»Eindrucksvoll und berührend.« ZDF aspekteAmal und Hammoudi sind jung, schön und privilegiert, und sie glauben an die Revolution in ihrem Land. Doch plötzlich verlieren sie alles und müssen ums Überleben kämpfen. Sie fliehen. Ein erschütterndes, direktes und unvergessliches Buch."Amal schaut den Frauen auf der Straße nach. Plötzlich wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr dazugehört. Niemand beachtet sie mehr. Wo ist ihr Haus? Ihre Karriere? Und ihre Straße, die immer nach Jasmin roch? Wo sind ihre Bücher und Schallplatten? Wo die Freunde und Verwandten? Die Partys und der Sommer vor dem Pool?Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist in jedem Atemzug spürbar."
buecher-magazin.deHammoudi ist ein junger Syrer, gebildet und wohlhabend. In Paris hat er gerade seine Facharztausbildung abgeschlossen, als sein Pass abläuft. Er fliegt nach Syrien, um ihn verlängern zu lassen. Doch die Papiere werden ihm verweigert. In den Wirren der Aufstände von 2011 gegen das Assad-Regime geriet er unter Verdacht, ein Oppositioneller zu sein. Er wird schikaniert, bekommt keine Arbeitserlaubnis und versinkt in Untätigkeit und Verzweiflung. Parallel dazu verfolgt die Erzählerin das Schicksal von Amal, einer jungen Schauspielerin aus vermögenden damaszener Verhältnissen. Sie hat es satt, in einem Polizeistaat zu leben und beteiligt sich an Demonstrationen für die Demokratie. Hautnah und sehr einfühlsam verfolgt die junge deutschsprachige Autorin aus Aserbaidschan das Geschehen. Sie vermittelt das Gefühl der Ohnmacht in einem Bürgerkrieg, in dem sich immer mehr Interessengruppen zu radikalen Fronten verhärten. Beide Protagonisten begleitet sie auf der Flucht nach Deutschland, wo sie völlig mittellos ankommen. Sie liefert die mögliche Vorgeschichte zu den anonymen Gesichtern in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen. Das Gefühl der Entfremdung im eigenen Land sowie des Fremdseins in der Ferne beschreibt sie authentisch, ohne zu werten oder politisch zu analysieren.
© BÜCHERmagazin, Nicole Trötzer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2017Die Wirklichkeit ist ein grausamer Thriller
Olga Grjasnowas Roman "Gott ist nicht schüchtern" erzählt davon, was der Bürgerkrieg in Syrien mit ganz normalen Leben macht
Die Sommerlektüre ist eine strittige Angelegenheit. Da gibt es jene, die meinen, sie solle leicht sein, ein Krimi, was fürs Herz - damit nicht nur der Körper, sondern auch der Geist in den Energiesparmodus gehen kann. Andere bevorzugen Klassiker, die gar nicht dick genug sein können. Hat man ja sonst nie Zeit zu; und dann behält man bei "Krieg und Frieden" endlich mal den Überblick.
In jedem Fall soll die Sommerlektüre Ablenkung sein: Ob man nun am Strand oder auf dem Balkon vor sich hin brutzelt, Alltag und aktuelle Weltprobleme bleiben am besten in weiter Ferne. Nach diesen Maßstäben betrachtet ist der neue Roman von Olga Grjasnowa, "Gott ist nicht schüchtern", ein katastrophales Urlaubsbuch - weil man nach der Lektüre ziemlich viel nachdenken muss: über das eigene Leben und die Welt um einen herum.
Die Protagonisten, Amal und Hammoudi, zwei junge Menschen aus Syrien, führen ein ganz normales Leben. Amal besucht die Schauspielschule in Damaskus, sie genießt ihre Jugend, geht aus, hat Affären. Hammoudi lebt seit Jahren im Ausland, nach seinem Medizinstudium nimmt er eine Stelle in einem Pariser Krankenhaus an. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges verändert sich ihrer beider Leben jedoch schlagartig.
