Ein Haus. Ein Jahrhundert. So viele Lebensgeschichten.
Im ehemals roten Wedding, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin, steht in der Utrechter Straße ein altes Haus. Sie alle sind untereinander und schicksalhaft mit dem Gebäude verbunden: Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.
Regina Scheer, die großartige Erzählerin deutscher Geschichte, hat die Leben ihrer Figuren zu einem bewegenden Roman verwoben, voller Wahrhaftigkeit und menschlicher Wärme.
Im ehemals roten Wedding, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin, steht in der Utrechter Straße ein altes Haus. Sie alle sind untereinander und schicksalhaft mit dem Gebäude verbunden: Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.
Regina Scheer, die großartige Erzählerin deutscher Geschichte, hat die Leben ihrer Figuren zu einem bewegenden Roman verwoben, voller Wahrhaftigkeit und menschlicher Wärme.
"Ein bewegender Roman." HÖRZU
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Am Ende stürzen alle ab
Dieses Viertel lädt zum Erzählen von traurigen Geschichten ein. Das gelingt mal mehr, mal weniger: zwei Romane über den Berliner Stadtteil Wedding.
Von Hannah Bethke
Es ist ein kleines Kind, auf das die grölende Menge in der Kneipe zielt. Ein Mädchen namens Agnes, das von seinem Vater gerade ein Fahrrad geschenkt bekommen hat, sein erstes Rad, auf dem es noch gar nicht fahren kann. Und doch ist es sein ganzer Stolz. Agnes hatte schon draußen geübt und war immer wieder hingefallen. Niemand war da, der ihr half. In der Kneipe sitzt ihr Vater, ein schwerer Trinker. Seine Trinkkumpanen feuern das kleine Mädchen an, loszufahren, Agnes versucht es, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf, muss ins Krankenhaus, getragen von ihrem stockbetrunkenen Vater.
Es ist eine der erschütterndsten Szenen dieses beachtlichen Romans von Nicola Karlsson. Eindringlich und schonungslos erzählt die 1974 geborene Autorin drei parallele Geschichten aus dem Leben dreier Menschen, die in einem Hochhaus in Berlin-Wedding wohnen. Das einstige Arbeiterviertel hat sich durch die Mietentwicklungen in der Hauptstadt verändert, manche sprechen von Gentrifizierung, andere sagen schon seit Jahren: "Der Wedding kommt" - aber so richtig kommt er dann doch nicht.
So ist es auch in Karlssons Buch. Das Hochhaus ist geprägt durch eine Lebenswirklichkeit, die man heute als "Brennpunkt" bezeichnen würde. Verkörpert wird sie durch Agnes, inzwischen fünfzehn Jahre alt, die sich durchs Leben beißt und es so schwer hat, dass man es kaum aushalten kann, und ihren Vater Wolf, der sich fast zu Tode säuft und seine Tochter schlägt. Hannah dagegen ist anders. Sie trägt teure Kleider, ist jung, gebildet, hübsch und landet, ohne dass man es so recht versteht, im prekären Wedding.
Zwei Welten in einem Haus, deren Bewohner am Ende mehr teilen, als sie selbst vermuten würden. Es ist nicht nur Wolf, der zu einem Unbeteiligten in seinem eigenen Leben geworden ist, wie er einmal sagt, oder Agnes, die vor lauter Verzweiflung aggressiv um sich schlägt. Auch Hannah kämpft, scheitert, stürzt ab. Sie sieht sich nicht, wie die Außenwelt sie wahrnimmt, findet sich hässlich, vergräbt sich in ihrer Wohnung, erträgt sich nicht. Sie geht am Leben zugrunde.
Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Nie verfällt Karlsson in Klischees, obwohl sie auf bekannte Themen wie Alkoholismus und sozialen Abstieg zurückgreift. Sie erzählt die alten Geschichten neu, ergreifend, brutal, tieftraurig und besonders verstörend, wenn es um das innere Leben von Hannah geht.
