Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2003Moskaus Übergangsführung
Helden oder Versager? Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und die zivilen Freiheiten in Rußland
George W. Breslauer: Gorbachev and Yeltsin as Leaders. Cambridge University Press, Cambridge 2002. 331 Seiten, 15,95 £.
In Rußland hat sich allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz ein Wandel in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen, der, sieht man von den drei baltischen Republiken ab, seinesgleichen in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach wie vor sucht. Es ist dies vornehmlich das Verdienst zweier Männer, die sich bislang zumeist entweder als Helden oder aber als Versager dargestellt sahen, die beide aus provinziellen, bäuerlichen Verhältnissen kamen, Energie und Selbstvertrauen im Übermaß besaßen, sich in ihrer persönlichen und politischen Vorgehensweise aber gravierend voneinander unterschieden.
Michail Gorbatschow blieb bei allem Mut zu reformerischen Experimenten ein Mann des Apparats, der schon früh der Kommunistischen Partei beigetreten war und diese bis zuletzt als Teil des staatstragenden Fundaments zu erhalten trachtete. Es gab nichts in seiner Biographie, was ihn als Rebell ausgewiesen hätte. Boris Jelzin hingegen, der zwar ebensowenig wie Gorbatschow den Untergang der Sowjetunion wollte, war als Mann des Übergangs der entschlossenere Systemveränderer, der das Risiko nicht nur nicht scheute, sondern es geradezu suchte und sich in seinem Kampf gegen ebendiese Kommunistische Partei und die Privilegien ihrer Nomenklatura mit seinem anfänglichen Förderer alsbald bis zur Unversöhnlichkeit überwarf. Und es wird wohl immer eine offene Frage bleiben, ob der Gang der sowjetischen und russischen Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre es nicht zu dem tiefen Zerwürfnis zwischen Gorbatschow und Jelzin gekommen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Breslauer wägt Erfolge und Unzulänglichkeiten dieser beiden Übergangsherrscher sorgfältig ab, untersucht ihre Führungsqualitäten und ihre Strategien, geht den oft widersprüchlichen Bewertungen der epochalen Vorgänge in den Jahren von 1985 bis 2000 akribisch nach und kommt zu dem Schluß, der letzte Präsident der Sowjetunion und der erste frei gewählte Präsident Rußlands hätten sich mehr als Systemzerstörer denn als Schöpfer neuer Institutionen politischer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Art hervorgetan.
Allerdings hatten es beide mit den Zwängen und Unwägbarkeiten einer Hinterlassenschaft zu tun, die Breslauer nach vorausgegangener Beschäftigung mit dem Wirken anderer Kremlherren in eine gleichsam folgerichtige oder doch zumindest einleuchtende zeitgeschichtliche Perspektive rückt. Er schlägt einen Bogen von Chruschtschows erratischen Reformversuchen über Breschnews Stagnationsregime zu Gorbatschows Perestrojka und Jelzins Debüt als erster postsowjetischer Hausherr des Kreml. Dadurch wird nicht nur politisch, sondern auch menschlich manches begreiflicher an den bislang noch stets wiederkehrenden Zeiten der Wirren auch in der jüngeren russischen Geschichte.
Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er Gorbatschow bedeutsame Leistungen bei der politischen Demokratisierung Rußlands bescheinigt und dessen gleichzeitiges Bemühen um eine "Entmilitarisierung" der internationalen Beziehungen, von der vor allem Europa profitieren sollte, bahnbrechend nennt. Breslauer ruft ebenso anerkennend Jelzins "größte Stunde" in Erinnerung, als dieser sich im August 1991 auf einem Panzer in Moskau dem Putschversuch restaurativer Kräfte entgegenstellte. Was beide hingegen unterschätzten oder sträflich vernachlässigten, waren die Virulenz der sogenannten Nationalitätenfrage, die Notwendigkeit konsequenter Wirtschaftsreformen und der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Gorbatschow strebte danach, das marxistisch-leninistische System in eine "sozialistische Demokratie" zu transformieren. Jelzin aber wurde zu einem antikommunistischen Revolutionär, der auch das zunichte machen wollte, was Gorbatschow im Namen des Sozialismus und der "Sowjetzivilisation" zu bewahren suchte. Um einen Rückfall in den Kommunismus zu verhindern, ging er allerdings fragwürdige Wege, indem er eine neue Klasse von Eigentümern förderte: Jelzin ließ es zu, daß Staatsbesitz zu Schleuderpreisen in den Privatbesitz hemmungsloser Oligarchen gelangte, und wurde somit zum Gründer einer "kleptokratischen und gleichwohl kapitalistischen Wirtschaft".
