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Die komplexe Bezugnahme und Anverwandlung von Wissensbeständen der Moderne im Werk Gottfried Benns.»Der Lyriker kann gar nicht genug wissen«, heißt es apodiktisch in Gottfried Benns Marburger Poetologie-Vortrag »Probleme der Lyrik«, der nicht von ungefähr in einem Universitätshörsaal gehalten wurde: »Man muß dicht am Stier kämpfen, sagen die großen Matadore, dann vielleicht kommt der Sieg.« Marcus Hahn zeichnet Benns Stierkampf mit dem Wissen der Moderne bis zum Jahr 1932 minutiös nach. Auf den Spuren des wütenden Wissenschaftskritikers, aber auch virtuosen Wissenschaftskompilators Benn…mehr

Produktbeschreibung
Die komplexe Bezugnahme und Anverwandlung von Wissensbeständen der Moderne im Werk Gottfried Benns.»Der Lyriker kann gar nicht genug wissen«, heißt es apodiktisch in Gottfried Benns Marburger Poetologie-Vortrag »Probleme der Lyrik«, der nicht von ungefähr in einem Universitätshörsaal gehalten wurde: »Man muß dicht am Stier kämpfen, sagen die großen Matadore, dann vielleicht kommt der Sieg.« Marcus Hahn zeichnet Benns Stierkampf mit dem Wissen der Moderne bis zum Jahr 1932 minutiös nach. Auf den Spuren des wütenden Wissenschaftskritikers, aber auch virtuosen Wissenschaftskompilators Benn unternimmt er eine Serie aufwendiger literatur- und kulturwissenschaftlicher Expeditionen in die Hirnforschung, in die Anatomie, in die Psychologie, in die Biologie, in die Psychiatrie und in die Anthropologie der Moderne. Erstmals wurde in dieser Studie der wissenschaftliche Teil der Nachlassbibliothek Benns systematisch ausgewertet.
Autorenporträt
Marcus Hahn, geb. 1968, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln. Er arbeitet als Literatur- und Medienwissenschaftler in Siegen.Veröffentlichungen u.a.: Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne (2009).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2012

Woher stammt sein Material?
Marcus Hahn versucht Gottfried Benn zu verstehen

Man mag darüber staunen, dass einige von Gottfried Benns Gedichten noch heute ihren Zauber auf die Leser ausbreiten und dass seine Prosa, wie weit auch immer deren Gehalt von jeder Aktualität entfernt sein mag, mit ihrem Sound selbst nachwachsende Generationen in den Bann schlägt.

Dass dies der ,Sound der Väter' sei, hat vor ein paar Jahren Helmut Lethen behauptet und damit nicht nur gesagt, dass Benns dichterische Tonlage trotz anhaltender Sprachmagie vor allem auf die Stimmungen und Fragen seiner eigenen Generation hinweist, sondern auch, dass es sich bei Benn zweifellos um einen Ästheten alter Schule handelt. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Autonomie der Literatur über alles geht, ja dass er die eigentliche Bestimmung des literarischen Schaffens in der verdichtenden Überformung jener Zusammenhänge begreift, die man gemeinhin Diskurse nennt und die das weite, stets umkämpfte Feld der Verständigungsverhältnisse einer Epoche ausmachen. Dass ein Schriftsteller von Diskursen geprägt ist, dass er ihre Substanzen, Fragen und Irrtümer in seine eigene Sprachproduktionen einfügt, ja dass er vielleicht nichts anderes als ein Knotenpunkt von solchen Redeformationen darstellt, ist leicht einzusehen. Interessanter ist die Frage, inwiefern diese Behauptung zutrifft und wie sie im jeweiligen Fall tatsächlich umgesetzt erscheint.

Wie intensiv auch immer die Literaturwissenschaft sich dem Feld der Diskurse geöffnet hat, wie aufwändig ihr Bemühen um Aufarbeitung der dabei anfallenden Stoffmassen jeweils gewesen sein mag, den Nachweis konnte sie noch kaum erbringen, der auf die Frage antwortet: wie arbeiten die Kommunikationsstrukturen einer Epoche und die literarische Produktivität auf einem intensiven Niveau tatsächlich miteinander? Um es vorwegzunehmen, auch Marcus Hahn erbringt diesen Nachweis in seiner monumentalen, zweibändigen Studie "Gottfried Benn und das Wissen der Moderne" nicht. Der nicht anders als prätentiös zu nennende Titel der Arbeit deutet gleichwohl auf eine solche Darlegung hin. Hahn unternimmt den Versuch, das naturwissenschaftliche Wissen der Zeit zwischen 1905 und 1932 zu rekonstruieren, und zwar explizit im Hinblick auf den Dichter und seine Schriften. Das bedeutet, die naturwissenschaftlichen Debatten um das Gehirn, um Darwinismus und Anti-Darwinismus, um Psychiatrie und Anthropologie werden bis in die Einzelheiten der jeweiligen Fachdiskussionen vorgeführt und vorgeblich mit Benns Rezeption sowie seinem Schreiben in einen Kontext gestellt. Diese Projektion aber bleibt in der puren Behauptung stecken; mehr noch, die Konjunktion zwischen den wissenschaftlichen Diskursen und Benns Dichten löst sich im Laufe der Lektüre auf.