Amal gerät ins Visier des Geheimdienstes, Hammoudi, der nach Syrien gereist ist, um seinen Pass zu verlängern, wird seine Arbeit in Paris niemals antreten. Grjasnowa erzählt so spannend und rasant, dass sich der Roman zeitweise liest wie ein Thriller.
Bloß handelt er nicht von Geheimagenten oder lässigen Gangsterbossen, sondern von einem Krieg, der in diesem Moment tatsächlich stattfindet. "Gott ist nicht schüchtern" ist ein Roman, doch er erzählt von der Wirklichkeit. Und dass die besser kein Thriller sein sollte, lässt Grjasnowa ihre Leser nicht vergessen.
Das Buch erzählt von privilegierten Syrern - was einerseits gut ist. Amal und Hammoudi führen ein so freies und unbeschwertes Leben, dass man unwillkürlich vergleichen und sich fragen muss: Was, wenn das hier passieren würde?, was - natürlich - unvorstellbar wäre. Genau wie dieser Krieg ja auch in Syrien lange Zeit unvorstellbar war. Andererseits entsteht durch die Wahl der Protagonisten manchmal der Eindruck, es sei irgendwie schlimmer, vom Krieg getroffen zu werden, wenn man vorher privilegiert war und (scheinbar) keine nennenswerten Probleme hatte.
Doch zeigt Grjasnowa auch, dass die Dinge, die man am meisten vermisst, nichts mit gesellschaftlichem Status zu tun haben. Es gibt eine Szene, da träumt Hammoudi davon, mit seiner französischen Freundin Claire an einem verregneten Tag am Küchentisch zu sitzen. Obwohl in dieser Szene keine Bomben, keine Gewalt vorkommen, sind es solche Beschreibungen, die beim Lesen am meisten treffen. Weil man weiß: Es wird nie wieder so sein. Wenn Amal auf einmal keinen Freundeskreis mehr hat, niemanden, der sie auf der Straße erkennt, und sie zum Teil einer namenlosen Masse geworden ist, dann bleibt das so im Kopf, dass man mit anderem Blick durch die Straßen geht.
Wenngleich viele Bilder und Formulierungen nicht neu sind, ist es doch eigentlich das, was ein Roman erreichen sollte: dass man die Welt nach dem Lesen anders betrachtet. Wann, wenn nicht im Urlaub, könnte man sich dafür die nötige Zeit nehmen?
Anna Vollmer
Olga Grjasnowa: "Gott ist nicht schüchtern". Roman. Aufbau, 309 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Olga Grjasnowas Roman "Gott ist nicht schüchtern" erzählt davon, was der Bürgerkrieg in Syrien mit ganz normalen Leben macht
Die Sommerlektüre ist eine strittige Angelegenheit. Da gibt es jene, die meinen, sie solle leicht sein, ein Krimi, was fürs Herz - damit nicht nur der Körper, sondern auch der Geist in den Energiesparmodus gehen kann. Andere bevorzugen Klassiker, die gar nicht dick genug sein können. Hat man ja sonst nie Zeit zu; und dann behält man bei "Krieg und Frieden" endlich mal den Überblick.
In jedem Fall soll die Sommerlektüre Ablenkung sein: Ob man nun am Strand oder auf dem Balkon vor sich hin brutzelt, Alltag und aktuelle Weltprobleme bleiben am besten in weiter Ferne. Nach diesen Maßstäben betrachtet ist der neue Roman von Olga Grjasnowa, "Gott ist nicht schüchtern", ein katastrophales Urlaubsbuch - weil man nach der Lektüre ziemlich viel nachdenken muss: über das eigene Leben und die Welt um einen herum.