Ihr Buch lebt von den Figuren - nicht so sehr vom Stil. Karlsson schreibt in sehr kurzen Sätzen, fast unverbunden aneinandergereiht, ohne Melodie, ohne Tiefe. Man liest darüber hinweg, weil die Geschichten zu aufwühlend sind, um das Buch aus der Hand zu legen. Unterbrochen wird dieser Sog, wenn die Autorin statt Sätzen nur noch Wörter schreibt, unvollständig, assoziativ, emotional, als könnte sie dadurch das Tempo erhöhen und eine größere Nähe zu den Protagonisten erzeugen, so getrieben und atemlos, dass keine Zeit mehr bleibt, ihre Gedanken zu Ende zu formulieren. Das allerdings misslingt. Die Zuspitzung dieses ohnehin schon wenig fließenden Schreibstils hätte gar nicht notgetan, um die prekäre Situation der Figuren zu veranschaulichen.
Fast zwanzig Jahre älter als Nicola Karlsson, hat auch die Berliner Schriftstellerin Regina Scheer einen Roman über Wedding geschrieben, den "Stadtteil der Habenichtse", wie sie bemerkt. Doch schon der Anfang des Buches lässt nichts Gutes erahnen: Die Stimme, die auf den ersten Seiten zu den Lesern spricht und vom Kommen und Gehen der Bewohner eines Mietshauses erzählt, ist nicht die einer Person. Hier spricht allen Ernstes das Haus selbst. Es denkt, fühlt, sieht und erinnert sich, als wäre es ein Mensch. Was man erst für einen misslungenen Prolog hält, den man schnell wieder hätte vergessen können, entpuppt sich als wiederkehrendes Motiv eines altbackenen Romans, der zu viel auf einmal will.
Scheer entscheidet sich wie Karlsson für die parallele Erzählung mehrerer Protagonisten, die in dem Weddinger Haus wohnen oder gewohnt haben. Anders als bei Karlsson treffen hier aber Gegenwart und Vergangenheit aufeinander. Leo, ein alter Jude, der gerade aus Israel in Berlin zu Besuch ist, fand in dem Haus während des Krieges Unterschlupf bei Gertrud, die noch immer dort wohnt. Laila, ein halbes Jahrhundert jünger als Leo, ist eine Sintiza aus Polen und floh mit ihren Eltern nach Deutschland, als sie sechs Jahre alt war. Nach und nach wird das heruntergekommene Haus, das sich Immobilienhaie unter den Nagel reißen wollen, überwiegend von Migranten bewohnt, das Viertel ändert sich, nur Gertrud bleibt. Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, Geschichte der Sinti und Roma, Mieterverdrängung, Migration früher und heute - die Autorin will in diesem Buch alles vereinen. Die historischen Rückblenden sind gründlich recherchiert, fügen sich aber nicht gut in die erfundene Geschichte.
Auch wenn der Text besonders durch die Figur Gertrud berührende Momente enthält, sind die stilistischen Ausfälle, zu denen das sprechende Haus gehört, schwer zu ertragen. "So wuchs ich langsam und wurde ein schönes Haus", heißt es an einer Stelle. Oder: "Als sie Norida und Lucia die Pflanze erklärte, ihnen erzählte, dass die Bromelien nur ein einziges Mal blühen, hatte Gertrud plötzlich das Gefühl, sie rede über sich selbst . . . Aber was ist nur aus ihr geworden, jetzt vergleicht sie sich schon mit einem Blumentopf."
Ob Häuser, Menschen oder Blumentöpfe: Wedding lädt zum Erzählen ein. Wie das besser oder schlechter gelingen kann, zeigen die Romane von Karlsson und Scheer eindrücklich, die bei aller Ähnlichkeit des äußeren Handlungsrahmens zwei grundverschiedene Texte vorgelegt haben.
Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding". Roman.
Penguin Verlag, München 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding". Roman.
Piper Verlag, München 2019. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses Viertel lädt zum Erzählen von traurigen Geschichten ein. Das gelingt mal mehr, mal weniger: zwei Romane über den Berliner Stadtteil Wedding.
