Wenn man die Stille zu Hause nicht mehr aushält, geht man in Gorbach auf ein Bier ins »Kippchen«. Oder zum Büdchen um die Ecke. Hier prallen sie aufeinander, am Rand der großen Stadt: Buchhalter, Lehrer, Musikerinnen, Schlachter, Junkies, Lkw-Fahrer, Polizistinnen. Es stellt sich die Frage, ob die Menschen den Ort machen, oder der Ort die Menschen. Der irre Ele, an seine Wohnung und den Rollstuhl gefesselt, erinnert sich an seine ruhmreiche Vergangenheit als stadtbekannter Kleinkrimineller. Filiz hat einen Mitschüler krankenhausreif geprügelt, weil der ihre Mutter beleidigt hat. Eine Radiomoderatorin schließt sich im Studio ein und rechnet on air mit ihrem Chef ab. Dass es zornig und laut zugeht, ist unvermeidlich. Zerbolesch aber findet die leisen und zartfühlenden Zwischentöne, erzählt von Empathie und Hoffnung zwischen Perspektivlosigkeit und alltäglicher Gewalt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Woher kommt die Wut, fragt sich Autor Hank Zerbolesch, dessen Geschichte über ein Stadtviertel und seine meist unzufriedenen Bewohner Rezensent Tilman Spreckelsen mit Gewinn liest. So geht es beispielsweise um einen Kleinkriminellen, der in einer wilden Verfolgungsjagd mit der Polizei schwer verletzt wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt, doch auch eine Familie, die Opfer von Brandstiftung geworden ist, kommt zu Wort - Zerbolesch nutzt Spreckelsen zufolge bewusst ambivalente Schilderungen und kommt mit dieser multiperspektivischen Herangehensweise zu differenzierten und bisweilen abgründigen Antworten auf die Frage, warum man in einem schwierigen Viertel wohnen bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2024Fortgehen, warum?
Hank Zerbolesch besucht einen Brennpunkt
Als die Moderatorin allein am Radiomikrofon in einer Livesendung plötzlich eine Pause überbrücken muss, erhält sie von ihren Kollegen durch die Glaswände der Studiokabine, in der sie sitzt, Handzeichen der Ermutigung - sie soll einfach weitersprechen. Was sie dann allerdings erzählt, nachdem sie die Tür zur Kabine von innen versperrt hat, lässt die Gesichtszüge der Kollegen entgleisen. Sie spricht über ihren Werdegang, ihre journalistischen Ideale und wie der Kurs des neuen Intendanten, den sie "Gandalf der Graue" nennt, auf Krawall setzt, um die Beteiligung der Hörer in Quote umzusetzen. Aus der vorgeblichen "Demokratisierung" des Rundfunkbetriebs, der zunehmenden Öffnung der Sendungen für Anrufer, die ihre Ressentiments pflegen, wütende Reaktionen bei anderen Hörern erzeugen und sich mit ihnen gegenseitig hochschaukeln, wird so das Spektakel, das sich die Werbekunden wünschen.
All das erzählt die Moderatorin, nun ihrerseits Dampf ablassend, ihren Hörern, während ihre Kollegen immer verzweifelter versuchen, sie zu stoppen. Dass sie ihrer Karriere gerade selbst ein Ende setzt, weiß sie wohl. In ihrer öffentlichen Analyse des Betriebs lässt sie sich dadurch nicht beirren. Sie gipfelt in dem Satz: "Und dann wundern sich die Leute, wo die ganze Wut herkommt."
Wo also kommt sie her? Der schmale Roman "Gorbach" von Hank Zerbolesch gibt einige Hinweise darauf, indem er eine Reihe von Geschichten erzählt, die über Schauplätze und Protagonisten offensichtlich oder diskret miteinander verbunden sind. Das beginnt in einer Kneipe namens Kippchen, in der zwei Gäste einem dritten die verwegenen Abenteuer einer lokalen Berühmtheit erzählen, die des "irren Ele", nicht ahnend, dass ihr im Rollstuhl sitzender Zuhörer ebenjener Kleinkriminelle ist. Dem bedeuten die Legenden, die sich um ihn ranken, auch deshalb so viel, weil sie mit seiner Wirklichkeit nichts zu tun haben. Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei kam es zu einem Unfall, durch den er die Kontrolle über einen großen Teil seines Körpers einbüßte. Die daran entscheidend beteiligte Polizistin aber besucht ihn seither zweimal wöchentlich. Und bricht dabei regelmäßig in Tränen aus.