Die Protagonisten, Amal und Hammoudi, zwei junge Menschen aus Syrien, führen ein ganz normales Leben. Amal besucht die Schauspielschule in Damaskus, sie genießt ihre Jugend, geht aus, hat Affären. Hammoudi lebt seit Jahren im Ausland, nach seinem Medizinstudium nimmt er eine Stelle in einem Pariser Krankenhaus an. Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges verändert sich ihrer beider Leben jedoch schlagartig.
Amal gerät ins Visier des Geheimdienstes, Hammoudi, der nach Syrien gereist ist, um seinen Pass zu verlängern, wird seine Arbeit in Paris niemals antreten. Grjasnowa erzählt so spannend und rasant, dass sich der Roman zeitweise liest wie ein Thriller.
Bloß handelt er nicht von Geheimagenten oder lässigen Gangsterbossen, sondern von einem Krieg, der in diesem Moment tatsächlich stattfindet. "Gott ist nicht schüchtern" ist ein Roman, doch er erzählt von der Wirklichkeit. Und dass die besser kein Thriller sein sollte, lässt Grjasnowa ihre Leser nicht vergessen.
Das Buch erzählt von privilegierten Syrern - was einerseits gut ist. Amal und Hammoudi führen ein so freies und unbeschwertes Leben, dass man unwillkürlich vergleichen und sich fragen muss: Was, wenn das hier passieren würde?, was - natürlich - unvorstellbar wäre. Genau wie dieser Krieg ja auch in Syrien lange Zeit unvorstellbar war. Andererseits entsteht durch die Wahl der Protagonisten manchmal der Eindruck, es sei irgendwie schlimmer, vom Krieg getroffen zu werden, wenn man vorher privilegiert war und (scheinbar) keine nennenswerten Probleme hatte.
Doch zeigt Grjasnowa auch, dass die Dinge, die man am meisten vermisst, nichts mit gesellschaftlichem Status zu tun haben. Es gibt eine Szene, da träumt Hammoudi davon, mit seiner französischen Freundin Claire an einem verregneten Tag am Küchentisch zu sitzen. Obwohl in dieser Szene keine Bomben, keine Gewalt vorkommen, sind es solche Beschreibungen, die beim Lesen am meisten treffen. Weil man weiß: Es wird nie wieder so sein. Wenn Amal auf einmal keinen Freundeskreis mehr hat, niemanden, der sie auf der Straße erkennt, und sie zum Teil einer namenlosen Masse geworden ist, dann bleibt das so im Kopf, dass man mit anderem Blick durch die Straßen geht.
Wenngleich viele Bilder und Formulierungen nicht neu sind, ist es doch eigentlich das, was ein Roman erreichen sollte: dass man die Welt nach dem Lesen anders betrachtet. Wann, wenn nicht im Urlaub, könnte man sich dafür die nötige Zeit nehmen?
Anna Vollmer
Olga Grjasnowa: "Gott ist nicht schüchtern". Roman. Aufbau, 309 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Frauke Meyer-Gosau rütteln die beiden von Olga Grjasnowa erzählten Lebensgeschichten auf. Wie zwei aussichtsreiche Biografien im Arabischen Frühling völlig neu sortiert werden, wie Gewalt und Grausamkeit die privilegierten Protagonisten urplötzlich einholen und in die Flucht nach Berlin treiben, vermittelt die Autorin laut Rezensentin mit "erstaunlicher" Kenntnis des Alltags der syrischen Oberklasse vor Ausbruch des Bürgerkriegs sowie unter Bewältigung großer Stoffmassen. Dass die Biografien im Buch eine so große Wucht entwickeln, ist für Meyer-Gosau Ausweis der literarischen Meisterschaft der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2017Sturz ins Nichts
In ihrem Roman „Gott ist nicht schüchtern“ erzählt Olga Grjasnowa von drei jungen Leuten, die dem Krieg in Syrien entfliehen
Sie sind jung, sie sind erfolgreich, sie sind schön und privilegiert. Die Schauspielerin Amal hat ihr Diplom noch nicht in der Tasche, da spielt sie bereits die Hauptrolle in einer TV-Serie und erhält dafür 20 000 Euro in bar auf die Hand. Es kann für sie in den kommenden Jahren nur weiter steil nach oben gehen. Der Arzt Hammoudi wiederum hat in Paris als Zweitbester seines Jahrgangs den Abschluss als Spezialist für plastische Chirurgie gemacht (beste Absolventin war seine jüdische Freundin Claire), und auch er erhält sofort eine Anstellung, an einem erstklassigen Pariser Krankenhaus. Auch seine Zukunft scheint aufs Beste gesichert. Wenn nicht in beiden Fällen die Politik mit aller Brutalität dazwischenführe und alle Aussichten der beiden auf ein Leben unter den Happy Few ihrer Generation beraubte.