Von Hannah Bethke
Es ist ein kleines Kind, auf das die grölende Menge in der Kneipe zielt. Ein Mädchen namens Agnes, das von seinem Vater gerade ein Fahrrad geschenkt bekommen hat, sein erstes Rad, auf dem es noch gar nicht fahren kann. Und doch ist es sein ganzer Stolz. Agnes hatte schon draußen geübt und war immer wieder hingefallen. Niemand war da, der ihr half. In der Kneipe sitzt ihr Vater, ein schwerer Trinker. Seine Trinkkumpanen feuern das kleine Mädchen an, loszufahren, Agnes versucht es, stürzt und schlägt mit dem Kopf auf, muss ins Krankenhaus, getragen von ihrem stockbetrunkenen Vater.
Es ist eine der erschütterndsten Szenen dieses beachtlichen Romans von Nicola Karlsson. Eindringlich und schonungslos erzählt die 1974 geborene Autorin drei parallele Geschichten aus dem Leben dreier Menschen, die in einem Hochhaus in Berlin-Wedding wohnen. Das einstige Arbeiterviertel hat sich durch die Mietentwicklungen in der Hauptstadt verändert, manche sprechen von Gentrifizierung, andere sagen schon seit Jahren: "Der Wedding kommt" - aber so richtig kommt er dann doch nicht.
So ist es auch in Karlssons Buch. Das Hochhaus ist geprägt durch eine Lebenswirklichkeit, die man heute als "Brennpunkt" bezeichnen würde. Verkörpert wird sie durch Agnes, inzwischen fünfzehn Jahre alt, die sich durchs Leben beißt und es so schwer hat, dass man es kaum aushalten kann, und ihren Vater Wolf, der sich fast zu Tode säuft und seine Tochter schlägt. Hannah dagegen ist anders. Sie trägt teure Kleider, ist jung, gebildet, hübsch und landet, ohne dass man es so recht versteht, im prekären Wedding.
Zwei Welten in einem Haus, deren Bewohner am Ende mehr teilen, als sie selbst vermuten würden. Es ist nicht nur Wolf, der zu einem Unbeteiligten in seinem eigenen Leben geworden ist, wie er einmal sagt, oder Agnes, die vor lauter Verzweiflung aggressiv um sich schlägt. Auch Hannah kämpft, scheitert, stürzt ab. Sie sieht sich nicht, wie die Außenwelt sie wahrnimmt, findet sich hässlich, vergräbt sich in ihrer Wohnung, erträgt sich nicht. Sie geht am Leben zugrunde.
Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Nie verfällt Karlsson in Klischees, obwohl sie auf bekannte Themen wie Alkoholismus und sozialen Abstieg zurückgreift. Sie erzählt die alten Geschichten neu, ergreifend, brutal, tieftraurig und besonders verstörend, wenn es um das innere Leben von Hannah geht.
Ihr Buch lebt von den Figuren - nicht so sehr vom Stil. Karlsson schreibt in sehr kurzen Sätzen, fast unverbunden aneinandergereiht, ohne Melodie, ohne Tiefe. Man liest darüber hinweg, weil die Geschichten zu aufwühlend sind, um das Buch aus der Hand zu legen. Unterbrochen wird dieser Sog, wenn die Autorin statt Sätzen nur noch Wörter schreibt, unvollständig, assoziativ, emotional, als könnte sie dadurch das Tempo erhöhen und eine größere Nähe zu den Protagonisten erzeugen, so getrieben und atemlos, dass keine Zeit mehr bleibt, ihre Gedanken zu Ende zu formulieren. Das allerdings misslingt. Die Zuspitzung dieses ohnehin schon wenig fließenden Schreibstils hätte gar nicht notgetan, um die prekäre Situation der Figuren zu veranschaulichen.
Fast zwanzig Jahre älter als Nicola Karlsson, hat auch die Berliner Schriftstellerin Regina Scheer einen Roman über Wedding geschrieben, den "Stadtteil der Habenichtse", wie sie bemerkt. Doch schon der Anfang des Buches lässt nichts Gutes erahnen: Die Stimme, die auf den ersten Seiten zu den Lesern spricht und vom Kommen und Gehen der Bewohner eines Mietshauses erzählt, ist nicht die einer Person. Hier spricht allen Ernstes das Haus selbst. Es denkt, fühlt, sieht und erinnert sich, als wäre es ein Mensch. Was man erst für einen misslungenen Prolog hält, den man schnell wieder hätte vergessen können, entpuppt sich als wiederkehrendes Motiv eines altbackenen Romans, der zu viel auf einmal will.
