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"Es war einmal, es war einmal vor langer Zeit, da geschahen furchtbare Dinge, aber sie geschahen an einem fernen, vergessenen Ort, und der ist, wie wir alle wissen, nicht hier, nicht jetzt, nicht wir." Dieser ferne, furchtbare Ort ist Sarah Island, eine Gefängnisinsel vor der Küste Tasmaniens im 19. Jahrhundert, wo der Sträfling, der sich William Buelow Gould nennt, in einer Zelle auf seine Hinrichtung wartet. Dort schreibt er auf gehortetem Papier und mit der Tinte eines Tintenfisches, mit der Flüssigkeit aus dem Rückgrat eines Seeigels oder dem eigenen Blut seine Erinnerungen. Er war ein…mehr

Produktbeschreibung
"Es war einmal, es war einmal vor langer Zeit, da geschahen furchtbare Dinge, aber sie geschahen an einem fernen, vergessenen Ort, und der ist, wie wir alle wissen, nicht hier, nicht jetzt, nicht wir."
Dieser ferne, furchtbare Ort ist Sarah Island, eine Gefängnisinsel vor der Küste Tasmaniens im 19. Jahrhundert, wo der Sträfling, der sich William Buelow Gould nennt, in einer Zelle auf seine Hinrichtung wartet. Dort schreibt er auf gehortetem Papier und mit der Tinte eines Tintenfisches, mit der Flüssigkeit aus dem Rückgrat eines Seeigels oder dem eigenen Blut seine Erinnerungen. Er war ein Fischer und Dieb in London und wurde zu lebenslanger Haft in Australien verurteilt, der Kontinent, auf den Britannien seine Schwerverbrecher verbannte. Der Gefängnisarzt Lempriere erkannte sein malerisches Talent, holte ihn aus der Zwangsarbeit heraus und übertrug ihm die Aufgabe, die vielen Fischspezies Tasmaniens zu malen - im Interesse der Wissenschaft. Kommandant der Gefängnisinsel ist ein Ex-Sträfling, der sich zur Herrschaft aufgeschwungen hat und nun von einer Verwandlung der Insel in einen Stadtstaat mit dem Glanz und der Kultur Venedigs träumt. Gould verliebt sich in die Mätresse des Gefängniskommandanten, Sally Twopence, und das führt zum Ende seiner künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeit...
Autorenporträt
Richard Flanagan, geboren 1961, wuchs in Tasmanien auf. Er studierte in Oxford und lebt heute mit seiner Frau und drei Töchtern in Tasmanien. 2014 erhielt er für The Narrow Road to the Deep North den Man Booker Prize.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Friedhelm Rathjen eröffnet seinen Verriss des Romans mit einem unbarmherzigen Urteil: Diese Buch komme glatte 250 Jahre zu spät, meint er. Sollte der australische Autor außerdem angestrebt haben, mit seinem Buch Rekorde zu brechen, so attestiert ihm der Rezensent, dass er in "keiner einzigen Disziplin als Erster ins Ziel" gekommen sei. Er versucht für die Leser der Kritik die Handlung des Buches aufzudröseln und erklärt, dass das Buch eine Rahmenhandlung hat, in der ein Kunstfälscher ein seltsames "Buch der Fische" findet, das sich vor der geplanten Veröffentlichung in Wasser auflöst, und mindestens vier Binnengeschichten um den Künstler Gould, der in einem Straflager vor der tasmanischen Küste interniert ist. Insgesamt, so der Rezensent schon ein bisschen erschöpft, ergibt sich daraus ein "wüstes Pandämonium" der unglaublichsten Begebenheiten, die in der Menge ermüdend seien. Rathjen sieht in dem Roman vor allem eine "literarische Trickkiste" und eine "monströse Fiktionsmaschine". Ihm scheint zudem, Flanagan versuche die Leser mit einer großen Zahl von literarischen Anspielungen und Zitaten von Melville bis Joyce zu blenden, wobei ihm dies in der Gesamtheit wie die "Verniedlichung der Moderne ins Karikaturistische" vorkommt. Leser, die "Leichtigkeit" und "Unverbindlichkeit" suchen, kommen durchaus auf ihre Kosten, so der Rezensent abschätzig, wer allerdings "das Unbedingte und das Exzessive" erhofft, wird nicht viel Freude haben. Zum Schluss lüftet Rathjen noch das Geheimnis, wie er auf die Verspätungszeit von einem Vierteljahrtausend für diesen Roman kommt: Er fühlt sich nicht nur durch die Abschweifungen und ihre Kommentierung an "Tristam Shandy" erinnert, und dieser Roman Sternes, so der Rezensent bissig, sei schon vor fast 250 Jahren entstanden.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Goulds Buch der Fische ist ein Roman über die Fische so wie Moby Dick ein Buch über Wale ist oder Ulysses ein Roman über die Ereignisse eines einzigen Tages." (Michiko Kakutani, The New York Times)