In ihrem dritten Roman „Gott ist nicht schüchtern“ hat Olga Grjasnowa das Gefälle zwischen der gesellschaftlichen wie biografischen Ausgangsposition ihrer Protagonisten und deren weiterer Lebensgeschichte besonders steil angelegt. Im Lauf der Jahre zwischen 2011 und 2016 werden Hammoudi und Amal alles einbüßen, was ihr bisheriges Dasein ausmachte. Zu sagen, dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen müssen, wäre eine unverzeihliche Untertreibung.
Denn dieser Roman führt nach Syrien, mitten hinein in den Arabischen Frühling, der im Jahr 2011 auch auf das Herrschaftsgebiet von Baschar al-Assad übergreift. Amal, die aufgrund der zwielichtigen Geschäfte ihres Vaters in ökonomischer Sorglosigkeit lebt, schließt sich den Demonstrationen gegen das Regime an, Hammoudi muss nach Syrien zurückkehren, um seinen Pass verlängert zu bekommen. Danach will er seine Stelle in Paris antreten und mit Claire zusammenleben.
Doch während Amal dem Zugriff der Geheimpolizei zunächst noch aufgrund der guten Beziehungen (und den damit verbundenen Bestechungszahlungen) ihres Vaters entgeht, wird Hammoudi im Land festgehalten. In der Stadt Deir az-Sour, nahe der irakischen Grenze, wird er als im Untergrund praktizierender Arzt bald immer tiefer in die zunehmend brutalen Kämpfe verschiedener Gruppierungen um die Macht verwickelt.
Im Januar 2014, noch vor der Vernichtungsschlacht um Aleppo, schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der Toten im syrischen Bürgerkrieg bereits auf mehr als 430 000, Hunderttausende fielen Vergewaltigungen und Folterungen zum Opfer. Diese Eskalation der Grausamkeit veranschaulicht Olga Grjasnowa in zwei einander nur kurz touchierende Hintergrundgeschichten. Sie erzählen vom Leben in einem auf der Willkür der Geheimdienste, auf physischer Gewalt und alltäglicher Korruption fußenden System, das allerhand Annehmlichkeiten für die Privilegierten einschließt und schließlich unweigerlich in die Flucht mündet. Beirut, Istanbul, Izmir, Italien, München sowie Izmir, Griechenland, Serbien, Frankfurt heißen die Stationen, über die Amal und Hammoudi schließlich nach Berlin gelangen.
Zuvor jedoch werden wir in den Alltag in einem Land eingeführt, das anfangs kaum merklich, dann unaufhaltsam seinem Untergang entgegentaumelt. Während die schönen und vermögenden Frauen in Damaskus sich noch mit Dessous wie einem „String mit einer Rose, dem Symbol der Hisbollah“ ausstatten und zumindest das Leben der Oberschicht weiterzugehen scheint wie eh und je, nimmt in der Provinz die Gewalt bereits zu, schließen sich junge Männer der Freien Syrischen Armee an, bilden sich aber auch zunehmend islamistische Kämpfergruppen, die am Ende die Stadt Deir az-Sour in ein glosendes Trümmerfeld verwandeln werden.