Scheer entscheidet sich wie Karlsson für die parallele Erzählung mehrerer Protagonisten, die in dem Weddinger Haus wohnen oder gewohnt haben. Anders als bei Karlsson treffen hier aber Gegenwart und Vergangenheit aufeinander. Leo, ein alter Jude, der gerade aus Israel in Berlin zu Besuch ist, fand in dem Haus während des Krieges Unterschlupf bei Gertrud, die noch immer dort wohnt. Laila, ein halbes Jahrhundert jünger als Leo, ist eine Sintiza aus Polen und floh mit ihren Eltern nach Deutschland, als sie sechs Jahre alt war. Nach und nach wird das heruntergekommene Haus, das sich Immobilienhaie unter den Nagel reißen wollen, überwiegend von Migranten bewohnt, das Viertel ändert sich, nur Gertrud bleibt. Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, Geschichte der Sinti und Roma, Mieterverdrängung, Migration früher und heute - die Autorin will in diesem Buch alles vereinen. Die historischen Rückblenden sind gründlich recherchiert, fügen sich aber nicht gut in die erfundene Geschichte.
Auch wenn der Text besonders durch die Figur Gertrud berührende Momente enthält, sind die stilistischen Ausfälle, zu denen das sprechende Haus gehört, schwer zu ertragen. "So wuchs ich langsam und wurde ein schönes Haus", heißt es an einer Stelle. Oder: "Als sie Norida und Lucia die Pflanze erklärte, ihnen erzählte, dass die Bromelien nur ein einziges Mal blühen, hatte Gertrud plötzlich das Gefühl, sie rede über sich selbst . . . Aber was ist nur aus ihr geworden, jetzt vergleicht sie sich schon mit einem Blumentopf."
Ob Häuser, Menschen oder Blumentöpfe: Wedding lädt zum Erzählen ein. Wie das besser oder schlechter gelingen kann, zeigen die Romane von Karlsson und Scheer eindrücklich, die bei aller Ähnlichkeit des äußeren Handlungsrahmens zwei grundverschiedene Texte vorgelegt haben.
Regina Scheer: "Gott wohnt im Wedding". Roman.
Penguin Verlag, München 2019. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Nicola Karlsson: "Licht über dem Wedding". Roman.
Piper Verlag, München 2019. 320 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2019Ein ehrenwertes
Plaudertaschen-Haus
Regina Scheers Roman „Gott wohnt im Wedding“
Ein Haus spricht. Es räsoniert, plaudert, blickt zurück. Es handelt sich um eine der Berliner Mietskasernen mit Vorder- und Hinterhaus aus Mauern, in denen es knarzt und kracht. Die Dachbalken ächzen, der Putz rieselt von den Wänden, manchmal löst sich ein Ziegelstein. Mehr könne es nicht machen, klagt das Haus, um auf seine Altersschwäche hinzuweisen, niemand kümmere sich um die Instandhaltung. Es wurde 1890 im Arbeiterbezirk Wedding errichtet, und zwar an der Utrechter Straße, als auch hier die Spekulation mit Baugrund begann. Man stattete es mit Erkern, holländischen Kacheln im Eingang und einer Stuck-Medusa im Flur aus, nicht übermäßig elegant, aber solide. Das Haus ist Zeuge vieler historischer Wechselfälle, und es ist der Hauptschauplatz von Regina Scheers Roman „Gott wohnt im Wedding“. Dem sprechenden Haus gehört nicht nur der Einstieg, auch in der Folge des über vierhundertseitigen Panoramas erhebt es in kursiv gedruckten Einschüben regelmäßig die Stimme und setzt Zäsuren. Seitenlang versorgt es uns mit Details zu den Bewohnern oder zur Lokalgeschichte, bis es am Ende von chinesischen Investoren gekauft und entmietet wird und, natürlich beabsichtigt, in Flammen aufgeht.
