des Wegs hockteeine Gruppe Frauen am Boden. Eine von ihnen bemerkte den Tross undwarnte die anderen. Hastig sammelten die Frauen etwas in ihre Schürzen undrannten dann ins Unterholz. Dort, wo sie gehockt hatten, lagen die Überresteeines Hirschs, von dem kaum mehr als das Geweih und ein paar Knochenübrig waren."Knochensammler", sagte Kinney und spuckte zur Seite. "Sie mahlen dieKnochen und streuen das Mehl in ihre Gärten. Sie glauben, dass dieFeldfrüchte damit besser gedeihen.""Der Knochenkönig sieht es nicht gern, wenn die Menschen nehmen, wasihm gehört", murmelte Sir Rutherford."So wird der Hirsch ein Wiedergänger." Garhelt umfasste das Amulett anihrem Hals, ein in Leder gewickelter Storchenknochen für eine sichereHeimkehr, wie sie ihm verraten hatte."Unsinn!", schimpfte Kinney. "Es gibt keine Wiedergänger. Das Schicksalwird die Frauen strafen. Das Schicksal holt sich immer, was ihm zusteht."Sie ließen die Überreste des Hirschs hinter sich und obwohl Dempsey wederan Wiedergänger glaubte noch glauben wollte, waren seine Sinne nun umsomehr auf den Wald gerichtet, der sich rechts und links des Wegs wie eineMauer aus Holz und Blattwerk auftürmte.Der Wald schwieg, der Wissende schimpfte über seine schmerzendenKnochen und der Regen fiel, bis auch die letzte Faser von DempseysUnterhose feucht war.Er konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als endlich BurgIsenwehr in Sicht kam.Der Aufstieg über zerklüftete Felsen bis hinauf zur Burg verlangte denerschöpften Pferden das letzte ihrer Kraft ab und auch die Menschenschleppten sich dahin.Als der Tross die Tore von Isenwehr erreichte, dampften die Tiere vorAnstrengung und die Soldaten japsten.Dempsey schaute an den gewaltigen Burgtoren und Mauern empor, überdenen runde Türme aufragten: Soweit er blicken konnte, war das Gemäuermit Eisen beschlagen, und der Rost lief, wie Blut über die Felsen, auf denendie Burg stand.Auf den Zinnen flatterte das Banner der Isenborks: die gekreuzten Waffenaus Gold über einem blauen Schild. Das waren typisch gylqarischeWappenfarben.Auf Brück-Über-Salz hatte Dempsey die Thys hinter vorgehaltener Handüber die Isenborks tuscheln hören. Seine ehemaligen Herren misstrautenihren gylqarischen Nachbarn und nannten sie Leichenanbeter.Im Heer der Thys herrschte sogar Angst, denn selbst wenn sie schonJahrhunderte zurücklagen, kannten alle die Geschichten von denSchlachtfeldwanderern, die die Isenborks gegen die Herwaz Thy undWittekint ins Feld geführt hatten. Und obwohl die letztenSchlachtfeldwanderer auf den Feldern vor Worthington gefallen waren,beteten die Soldaten der Thys zur Allmutter und flehten das Schicksal an, dasssie nicht für eine Grenzpatrouille am Gebiet der Isenborks eingeteilt wurden.Dempsey war weder abergläubisch noch ängstlich, doch beim Anblick derblutenden Mauern wurde ihm mulmig.Ein Ausfalltor öffnete sich und ein Herr in Blau und Gold trat hinaus. Ersprach kurz mit Adal Borden und verschwand dann wieder in der Burg.Eine Weile lang geschah nichts und Dempsey glaubte schon, sie seienabgewiesen worden.Dann aber ging ein Ruck durch die Eisentore von Isenwehr und mit einemmarkerschütternden Quietschen schwangen sie langsam auf.Dahinter eröffnete sich ein düsterer, von Regen und Dunst verhangenerBurghof. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Niemand nahm sie inEmpfang und auch der Mann in Blau und Gold war fort.Die Crawfords tauschten ratlose Blicke.Erst bei genauem Hinsehen entdeckte Dempsey die Gardisten auf denWehrgängen."Gefällt mir gar nicht", murmelte Kinney, der sie auch gesehen hatte."Wenn die Armbrüste haben, war´s das.""Warum sollten sie ...?""Hast du nicht zugehört?" Kinney verpasste ihm einen Klaps auf denHinterkopf. "Die Krähen sind Nachfahren der alten Schennehai. Sie und dieGylqar sind Blutsfeinde.""Erzähl nicht so einen Scheiß!", schimpfte Ada Rhona. "Das ist ewig her.Unsere Völker sind schon lange nicht mehr im Krieg.""Ist bloß die Frage, ob diese Rohrrim das auch so sehen", bemerkte AdaZederin."Die leben hier an der letzten Kreuzung", meinte Adal Borden. "Wie sollendie überhaupt wissen, von wem ihr abstammt?""Jetzt ist es eh zu spät, sich das zu überlegen." Earl Cassander stieg vomPferd und führte es in den Burghof, flankiert von Sir Welldren und SirRutherford.Nach wenigen Schritten blieb Earl Cassanders Stute stehen und scheute,ließ sich nur mit Mühe überreden, weiterzugehen.Adal Borden tauschte einen verwunderten Blick mit Ada Rhona, sie zucktemit den Schultern und folgte ihrem Vater. Nun setzte sich auch der übrigeTross in Bewegung. Langsam überquerten sie den Burghof und bei jedemSchritt rechnete Dempsey insgeheim damit, dass die Gardisten auf denWehrgängen sie aufs Korn nehmen würden.Nichts dergleichen geschah.Am gegenüberliegenden Ende des Hofs führten breite Treppenstufenhinauf zu einer dunklen Öffnung in einem mächtigen Steinbau. Sie sah aus,wie der Schlund eines Ungeheuers, dessen Leib die Burg war.Nacheinander durchschritten sie das Dunkel des Schlunds.Auf der anderen Seite nahm sie der Herr in Gold und Blau in Empfang. Erführte sie durch enge Flure, die im schummrigen Licht rußender Talglichterlagen. Je tiefer sie in den Bauch von Isenwehr eindrangen, umso kälter wurdees.Der Geruch von rohem Fleisch hing in der Luft.Sie betraten einen breiten Korridor, der auf eine doppelflügelige,eisenbewehrte Tür zuführte. Auf beiden Seiten des Korridors standen zweiReihen dunkler Gestalten Spalier.Zuerst wunderte sich Dempsey, dass diese Gardisten so groß und hagerwaren und sich nicht im Mindesten bewegten, doch als er dem ersten insGesicht schaute, verstand er: Diese Wächter waren tot.Ada Ashley blieb wie angewurzelt stehen und Adal Borden redete ihr gutzu, doch sie weigerte sich, weiterzugehen. Schließlich bestand die Lösungdarin, dass sie ihr Gesicht an seine Schulter drückte, und sich von ihm führenließ.Schweigend schritten sie an den wachsamen Mumien vorbei.Sie trugen goldbesetzten Brokat und goldene Rüstungen, waren außerdemmit Unmengen von Schmuck aus Gold und Bernstein behangen.Die Mumien waren enorm groß, jede von ihnen größer als der größteMensch, den er jemals gesehen hatte, dazu breit in den Schultern und Hüften.Ihre Schädel waren lang und grob, die Lippen über den Zähnen warenzurückgewichen. Sie starrten aus leeren Augenhöhlen, die toten Blicke böseund lauernd.Über die ausgedörrten Leiber spannte sich dunkle Haut wie Pergament unddarunter zeichneten sich eckige Knochen ab. Als wäre jede Mumie eineVerkörperung des Familienwappens, hielt sie Speer und Schwert vor der Brustgekreuzt.An sich waren die Mumien schon schaurig genug, doch sie alle hatten etwasUnmenschliches an sich. Dempsey sah Gebisse voller Reißzähne, Hörner, dieaus Ellbogen Schultern und Schädeln staken und abnorm große Hände.Er lief beinahe in Sir Welldren, der mitten im Gang stehengeblieben warund einen Mumienwächter anstarrte, der größer war als alle anderen. Aufseinem