Amals russisch-syrische Familie, in der Russisch gesprochen und gut gekocht wird – das Klavier von Mutter Swetlana trägt den Namen „Roter Oktober“ –, ist zu diesem Zeitpunkt längst zerfallen. Amal war elf Jahre alt, als die Mutter allein nach Russland zurückkehrte. Wie sich später zeigt, unterhält der Vater parallel eine zweite Familie mit syrischer Ehefrau und drei weiteren Kindern, während er sich vom Restaurant-, Konditorei- und Buchladenbesitzer zum undurchsichtigen Geschäftsmann mausert. In Hammoudis Familie wiederum haben schon die Frauen der Mutter-Generation Medizin studiert, Bildung und Vermögen gehören hier wie selbstverständlich zusammen.
Dies alles erzählt Grjasnowa mit erstaunlich konkreter Kenntnis des syrischen Lebens der Oberklasse vor dem Beginn des Bürgerkriegs. Umso krasser danach der Sturz ins Nichts, der vor allem für den unter Lebensgefahr operierenden Arzt Hammoudi schon Monate vor seiner Flucht begonnen hat. Ebenfalls als Flüchtlinge treffen dann Amal und ihr Studienkollege Youssef, dessen Familie aus Palästina stammt, in Beirut aufeinander. Sie tun sich mehr zu einer Not- als einer Liebesgemeinschaft zusammen, schlagen sich unter feindseligen Bedingungen mit Hilfsarbeiten durch und können doch ebenso wenig bleiben wie Hammoudi in seiner türkischen Durchgangsstation Izmir. Auf ihrer Flucht übers Meer werden Youssef und Amal zu Zufallseltern der kleinen Amina, deren Mutter mutmaßlich mit Hunderten anderer ertrunken ist, Hammoudi erreicht Deutschland von Lesbos aus, nachdem er in Serbien von einer Grenzpolizisten-Gang ausgeraubt wurde. Beide Fluchtwege sind von krimineller Geschäftemacherei, Grausamkeit und Menschenverachtung gesäumt.
Eine große Stoffmasse hat Olga Grjasnowa auf gerade einmal 300 Seiten zusammengeballt, und wahrscheinlich war es gar nicht anders möglich, als diese Leidensgeschichten auf extrem zurückgenommene, literarisch auffallend schlichte Art zu erzählen. Die Biografien selbst haben eine solche Wucht, dass jede Ausschmückung den Leser erschlagen hätte. Und natürlich gehen die Geschichten nicht gut aus. Zwar übersteht die Kleinfamilie von Amal, Youssef und Amina auch die Eingewöhnungsphase in Berlin. Und Amal wird sogar zum Star einer deutschen Kochshow (deren alberner Titel „Dein Flüchtling kocht“ freilich in ein anderes literarisches Fach gehört), während der frühere Regisseur Youssef in einem arabischen Supermarkt Arbeit findet. Hammoudi aber kommt bei einem Angriff auf das Flüchtlingsheim in der ostdeutschen Provinz, dem er zugewiesen worden war, ums Leben.
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, hat Bertolt Brecht im Jahr 1941, auf die eigene Flucht-Erfahrung gegründet, in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ geschrieben. Weshalb sich daran auch ein Dreivierteljahrhundert später nichts geändert hat, erzählt Olga Grjasnowa in ihrem Roman aufrüttelnd und schonungslos.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Der im Untergrund arbeitende
Arzt gerät immer tiefer
in die politischen Konflikte hinein
Mit erstaunlich konkreter
Kenntnis erzählt Grjasnowa vom
Leben der syrischen Oberklasse
Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 309 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In ihrem Roman „Gott ist nicht schüchtern“ erzählt Olga Grjasnowa von drei jungen Leuten, die dem Krieg in Syrien entfliehen
Sie sind jung, sie sind erfolgreich, sie sind schön und privilegiert. Die Schauspielerin Amal hat ihr Diplom noch nicht in der Tasche, da spielt sie bereits die Hauptrolle in einer TV-Serie und erhält dafür 20 000 Euro in bar auf die Hand. Es kann für sie in den kommenden Jahren nur weiter steil nach oben gehen. Der Arzt Hammoudi wiederum hat in Paris als Zweitbester seines Jahrgangs den Abschluss als Spezialist für plastische Chirurgie gemacht (beste Absolventin war seine jüdische Freundin Claire), und auch er erhält sofort eine Anstellung, an einem erstklassigen Pariser Krankenhaus. Auch seine Zukunft scheint aufs Beste gesichert. Wenn nicht in beiden Fällen die Politik mit aller Brutalität dazwischenführe und alle Aussichten der beiden auf ein Leben unter den Happy Few ihrer Generation beraubte.