Ein Haus einfach so sprechen zu lassen, ist ein Wagnis. Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren und vor fünf Jahren für ihre dichte DDR-Erinnerungsrecherche „Machandel“ hoch gelobt, verpasst ihrer steinernen Hauptfigur einen behäbigen Tonfall. „Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material. Aber sie vergessen, dass in meinen Wänden der Atem von all denen hängt, die hier gewohnt haben. Ihre Tränen, ihr Blut habe ich aufgesogen, ich habe ihre Schreie gehört, ihr Flüstern, ihr endloses Gemurmel in den Nächten. All ihr Leben habe ich in mich aufgenommen, durch sie lebe ich selbst, auf meine Weise.“ Diese Haltung entfaltet sofort etwas Betuliches. „Ich schweife ab, so ist das, wenn man alt ist“, entschuldigt sich das Haus.
So tantenhaft der Roman beginnt, so konventionell geht es weiter. Aufbau, Erzählweise, Verknüpfung der Handlungsstränge, uns erwarten nur wenige Überraschungen. Dabei hätte es der Stoff durchaus in sich. Aber man kann sich die Zuspitzungen schon vorher ausmalen und ahnt jeden Wendepunkt.
Als Erster betritt Leo Lehmann das Parkett beziehungsweise den Hausflur, ein Ur-Berliner, der eine Erbschaftsangelegenheit seiner verstorbenen Frau regeln will. Der alte Mann ist gemeinsam mit seiner Enkelin aus Israel angereist, wo er nach dem Krieg einen Kibbuz mit aufgebaut hat. Kaum durchstreift er den Wedding, schlägt ihm seine Vergangenheit entgegen. Als Mitglied des jüdischen Jugendbundes Hebonim war er nach der Deportation seiner Eltern mit seinem besten Freund Manfred untergetaucht. Die sechs Jahre ältere Gertrud Romberg, die immer noch im Haus wohnt, hatte die beiden eine Weile lang versteckt. Dass ihr geliebter Manfred in ihrer Wohnung wegen eines eifersüchtigen Nazi-Verehrers verhaftet worden war, lässt ihr bis heute keine Ruhe. Und Leo hält Gertrud, mit der er erst ganz zum Schluss des Romans ein klärendes Gespräch führt, für eine Verräterin.
Die deutsch-jüdische Tragödie wird flankiert durch eine zweite Opfererzählung: die der Sinti und Roma. Eine weitere Hauptfigur wird eingeführt, eine junge Frau namens Laila, ebenfalls Mieterin in der Utrechter Straße, deren Großmutter, was sie nicht weiß, vor ihrer Verschleppung im selben Haus gewohnt hat. Das Schicksal von Lailas Familie ist ähnlich weit verzweigt wie das von Leo und seit Jahrzehnten von Verfolgung, Ermordung und Übergriffen gekennzeichnet. Die Autorin schlägt den Bogen bis in die Gegenwart. Fast ohne es zu wollen, ist Laila für die rumänischen Roma-Frauen im Haus zur Beraterin geworden, absolviert Behördengänge und Amtstermine, kümmert sich nebenbei um die alte Gertrud und lernt auch Leo und seine Enkelin kennen.
Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Perspektiven, die Figuren geraten abwechselnd in den Blick, ihre Geschichten überlagern und verweben sich. Auf der Gegenwartsebene gelingt das einigermaßen, aber die früheren Schicksale des Personals werden eher referiert, als erzählerisch durchdrungen. Es wimmelt von nachgeschobenen Erklärungen und Erläuterungen. Die Geschichte der Sinti während der NS-Zeit war gerade Gegenstand eines anderen, sehr markanten Romans: Ursula Krechel hatte sich in „Geisterbahn“ (2018) diesem Sujet gewidmet und es ästhetisch vielfältig vermittelt, das Räderwerk des Nazi-Regimes und die gespenstische Aufgeräumtheit der Nachkriegszeit auf beklemmende Weise vergegenwärtigt. Im Vergleich dazu wirkt „Gott wohnt im Wedding“ auch literarisch eher bescheiden. Die Handlung entfaltet nur selten soghafte Momente, die Sprache hat nichts Eigenes, die Symbolik ist platt – Laila, transgenerationell traumatisiert, erleidet Fehlgeburten. Dass sich am Ende dennoch vieles fügt und eine Rumänin ihr ein Kind überlässt, hat einen schalen Geschmack.