Rumpf saßen zwei Köpfe, ein sehr breiter, grobknochiger mittiefliegenden Augenhöhlen und ein kleiner, verdrehter, dessen Mund in einemstummen Schrei erstarrt war, sodass lauter kleine spitze Zähne zu sehenwaren.Jemand schob Dempsey an und er ging weiter.Die Wächter an der Pforte am Ende des Korridors waren lebendigeMänner aus Fleisch und Blut und selten hatte sich Dempsey so erleichtertgefühlt.Die Männer hoben die gekreuzten Waffen ließen sie in einen fensterlosenSaal eintreten, der von unzähligen Kerzen erhellt war.Hier atmete es sich gleich viel leichter und die Luft war warm und rochnach Leben.Vor Kopf einer langen Tafel saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne der alteEarl Dorqan, ein weißhaariger Mann in golddurchwirktem, schwarzemBrokat. Seine Augen lagen unter müden Lidern und er schien nicht zubemerken, dass jemand den Raum betrat.Zu seiner linken stand eine schöne Ada, die als Arlynn Isenbork vorgestelltwurde. Sie trug ein goldenes Diadem im wallenden braunen Haar, wieDempsey es sich bei einer Königin vorstellen würde.Zur Rechten des Earls stand ein junger Mann, dessen Haut und Haarvollkommen weiß waren und dessen Augen aussahen wie reines Glas. Er warEarl Dorqans Sohn und Erbe Alester. In seiner weißen Kleidung sah erunwirklich aus, wie fleischgewordener Nebel.Ein Stück hinter ihm hielt sich ein ungefähr gleichaltriger Mann mitbeunruhigend kräftigem Körperbau auf. Zuerst hielt Dempsey ihn für AlestersBruder, aber er war sein Sohn Gylmond.Auch er war gänzlich weiß.Als sich die Crawfords vorstellten, wurde der alte Earl lebendig. Er erhobsich und ging mit schleppenden Schritten am Tisch entlang, blieb vor denCrawfords stehen, der Atem rasselnd vor Anstrengung, und starrte sie derReihe nach aus trüben Augen an. Dabei zuckten seine Mundwinkel vorAbscheu und seine Nasenflügel blähten sich.Earl Cassander schaute dem Mann gelassen entgegen, aber Sir Welldrenbewegte die Finger wie Krallen."So begegnen sich die alten Völker wieder", sagte Earl Dorqan zwischenschweren Atemzügen. "Was bringt Ihr mit aus Eurem verfluchten Wald? Hassund Rache?""Wir kommen in friedlicher Absicht.""Shahviri, Cassanderen. Anavoloassaďnan", zischte Ada Zederin."Bahyarr", erwiderte Earl Cassander. "Sassenen ubainion."Der alte Herr von Isenwehr zog die Augenbrauen zusammen und ließ eintiefes Grollen hören. Unwillkürlich wanderte Dempseys Hand an denSchwertgriff, aber er griff ins Leere. Er hatte seine Waffe an der Pforte ablegenmüssen.Adal Borden trat vor. "Earl Dorqan, Euer Sohn Alester kennt unsCrawfords. Er wird Euch bestätigen, dass wir den Blick nach vorn gerichtethalten. Die Vergangenheit interessiert und nicht.""Ist das so, Sohn?""Es stimmt, Vater."Der alte Earl musterte seine Gäste mit abschätzigem Blick, dann machte ereine wegwerfende Handbewegung, drehte sich um und schlich wieder zuseinem Platz vor Kopf."Willkommen auf Isenbork, geschätzte Gäste", sagte Adal Alester. "Nutzenwir die Stunde für einen gütlichen Austausch." Der weiße Adal begrü.te dieFrauen mit Handkuss und die Männer mit Händedruck.Auch Dempsey reichte er die Hand und drückte mit einer Kraft zu, er demschmalen Adal niemals zugetraut hätte. Er hörte seine Knöchel knacken.Das also war ein gylqarischer Händedruck."Bitte setzt Euch", lud Adal Alester sie an ihre Plätze.In seinem Rücken tauschten die Crawfords entrüstete Blicke, während sie ihre schmerzenden Finger kneteten.
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