Es liegt nahe, angesichts der Lyriksammlung "Morgue" den Forschungsstand der Anatomie um 1912 zu befragen. Gerade bei diesen, Benns eigenen Erfahrungen in der pathologischen Praxis entspringenden Gedichten ist es aufschlussreich, was der Dichter wirklich von den damals vorliegenden Erkenntnissen in seine lyrischen Bilder einfließen lässt. Ebenso interessant ist der Blick auf die Psychologie um 1916, wenn man wissen will, woran sich Benn bei seinem assoziativen Stil in seiner frühen Prosa um den Arzt Rönne orientiert und aus welchen Quellen er die Aufarbeitung seiner eigenen psychopathologischen Diagnose "Depersonalisation" betrieben hat.

All diese Felder arbeitet Marcus Hahn mit Beharrlichkeit auf. Im Hinblick auf den Horizont der Geschichte der Naturwissenschaften in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erscheint sein Buch daher auf den ersten Blick als eine seltene Fundgrube, in der sich mit jedem Kapitel neue Nischen mit weithin vergessenen Fragestellungen und vom Gang der Forschung überholten Standpunkten öffnen. Nur fragt man sich von Kapitel zu Kapitel mehr, wo Gottfried Benn denn eigentlich geblieben ist, weshalb er jedes Mal zwischen den Diskussionen der Kapazitäten als Dichter verschwindet und warum er offensichtlich als Anlass für eine Fleißarbeit herhalten musste, die alles zeigt, nur eines nicht: aus welchen Gründen Benn daraus eigentlich Literatur machen musste und welche Qualität diese Texte aufweisen.

Benn war ein manischer Vielleser, der sich wochenlang in Bibliotheken einnisten konnte, der Dutzende von Büchern gleichzeitig und durcheinander studierte, der sich dabei in die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Felder einarbeitete, um sich schließlich mit der Destillation einiger ihn faszinierender Worte zu begnügen, der aus seinem Eklektizismus kühne Montagearbeiten schuf und der bewusst an der Oberfläche des Wortmaterials blieb. Wo er sich auf die Inhalte einließ, die aus den Fachgebieten oder aus der Politik zu ihm hinübertönten, verirrte er sich zumeist in haarsträubenden Irrtümern und theoretischen Rekonstruktionen, die eher den wissenschaftlichen Dilettanten als den auf Augenhöhe mit der jeweiligen Sachlage argumentierenden Forscher erkennen lassen. Benn betrieb angesichts der Stoffmassen, die er in sich aufnahm, vor allem eine Operation, die den Kern seines literarischen Schöpfertums darstellte und die er in seiner Autobiografie "Materialvernichtung" nannte.

Marcus Hahn unternimmt es nun, dieses Verfahren der Materialvernichtung rückgängig zu machen und das vernichtete Material wiederherzustellen. Damit vernichtet er aber mit nie nachlassender Gründlichkeit den Dichter, und das scheint durchaus beabsichtigt. Selten ist die Maßnahme der Entzauberung der alten Mythenbildner und metaphorischen Nebelwerfer mit derart kaltem Herzen und abseits jeglicher Restverständigkeit für etwas, das man Dichtung, Kunst oder auch nur Literatur nennen mag, vorgenommen worden wie im Falle dieses Buches. Gleichwohl oder gerade deswegen begreift Hahn seine Arbeit als den Gipfelpunkt der Benn-Forschung und trägt dieses Selbstverständnis in jedem Kapitel stolz vor sich her.

Der Neuland eröffnende Weg, den einst Friedrich Kittler in der Literaturwissenschaft mit seinen "Aufschreibesystemen" eingeschlagen hat, führt bei Marcus Hahn in ein positivistisches Labyrinth. Darin wird man weder eine gut lesbare Geschichte der Naturwissenschaften im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch neue Erkenntnisse im Hinblick auf das dichterische Ingenium des Dichters Gottfried Benn finden. Vielmehr wird man den Ausgang aus diesem Labyrinth dort entdecken, wo Benn mit seinen destillierten Sprachsubstraten noch immer unsere Nerven erregt und mit manchen aus diesem Material gebauten Versen auch seinen heutige Leser bis ins Mark berühren kann.

CHRISTIAN SCHÄRF

Marcus Hahn: "Gottfried Benn und das Wissen der Moderne".

Band 1: 1905-1920. Band 2: 1921-1932. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. Zusammen 839 S., Abb., geb., 89,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ätsch, es funktioniert nicht!, scheint Christian Schärf dem Autor zuzurufen. Das Geschäft der positivistischen Entzauberung, von Marcus Hahn ebenso detailliert wie prätentiös betrieben, führt den Rezensenten am Ende völlig erschöpft von so viel Wissen, namentlich der Naturwissenschaft um 1900, doch zurück zum Gedicht. Und damit zu Gottfried Benn, dem Vielleser und Oberflächenmontierer, dem Wortmaterialisten und Dilettanten, jawohl Dilettanten! Denn wieso der Dichter aus all dem so akribisch rekonstruierten Wissen eigentlich Lyrik hat machen müssen, diese Antwort bleibt der Autor schuldig. Womöglich, so mutmaßt Schärf böse, weil es gar keinen zwingenden Grund gab, außer: Es klang so gut.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Hahns fulminante Studie ist äußerst anregend, gewinnbringend« (Walter Delabar, literaturkritik.de, 27.09.2016)