Auch für den Trick, die Handlungsfäden über ein Gebäude zusammenzuführen, gibt es schon ein geglücktes Beispiel. Jenny Erpenbeck hatte in ihrem Roman „Heimsuchung“ (2008) das 20. Jahrhundert von einem Sommerhaus am Scharmützelsee ausgehend aufgefächert. Dem Haus selbst hatte sie wohlweislich das Wort verboten. Regina Scheer aber verfällt immer wieder in banale Küchentischphilosophie. „Vielleicht ist es ein Trost, dass immer, wenn etwas verschwindet, etwas anderes an seine Stelle tritt. Das habe ich so erfahren“, lässt sie das Plaudertaschen-Haus beteuern. „Etwas geht verloren, das kann der Beginn für etwas Neues sein.“ Na, dann ist ja alles gut.
MAIKE ALBATH
„Etwas geht verloren,
das kann der Beginn
für etwas Neues sein.“
Regina Scheer:
Gott wohnt im Wedding. Roman.
Penguin Verlag,
München 2019.
416 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Plaudertaschen-Haus
Regina Scheers Roman „Gott wohnt im Wedding“
Ein Haus spricht. Es räsoniert, plaudert, blickt zurück. Es handelt sich um eine der Berliner Mietskasernen mit Vorder- und Hinterhaus aus Mauern, in denen es knarzt und kracht. Die Dachbalken ächzen, der Putz rieselt von den Wänden, manchmal löst sich ein Ziegelstein. Mehr könne es nicht machen, klagt das Haus, um auf seine Altersschwäche hinzuweisen, niemand kümmere sich um die Instandhaltung. Es wurde 1890 im Arbeiterbezirk Wedding errichtet, und zwar an der Utrechter Straße, als auch hier die Spekulation mit Baugrund begann. Man stattete es mit Erkern, holländischen Kacheln im Eingang und einer Stuck-Medusa im Flur aus, nicht übermäßig elegant, aber solide. Das Haus ist Zeuge vieler historischer Wechselfälle, und es ist der Hauptschauplatz von Regina Scheers Roman „Gott wohnt im Wedding“. Dem sprechenden Haus gehört nicht nur der Einstieg, auch in der Folge des über vierhundertseitigen Panoramas erhebt es in kursiv gedruckten Einschüben regelmäßig die Stimme und setzt Zäsuren. Seitenlang versorgt es uns mit Details zu den Bewohnern oder zur Lokalgeschichte, bis es am Ende von chinesischen Investoren gekauft und entmietet wird und, natürlich beabsichtigt, in Flammen aufgeht.
Ein Haus einfach so sprechen zu lassen, ist ein Wagnis. Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren und vor fünf Jahren für ihre dichte DDR-Erinnerungsrecherche „Machandel“ hoch gelobt, verpasst ihrer steinernen Hauptfigur einen behäbigen Tonfall. „Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material. Aber sie vergessen, dass in meinen Wänden der Atem von all denen hängt, die hier gewohnt haben. Ihre Tränen, ihr Blut habe ich aufgesogen, ich habe ihre Schreie gehört, ihr Flüstern, ihr endloses Gemurmel in den Nächten. All ihr Leben habe ich in mich aufgenommen, durch sie lebe ich selbst, auf meine Weise.“ Diese Haltung entfaltet sofort etwas Betuliches. „Ich schweife ab, so ist das, wenn man alt ist“, entschuldigt sich das Haus.
So tantenhaft der Roman beginnt, so konventionell geht es weiter. Aufbau, Erzählweise, Verknüpfung der Handlungsstränge, uns erwarten nur wenige Überraschungen. Dabei hätte es der Stoff durchaus in sich. Aber man kann sich die Zuspitzungen schon vorher ausmalen und ahnt jeden Wendepunkt.