So wie Gorbatschow nach dem Putschversuch gegen ihn machtpolitisch ausgespielt hatte, so konnte sich der zu jener Zeit um so populärere Jelzin schon wenig später nach mißlungener wirtschaftlicher "Schocktherapie" ebenfalls kaum noch Chancen auf eine Wiederwahl ausrechnen. Zunehmend von Krankheit, Trunksucht und Depressionen heimgesucht, trat er 1994 - wie Breslauer darlegt - die Flucht nach vorn an. Um den starken Mann hervorzukehren, befahl Jelzin den militärischen Einmarsch in die Kaukasus-Republik der nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenen. Doch nicht nur der erste Tschetschenien-Krieg war vornehmlich politischem Kalkül zuzuschreiben. Nach Meinung des Autors galt das auch für den zweiten, 1999 begonnenen und immer noch andauernden Tschetschenien-Krieg - nunmehr mit dem Ziel, Putin als Nachfolger Jelzins an die Macht zu bringen.
Summa summarum aber hielt Jelzin an den zivilen Freiheiten fest, wie sie von Gorbatschow eingeführt worden waren. Er widerstand auch in Zeiten größter Bedrängnis der Versuchung, in einen sowjetischen Herrschaftsstil zurückzufallen, wie er in den meisten anderen Nachfolgestaaten des östlichen Imperiums immer noch ausgeübt wird. Ob sich Rußland davon auch unter Putin weiterhin vorteilhaft abheben wird, steht freilich dahin.
WERNER ADAM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Helden oder Versager? Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und die zivilen Freiheiten in Rußland
George W. Breslauer: Gorbachev and Yeltsin as Leaders. Cambridge University Press, Cambridge 2002. 331 Seiten, 15,95 £.
In Rußland hat sich allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz ein Wandel in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen, der, sieht man von den drei baltischen Republiken ab, seinesgleichen in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach wie vor sucht. Es ist dies vornehmlich das Verdienst zweier Männer, die sich bislang zumeist entweder als Helden oder aber als Versager dargestellt sahen, die beide aus provinziellen, bäuerlichen Verhältnissen kamen, Energie und Selbstvertrauen im Übermaß besaßen, sich in ihrer persönlichen und politischen Vorgehensweise aber gravierend voneinander unterschieden.
Michail Gorbatschow blieb bei allem Mut zu reformerischen Experimenten ein Mann des Apparats, der schon früh der Kommunistischen Partei beigetreten war und diese bis zuletzt als Teil des staatstragenden Fundaments zu erhalten trachtete. Es gab nichts in seiner Biographie, was ihn als Rebell ausgewiesen hätte. Boris Jelzin hingegen, der zwar ebensowenig wie Gorbatschow den Untergang der Sowjetunion wollte, war als Mann des Übergangs der entschlossenere Systemveränderer, der das Risiko nicht nur nicht scheute, sondern es geradezu suchte und sich in seinem Kampf gegen ebendiese Kommunistische Partei und die Privilegien ihrer Nomenklatura mit seinem anfänglichen Förderer alsbald bis zur Unversöhnlichkeit überwarf. Und es wird wohl immer eine offene Frage bleiben, ob der Gang der sowjetischen und russischen Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre es nicht zu dem tiefen Zerwürfnis zwischen Gorbatschow und Jelzin gekommen.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Breslauer wägt Erfolge und Unzulänglichkeiten dieser beiden Übergangsherrscher sorgfältig ab, untersucht ihre Führungsqualitäten und ihre Strategien, geht den oft widersprüchlichen Bewertungen der epochalen Vorgänge in den Jahren von 1985 bis 2000 akribisch nach und kommt zu dem Schluß, der letzte Präsident der Sowjetunion und der erste frei gewählte Präsident Rußlands hätten sich mehr als Systemzerstörer denn als Schöpfer neuer Institutionen politischer, wirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Art hervorgetan.
