Um einer unglücklichen Liebe zu entkommen, verläßt Ece ihre Heimatstadt Istanbul und beginnt ein neues Leben in London. Doch beim Tellerwaschen in einem Grillrestaurant stürzen tausend Erinnerungen auf sie ein, schmerzliche, aber auch schöne. Ece erkennt: Für einen Neuanfang ist Vergessen viel, Erinnern alles.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2007Sie ist dann mal weg
Die Türkin in London: Esmahan Aykols moderne Scheherazade
Weggehen und neu anfangen - weit weg vom tyrannischen Vater, der anstrengenden Mutter und der jahrelangen Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann. Die junge Istanbulerin Ece trägt sich schon eine Weile mit dem Gedanken an einen Ausweg, der den Namen Flucht durchaus verdient hat. Bereits zum siebten Mal steckt sie in der Warteschleife für die Aufnahme an einer Universität, arbeitet nebenher als Buchhalterin und merkt jeden Tag mehr, dass alles in ihrem Leben stagniert. Als ihr Geliebter mit seiner Ehefrau ein zweites Kind bekommt, kann sie sich endlich von der Anziehung seiner leeren Versprechungen lösen und steigt in ein Flugzeug nach London, nicht ahnend, dass dort kaum weniger Probleme auf sie warten.
Bisher sind alle Frauen ihrer Familie nach ihrem Auszug zurückgekommen - die verheirateten, weil ihre Männer sie schlecht behandelten oder ins Gefängnis kamen; die anderen, weil sie für ihren Lebensunterhalt nicht aufkommen konnten. Ece will keine von ihnen sein. Wie ein Schutzengel wacht dabei ihr verstorbener Großvater über sie, der ihr unbeachtet vom Rest der Familie einen Haufen Geld hinterlassen hat und darüber hinaus die Erinnerung an eine liebevolle, enge Bindung, die sie mit ihren Eltern nie aufbauen konnte.
Die in Berlin und Istanbul lebende Autorin wurde mit ihren Kriminalgeschichten "Bakschisch" und "Hotel Bosporus" um die Hobbydetektivin Kati Hirschel bekannt. Mit "Goodbye Istanbul" schlägt sie eine ganz andere Richtung ein: weg vom Spannungsbogen, hin zum genussvollen Erzählen von Eindrücken, Gefühlen, Legenden. Die Beziehung Eces zum abgöttisch geliebten Großvater wird in Rückblenden geradezu zärtlich abgebildet: der erste gemeinsame Restaurantbesuch, bei dem er sie voller Stolz als seine Tochter ausgibt; all die Geschichten, die sich durch seine Erzählungen in ihrem Gedächtnis fest verankern; seine Religionskritik und seine Goldschmiedekunst, die Ece beeindrucken.
In London taucht die junge Türkin, die ihren Reichtum nicht nutzt, in das Immigrantenleben ein. Das komplizierte System von Lügen gegenüber den Familien zu Hause, gegenüber denen sich jeder Einzelne als erfolgreich darstellt, verwirrt sie ebenso wie die fremde Sprache, die Bürokratie und die teure Stadt. Liebeskummer und Trauer hat sie mitgebracht, und ihr wird klar: "Das Leben konnte für mich erst weitergehen, wenn ich mein Problem mit der Vergangenheit gelöst hatte." Sie beginnt als Tellerwäscherin und trifft zahlreiche Landsleute mit dem gleichen Dilemma: Beruflich und finanziell geht es ihnen schlechter als in der Heimat; aber sie können nicht zurück, weil sie ihre Familie nicht enttäuschen möchten. Ece will allerdings auch gar nicht zurück, sie will sich durchbeißen und den alten Schmerz vergessen. Zumindest die Stagnation kann sie besiegen, als sie sich in einen Italiener verliebt und ein Studium plant. Die Erinnerung an ihren Großvater hält sie aufrecht, indem sie einer Cousine die orientalischen Geschichten weitererzählt.
Esmahan Aykol teilt die Legenden wie Scheherazade auf und verbindet auf diese Weise eine unverkrampft aufgeschriebene Immigrantengeschichte mit orientalischer Geschichte. Es ist ihr ein hoffnungsvoller Roman gelungen, in dem die Schwierigkeiten nicht ausgeblendet, sondern vom festen Glauben an ein besseres Leben aufgefangen werden: Wenn man ganz unten ist, führt der Weg immer nur nach oben. Aber zuerst einmal muss man ihn suchen. Wie warmherzig und zugleich informativ Aykol diese Suche beschreibt, ist unbedingt lesenswert.