In ihrem dritten Roman „Gott ist nicht schüchtern“ hat Olga Grjasnowa das Gefälle zwischen der gesellschaftlichen wie biografischen Ausgangsposition ihrer Protagonisten und deren weiterer Lebensgeschichte besonders steil angelegt. Im Lauf der Jahre zwischen 2011 und 2016 werden Hammoudi und Amal alles einbüßen, was ihr bisheriges Dasein ausmachte. Zu sagen, dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen müssen, wäre eine unverzeihliche Untertreibung.
Denn dieser Roman führt nach Syrien, mitten hinein in den Arabischen Frühling, der im Jahr 2011 auch auf das Herrschaftsgebiet von Baschar al-Assad übergreift. Amal, die aufgrund der zwielichtigen Geschäfte ihres Vaters in ökonomischer Sorglosigkeit lebt, schließt sich den Demonstrationen gegen das Regime an, Hammoudi muss nach Syrien zurückkehren, um seinen Pass verlängert zu bekommen. Danach will er seine Stelle in Paris antreten und mit Claire zusammenleben.
Doch während Amal dem Zugriff der Geheimpolizei zunächst noch aufgrund der guten Beziehungen (und den damit verbundenen Bestechungszahlungen) ihres Vaters entgeht, wird Hammoudi im Land festgehalten. In der Stadt Deir az-Sour, nahe der irakischen Grenze, wird er als im Untergrund praktizierender Arzt bald immer tiefer in die zunehmend brutalen Kämpfe verschiedener Gruppierungen um die Macht verwickelt.
Im Januar 2014, noch vor der Vernichtungsschlacht um Aleppo, schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der Toten im syrischen Bürgerkrieg bereits auf mehr als 430 000, Hunderttausende fielen Vergewaltigungen und Folterungen zum Opfer. Diese Eskalation der Grausamkeit veranschaulicht Olga Grjasnowa in zwei einander nur kurz touchierende Hintergrundgeschichten. Sie erzählen vom Leben in einem auf der Willkür der Geheimdienste, auf physischer Gewalt und alltäglicher Korruption fußenden System, das allerhand Annehmlichkeiten für die Privilegierten einschließt und schließlich unweigerlich in die Flucht mündet. Beirut, Istanbul, Izmir, Italien, München sowie Izmir, Griechenland, Serbien, Frankfurt heißen die Stationen, über die Amal und Hammoudi schließlich nach Berlin gelangen.
Zuvor jedoch werden wir in den Alltag in einem Land eingeführt, das anfangs kaum merklich, dann unaufhaltsam seinem Untergang entgegentaumelt. Während die schönen und vermögenden Frauen in Damaskus sich noch mit Dessous wie einem „String mit einer Rose, dem Symbol der Hisbollah“ ausstatten und zumindest das Leben der Oberschicht weiterzugehen scheint wie eh und je, nimmt in der Provinz die Gewalt bereits zu, schließen sich junge Männer der Freien Syrischen Armee an, bilden sich aber auch zunehmend islamistische Kämpfergruppen, die am Ende die Stadt Deir az-Sour in ein glosendes Trümmerfeld verwandeln werden.