Eine solche Empathie zeigen die meisten anderen Protagonisten des Romans nicht, jedenfalls ist ihnen der Impuls, sich im Mikrokosmos ihres Viertels behaupten zu müssen, wesentlich vertrauter. Indem Zerbolesch deren sich überlagernden Geschichten erzählt, skizziert er zugleich einen sozialen Brennpunkt, in dem sich bestimmte Regeln etabliert haben, an die sich alle zu halten versuchen, weil sie die Konsequenzen eines Ausbruchs jederzeit vor Augen haben. Im Kontrast dazu stehen Glücksmomente, von denen einzelne Bewohner des Viertels erzählen, von Reisen oder selten auch von gelungenen sozialen Strukturen, die dann zuverlässig von der bedrückenden Realität eingeholt werden: Der Buchhalter eines Clans wird der Unterschlagung verdächtigt und mitten in einer Unterhaltung, in der er in schönen Erinnerungen an seine verstorbene Frau schwelgt, auf offener Straße hingerichtet. Und eine Familie, die ein behütetes Weihnachten in einem Mehrfamilienhaus feiert, wird durch Brandstiftung jäh aus der Feier gerissen.
Zerbolesch wählt für seine Geschichten eine Vielzahl von Perspektiven, was, gerade wenn er die Täter lapidar erzählen lässt, nicht selten eine Zumutung darstellt. Dass er sich an der Realität orientiert, ist unübersehbar, und warum manche Viertel für Behördenvertreter nur schwer zugänglich sind, versteht man nach der Lektüre ein wenig besser. Dabei zeichnet der Autor seine Protagonisten ausdrücklich ambivalent, er lässt Mitgefühl und äußerste Brutalität nahe beieinander wohnen und ergründet mit Vorliebe den Punkt, an dem einer, der sich lange in diesem System bewegt hat, nicht mehr weiterkann und womöglich die Dienste eines Killers in Anspruch nimmt - nicht für seine Widersacher, sondern für sich selbst.
Warum aber gehen sie nicht fort? Diese Frage diskutieren am Ende des Romans auch eine Mutter und ihre Tochter, womit sich der Bogen zum Anfang schließt. Die Polizistin, die eine Mitschuld am Schicksal des "irren Ele" trägt, weist ihre Mutter schockiert auf die Gewalt und den Drogenhandel vor ihrem Fenster hin. Halb so schlimm, antwortet ihre Mutter, "da gewöhnt man sich dran". Das dürfe man aber nicht, erwidert die Tochter, sich daran gewöhnen, und warum sie nicht wegzöge wie andere? Das Viertel habe ihr einst den Halt gegeben, den sie nirgends sonst gefunden habe, sagt die Mutter, darum bleibe sie hier. Die Antwort ist abgründiger, als es zunächst scheint. TILMAN SPRECKELSEN
Hank Zerbolesch: "Gorbach". Roman.
Steidl Verlag,
Göttingen 2024.
192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Hank Zerbolesch besucht einen Brennpunkt
Als die Moderatorin allein am Radiomikrofon in einer Livesendung plötzlich eine Pause überbrücken muss, erhält sie von ihren Kollegen durch die Glaswände der Studiokabine, in der sie sitzt, Handzeichen der Ermutigung - sie soll einfach weitersprechen. Was sie dann allerdings erzählt, nachdem sie die Tür zur Kabine von innen versperrt hat, lässt die Gesichtszüge der Kollegen entgleisen. Sie spricht über ihren Werdegang, ihre journalistischen Ideale und wie der Kurs des neuen Intendanten, den sie "Gandalf der Graue" nennt, auf Krawall setzt, um die Beteiligung der Hörer in Quote umzusetzen. Aus der vorgeblichen "Demokratisierung" des Rundfunkbetriebs, der zunehmenden Öffnung der Sendungen für Anrufer, die ihre Ressentiments pflegen, wütende Reaktionen bei anderen Hörern erzeugen und sich mit ihnen gegenseitig hochschaukeln, wird so das Spektakel, das sich die Werbekunden wünschen.