JULIA BÄHR
Esmahan Aykol: "Goodbye Istanbul". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Antje Bauer. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 354 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Türkin in London: Esmahan Aykols moderne Scheherazade
Weggehen und neu anfangen - weit weg vom tyrannischen Vater, der anstrengenden Mutter und der jahrelangen Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann. Die junge Istanbulerin Ece trägt sich schon eine Weile mit dem Gedanken an einen Ausweg, der den Namen Flucht durchaus verdient hat. Bereits zum siebten Mal steckt sie in der Warteschleife für die Aufnahme an einer Universität, arbeitet nebenher als Buchhalterin und merkt jeden Tag mehr, dass alles in ihrem Leben stagniert. Als ihr Geliebter mit seiner Ehefrau ein zweites Kind bekommt, kann sie sich endlich von der Anziehung seiner leeren Versprechungen lösen und steigt in ein Flugzeug nach London, nicht ahnend, dass dort kaum weniger Probleme auf sie warten.
Bisher sind alle Frauen ihrer Familie nach ihrem Auszug zurückgekommen - die verheirateten, weil ihre Männer sie schlecht behandelten oder ins Gefängnis kamen; die anderen, weil sie für ihren Lebensunterhalt nicht aufkommen konnten. Ece will keine von ihnen sein. Wie ein Schutzengel wacht dabei ihr verstorbener Großvater über sie, der ihr unbeachtet vom Rest der Familie einen Haufen Geld hinterlassen hat und darüber hinaus die Erinnerung an eine liebevolle, enge Bindung, die sie mit ihren Eltern nie aufbauen konnte.
Die in Berlin und Istanbul lebende Autorin wurde mit ihren Kriminalgeschichten "Bakschisch" und "Hotel Bosporus" um die Hobbydetektivin Kati Hirschel bekannt. Mit "Goodbye Istanbul" schlägt sie eine ganz andere Richtung ein: weg vom Spannungsbogen, hin zum genussvollen Erzählen von Eindrücken, Gefühlen, Legenden. Die Beziehung Eces zum abgöttisch geliebten Großvater wird in Rückblenden geradezu zärtlich abgebildet: der erste gemeinsame Restaurantbesuch, bei dem er sie voller Stolz als seine Tochter ausgibt; all die Geschichten, die sich durch seine Erzählungen in ihrem Gedächtnis fest verankern; seine Religionskritik und seine Goldschmiedekunst, die Ece beeindrucken.
In London taucht die junge Türkin, die ihren Reichtum nicht nutzt, in das Immigrantenleben ein. Das komplizierte System von Lügen gegenüber den Familien zu Hause, gegenüber denen sich jeder Einzelne als erfolgreich darstellt, verwirrt sie ebenso wie die fremde Sprache, die Bürokratie und die teure Stadt. Liebeskummer und Trauer hat sie mitgebracht, und ihr wird klar: "Das Leben konnte für mich erst weitergehen, wenn ich mein Problem mit der Vergangenheit gelöst hatte." Sie beginnt als Tellerwäscherin und trifft zahlreiche Landsleute mit dem gleichen Dilemma: Beruflich und finanziell geht es ihnen schlechter als in der Heimat; aber sie können nicht zurück, weil sie ihre Familie nicht enttäuschen möchten. Ece will allerdings auch gar nicht zurück, sie will sich durchbeißen und den alten Schmerz vergessen. Zumindest die Stagnation kann sie besiegen, als sie sich in einen Italiener verliebt und ein Studium plant. Die Erinnerung an ihren Großvater hält sie aufrecht, indem sie einer Cousine die orientalischen Geschichten weitererzählt.
Esmahan Aykol teilt die Legenden wie Scheherazade auf und verbindet auf diese Weise eine unverkrampft aufgeschriebene Immigrantengeschichte mit orientalischer Geschichte. Es ist ihr ein hoffnungsvoller Roman gelungen, in dem die Schwierigkeiten nicht ausgeblendet, sondern vom festen Glauben an ein besseres Leben aufgefangen werden: Wenn man ganz unten ist, führt der Weg immer nur nach oben. Aber zuerst einmal muss man ihn suchen. Wie warmherzig und zugleich informativ Aykol diese Suche beschreibt, ist unbedingt lesenswert.
JULIA BÄHR
Esmahan Aykol: "Goodbye Istanbul". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Antje Bauer. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 354 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Julia Bähr verleiht diesem Roman von Esmahan Aykol das Prädikat "Unbedingt lesenswert". Dass die Autorin sich mit diesem Text vom Spannungsbogen ihrer erfolgreichen Kriminalgeschichten löst und sich dem "genussvollen" Erzählen zuwendet, hat Bähr sichtlich gefallen. Die Warmherzigkeit, mit der Aykol Gefühle beschreibt und, "wie Scheherazade" Legenden aneinanderreiht, um ihre Immigrantengeschichte mit orientalischer Geschichte verschmelzen zu lassen, hat der Rezensentin Eindruck gemacht. Für Bähr ein "hoffnungsvoller" Roman, der die problematischen Verhältnisse dabei nicht ausblendet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Esmahan Aykol ist eine der erfolgreichsten türkischen Autorinnen ihrer Generation.« Susann Sitzler / Basler Zeitung Basler Zeitung