Als Erster betritt Leo Lehmann das Parkett beziehungsweise den Hausflur, ein Ur-Berliner, der eine Erbschaftsangelegenheit seiner verstorbenen Frau regeln will. Der alte Mann ist gemeinsam mit seiner Enkelin aus Israel angereist, wo er nach dem Krieg einen Kibbuz mit aufgebaut hat. Kaum durchstreift er den Wedding, schlägt ihm seine Vergangenheit entgegen. Als Mitglied des jüdischen Jugendbundes Hebonim war er nach der Deportation seiner Eltern mit seinem besten Freund Manfred untergetaucht. Die sechs Jahre ältere Gertrud Romberg, die immer noch im Haus wohnt, hatte die beiden eine Weile lang versteckt. Dass ihr geliebter Manfred in ihrer Wohnung wegen eines eifersüchtigen Nazi-Verehrers verhaftet worden war, lässt ihr bis heute keine Ruhe. Und Leo hält Gertrud, mit der er erst ganz zum Schluss des Romans ein klärendes Gespräch führt, für eine Verräterin.
Die deutsch-jüdische Tragödie wird flankiert durch eine zweite Opfererzählung: die der Sinti und Roma. Eine weitere Hauptfigur wird eingeführt, eine junge Frau namens Laila, ebenfalls Mieterin in der Utrechter Straße, deren Großmutter, was sie nicht weiß, vor ihrer Verschleppung im selben Haus gewohnt hat. Das Schicksal von Lailas Familie ist ähnlich weit verzweigt wie das von Leo und seit Jahrzehnten von Verfolgung, Ermordung und Übergriffen gekennzeichnet. Die Autorin schlägt den Bogen bis in die Gegenwart. Fast ohne es zu wollen, ist Laila für die rumänischen Roma-Frauen im Haus zur Beraterin geworden, absolviert Behördengänge und Amtstermine, kümmert sich nebenbei um die alte Gertrud und lernt auch Leo und seine Enkelin kennen.
Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Perspektiven, die Figuren geraten abwechselnd in den Blick, ihre Geschichten überlagern und verweben sich. Auf der Gegenwartsebene gelingt das einigermaßen, aber die früheren Schicksale des Personals werden eher referiert, als erzählerisch durchdrungen. Es wimmelt von nachgeschobenen Erklärungen und Erläuterungen. Die Geschichte der Sinti während der NS-Zeit war gerade Gegenstand eines anderen, sehr markanten Romans: Ursula Krechel hatte sich in „Geisterbahn“ (2018) diesem Sujet gewidmet und es ästhetisch vielfältig vermittelt, das Räderwerk des Nazi-Regimes und die gespenstische Aufgeräumtheit der Nachkriegszeit auf beklemmende Weise vergegenwärtigt. Im Vergleich dazu wirkt „Gott wohnt im Wedding“ auch literarisch eher bescheiden. Die Handlung entfaltet nur selten soghafte Momente, die Sprache hat nichts Eigenes, die Symbolik ist platt – Laila, transgenerationell traumatisiert, erleidet Fehlgeburten. Dass sich am Ende dennoch vieles fügt und eine Rumänin ihr ein Kind überlässt, hat einen schalen Geschmack.
Auch für den Trick, die Handlungsfäden über ein Gebäude zusammenzuführen, gibt es schon ein geglücktes Beispiel. Jenny Erpenbeck hatte in ihrem Roman „Heimsuchung“ (2008) das 20. Jahrhundert von einem Sommerhaus am Scharmützelsee ausgehend aufgefächert. Dem Haus selbst hatte sie wohlweislich das Wort verboten. Regina Scheer aber verfällt immer wieder in banale Küchentischphilosophie. „Vielleicht ist es ein Trost, dass immer, wenn etwas verschwindet, etwas anderes an seine Stelle tritt. Das habe ich so erfahren“, lässt sie das Plaudertaschen-Haus beteuern. „Etwas geht verloren, das kann der Beginn für etwas Neues sein.“ Na, dann ist ja alles gut.
MAIKE ALBATH
„Etwas geht verloren,
das kann der Beginn
für etwas Neues sein.“
Regina Scheer:
Gott wohnt im Wedding. Roman.
Penguin Verlag,
München 2019.
416 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ein Haus im Wandel der Zeiten, ein Jahrhunderthaus in der Utrechter Straße - in dem die glänzende Erzählerin Scheer ihre Protagonisten in Szene setzt und über deren Lebensgeschichten romanhaft tief in die Historie eintaucht.« Leipziger Volkszeitung, André Böhmer