All das erzählt die Moderatorin, nun ihrerseits Dampf ablassend, ihren Hörern, während ihre Kollegen immer verzweifelter versuchen, sie zu stoppen. Dass sie ihrer Karriere gerade selbst ein Ende setzt, weiß sie wohl. In ihrer öffentlichen Analyse des Betriebs lässt sie sich dadurch nicht beirren. Sie gipfelt in dem Satz: "Und dann wundern sich die Leute, wo die ganze Wut herkommt."
Wo also kommt sie her? Der schmale Roman "Gorbach" von Hank Zerbolesch gibt einige Hinweise darauf, indem er eine Reihe von Geschichten erzählt, die über Schauplätze und Protagonisten offensichtlich oder diskret miteinander verbunden sind. Das beginnt in einer Kneipe namens Kippchen, in der zwei Gäste einem dritten die verwegenen Abenteuer einer lokalen Berühmtheit erzählen, die des "irren Ele", nicht ahnend, dass ihr im Rollstuhl sitzender Zuhörer ebenjener Kleinkriminelle ist. Dem bedeuten die Legenden, die sich um ihn ranken, auch deshalb so viel, weil sie mit seiner Wirklichkeit nichts zu tun haben. Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei kam es zu einem Unfall, durch den er die Kontrolle über einen großen Teil seines Körpers einbüßte. Die daran entscheidend beteiligte Polizistin aber besucht ihn seither zweimal wöchentlich. Und bricht dabei regelmäßig in Tränen aus.
Eine solche Empathie zeigen die meisten anderen Protagonisten des Romans nicht, jedenfalls ist ihnen der Impuls, sich im Mikrokosmos ihres Viertels behaupten zu müssen, wesentlich vertrauter. Indem Zerbolesch deren sich überlagernden Geschichten erzählt, skizziert er zugleich einen sozialen Brennpunkt, in dem sich bestimmte Regeln etabliert haben, an die sich alle zu halten versuchen, weil sie die Konsequenzen eines Ausbruchs jederzeit vor Augen haben. Im Kontrast dazu stehen Glücksmomente, von denen einzelne Bewohner des Viertels erzählen, von Reisen oder selten auch von gelungenen sozialen Strukturen, die dann zuverlässig von der bedrückenden Realität eingeholt werden: Der Buchhalter eines Clans wird der Unterschlagung verdächtigt und mitten in einer Unterhaltung, in der er in schönen Erinnerungen an seine verstorbene Frau schwelgt, auf offener Straße hingerichtet. Und eine Familie, die ein behütetes Weihnachten in einem Mehrfamilienhaus feiert, wird durch Brandstiftung jäh aus der Feier gerissen.
Zerbolesch wählt für seine Geschichten eine Vielzahl von Perspektiven, was, gerade wenn er die Täter lapidar erzählen lässt, nicht selten eine Zumutung darstellt. Dass er sich an der Realität orientiert, ist unübersehbar, und warum manche Viertel für Behördenvertreter nur schwer zugänglich sind, versteht man nach der Lektüre ein wenig besser. Dabei zeichnet der Autor seine Protagonisten ausdrücklich ambivalent, er lässt Mitgefühl und äußerste Brutalität nahe beieinander wohnen und ergründet mit Vorliebe den Punkt, an dem einer, der sich lange in diesem System bewegt hat, nicht mehr weiterkann und womöglich die Dienste eines Killers in Anspruch nimmt - nicht für seine Widersacher, sondern für sich selbst.
Warum aber gehen sie nicht fort? Diese Frage diskutieren am Ende des Romans auch eine Mutter und ihre Tochter, womit sich der Bogen zum Anfang schließt. Die Polizistin, die eine Mitschuld am Schicksal des "irren Ele" trägt, weist ihre Mutter schockiert auf die Gewalt und den Drogenhandel vor ihrem Fenster hin. Halb so schlimm, antwortet ihre Mutter, "da gewöhnt man sich dran". Das dürfe man aber nicht, erwidert die Tochter, sich daran gewöhnen, und warum sie nicht wegzöge wie andere? Das Viertel habe ihr einst den Halt gegeben, den sie nirgends sonst gefunden habe, sagt die Mutter, darum bleibe sie hier. Die Antwort ist abgründiger, als es zunächst scheint. TILMAN SPRECKELSEN
Hank Zerbolesch: "Gorbach". Roman.
Steidl Verlag,
Göttingen 2024.
192 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.