Allerdings hatten es beide mit den Zwängen und Unwägbarkeiten einer Hinterlassenschaft zu tun, die Breslauer nach vorausgegangener Beschäftigung mit dem Wirken anderer Kremlherren in eine gleichsam folgerichtige oder doch zumindest einleuchtende zeitgeschichtliche Perspektive rückt. Er schlägt einen Bogen von Chruschtschows erratischen Reformversuchen über Breschnews Stagnationsregime zu Gorbatschows Perestrojka und Jelzins Debüt als erster postsowjetischer Hausherr des Kreml. Dadurch wird nicht nur politisch, sondern auch menschlich manches begreiflicher an den bislang noch stets wiederkehrenden Zeiten der Wirren auch in der jüngeren russischen Geschichte.
Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er Gorbatschow bedeutsame Leistungen bei der politischen Demokratisierung Rußlands bescheinigt und dessen gleichzeitiges Bemühen um eine "Entmilitarisierung" der internationalen Beziehungen, von der vor allem Europa profitieren sollte, bahnbrechend nennt. Breslauer ruft ebenso anerkennend Jelzins "größte Stunde" in Erinnerung, als dieser sich im August 1991 auf einem Panzer in Moskau dem Putschversuch restaurativer Kräfte entgegenstellte. Was beide hingegen unterschätzten oder sträflich vernachlässigten, waren die Virulenz der sogenannten Nationalitätenfrage, die Notwendigkeit konsequenter Wirtschaftsreformen und der Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Gorbatschow strebte danach, das marxistisch-leninistische System in eine "sozialistische Demokratie" zu transformieren. Jelzin aber wurde zu einem antikommunistischen Revolutionär, der auch das zunichte machen wollte, was Gorbatschow im Namen des Sozialismus und der "Sowjetzivilisation" zu bewahren suchte. Um einen Rückfall in den Kommunismus zu verhindern, ging er allerdings fragwürdige Wege, indem er eine neue Klasse von Eigentümern förderte: Jelzin ließ es zu, daß Staatsbesitz zu Schleuderpreisen in den Privatbesitz hemmungsloser Oligarchen gelangte, und wurde somit zum Gründer einer "kleptokratischen und gleichwohl kapitalistischen Wirtschaft".
So wie Gorbatschow nach dem Putschversuch gegen ihn machtpolitisch ausgespielt hatte, so konnte sich der zu jener Zeit um so populärere Jelzin schon wenig später nach mißlungener wirtschaftlicher "Schocktherapie" ebenfalls kaum noch Chancen auf eine Wiederwahl ausrechnen. Zunehmend von Krankheit, Trunksucht und Depressionen heimgesucht, trat er 1994 - wie Breslauer darlegt - die Flucht nach vorn an. Um den starken Mann hervorzukehren, befahl Jelzin den militärischen Einmarsch in die Kaukasus-Republik der nach Unabhängigkeit strebenden Tschetschenen. Doch nicht nur der erste Tschetschenien-Krieg war vornehmlich politischem Kalkül zuzuschreiben. Nach Meinung des Autors galt das auch für den zweiten, 1999 begonnenen und immer noch andauernden Tschetschenien-Krieg - nunmehr mit dem Ziel, Putin als Nachfolger Jelzins an die Macht zu bringen.
Summa summarum aber hielt Jelzin an den zivilen Freiheiten fest, wie sie von Gorbatschow eingeführt worden waren. Er widerstand auch in Zeiten größter Bedrängnis der Versuchung, in einen sowjetischen Herrschaftsstil zurückzufallen, wie er in den meisten anderen Nachfolgestaaten des östlichen Imperiums immer noch ausgeübt wird. Ob sich Rußland davon auch unter Putin weiterhin vorteilhaft abheben wird, steht freilich dahin.
WERNER ADAM
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'George Breslauer's Gorbachev and Yeltsin as Leaders is the most insightful analysis of recent Russian statecraft yet to appear. Unlike many scholars who treat Gorbachev and Yeltsin as either heroes or failures, Breslauer carefully balances their successes and their shortcomings, examines conflicting interpretations of events, and offers a fascinating comparison of their respective styles of leadership. The book is a landmark in the study of political leadership and of Russian politics. It cannot be ignored by anyone seriously interested in present-day Russia.' Jack F. Matlock, Jr, Princeton University (Former US Ambassador to the Soviet Union)