Amals russisch-syrische Familie, in der Russisch gesprochen und gut gekocht wird – das Klavier von Mutter Swetlana trägt den Namen „Roter Oktober“ –, ist zu diesem Zeitpunkt längst zerfallen. Amal war elf Jahre alt, als die Mutter allein nach Russland zurückkehrte. Wie sich später zeigt, unterhält der Vater parallel eine zweite Familie mit syrischer Ehefrau und drei weiteren Kindern, während er sich vom Restaurant-, Konditorei- und Buchladenbesitzer zum undurchsichtigen Geschäftsmann mausert. In Hammoudis Familie wiederum haben schon die Frauen der Mutter-Generation Medizin studiert, Bildung und Vermögen gehören hier wie selbstverständlich zusammen.
Dies alles erzählt Grjasnowa mit erstaunlich konkreter Kenntnis des syrischen Lebens der Oberklasse vor dem Beginn des Bürgerkriegs. Umso krasser danach der Sturz ins Nichts, der vor allem für den unter Lebensgefahr operierenden Arzt Hammoudi schon Monate vor seiner Flucht begonnen hat. Ebenfalls als Flüchtlinge treffen dann Amal und ihr Studienkollege Youssef, dessen Familie aus Palästina stammt, in Beirut aufeinander. Sie tun sich mehr zu einer Not- als einer Liebesgemeinschaft zusammen, schlagen sich unter feindseligen Bedingungen mit Hilfsarbeiten durch und können doch ebenso wenig bleiben wie Hammoudi in seiner türkischen Durchgangsstation Izmir. Auf ihrer Flucht übers Meer werden Youssef und Amal zu Zufallseltern der kleinen Amina, deren Mutter mutmaßlich mit Hunderten anderer ertrunken ist, Hammoudi erreicht Deutschland von Lesbos aus, nachdem er in Serbien von einer Grenzpolizisten-Gang ausgeraubt wurde. Beide Fluchtwege sind von krimineller Geschäftemacherei, Grausamkeit und Menschenverachtung gesäumt.
Eine große Stoffmasse hat Olga Grjasnowa auf gerade einmal 300 Seiten zusammengeballt, und wahrscheinlich war es gar nicht anders möglich, als diese Leidensgeschichten auf extrem zurückgenommene, literarisch auffallend schlichte Art zu erzählen. Die Biografien selbst haben eine solche Wucht, dass jede Ausschmückung den Leser erschlagen hätte. Und natürlich gehen die Geschichten nicht gut aus. Zwar übersteht die Kleinfamilie von Amal, Youssef und Amina auch die Eingewöhnungsphase in Berlin. Und Amal wird sogar zum Star einer deutschen Kochshow (deren alberner Titel „Dein Flüchtling kocht“ freilich in ein anderes literarisches Fach gehört), während der frühere Regisseur Youssef in einem arabischen Supermarkt Arbeit findet. Hammoudi aber kommt bei einem Angriff auf das Flüchtlingsheim in der ostdeutschen Provinz, dem er zugewiesen worden war, ums Leben.
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, hat Bertolt Brecht im Jahr 1941, auf die eigene Flucht-Erfahrung gegründet, in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ geschrieben. Weshalb sich daran auch ein Dreivierteljahrhundert später nichts geändert hat, erzählt Olga Grjasnowa in ihrem Roman aufrüttelnd und schonungslos.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Der im Untergrund arbeitende
Arzt gerät immer tiefer
in die politischen Konflikte hinein
Mit erstaunlich konkreter
Kenntnis erzählt Grjasnowa vom
Leben der syrischen Oberklasse
Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 309 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
" (...) was ein Roman erreichen sollte: dass man die Welt nach dem Lesen anders betrachtet. " Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20170702
» Diesem Roman liegt eine tiefere Wahrhaftigkeit zugrunde. « Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170511