"Goulds Buch der Fische ist sicher einer der exzentrischsten Romane der letzten Jahre. Richard Flanagans "Roman in zwölf Fischen" wetteifert mit anderen ehrgeizigen epischen Großunternehmen wie David Foster Wallaces Infinite Jest und Thomas Pynchons Mason & Dixon ... Goulds Buch der Fische ist wie diese Romane ein Experiment: es verzaubert, es erstaunt, es irritiert ... Dieser ungewöhnliche Autor bleibt einzigartig, eines der ehrgeizigsten Talente des Romans, er ist ein Autor, der unsere Aufmerksamkeit erzwingt." (Los Angeles Times Book Review)

Ben Gould, Kleinkrimineller und mäßig begabter Maler, wird im 19. Jahrhundert als Sträfling nach Australien verfrachtet und landet in der schlimmsten Strafkolonie - auf der Insel Tasmanien. Dort malt er im Auftrag des Gefängnisarztes die seltsamen Fische, die den pazifischen Ozean bevölkern. Doch wenn er nicht gerade in seiner von der Flut täglich zweimal überspülten Zelle fast ertrinkt, nutzt er Stifte und Papier um sein Leben aufzuschreiben. Laut New York Times ist das Werk "ein Roman über Fische sowie Moby Dick ein Buch über die Wale ist". Also ein Buch, in dem der Leser eine ganze Welt findet. (X-Mag)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2003

Die Kiemen der Finsternis
Post- und strafkolonial: Richard Flanagans magischer Realismus

Blutende Herzen, eingepökelte Köpfe, menschenfressende Schweine; Kastration, Folter und Mord, und über allem die Miasmen von schwärendem Eiter, Exkrementen und Verwesung: Dieser Roman schwimmt in monströsen Greueln und gräßlichen Gerüchen. Um so ästhetischer ist er anzuschauen: Mehrfarbig gedruckt, mit je einem aquarellierten Fisch für jedes Kapitel, ist er Kleinod zartbunter Schönheit. Die Druckfarben - Blutrot, Seeigelpurpur, Kackbraun - erinnern freilich an die unerquicklichen Situationen und Substanzen, aus denen der Autor seine Tinten gewann, die Rochen, Koffer- und Drückerfische an den Ort seiner Verbannung: Sarah Island, die Gefängnisinsel vor der Küste Tasmaniens.

Hier, in seiner Todeszelle, malte der Mörder William Buelow Gould zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein "Buch der Fische". Es gibt dieses Werk wirklich; Gould ist eine historische Figur. Aber Flanagans Roman ist so wenig ein Buch über Fische wie "Moby Dick" eines über den Wal. Es ist vielmehr ein großes Epos über die Geburt der australischen Nation aus dem Geist einer kafkaesken Strafkolonie, eine ehrgeizige Reflexion über Aufgaben und Grenzen postkolonialer Literatur und eine durchaus lebendige "Naturgeschichte des Toten".

Flanagan lebt in Tasmanien, dem Hinterwald Australiens, und hat in Oxford Geschichte studiert. Er weiß also, wovon er spricht, wenn er am Angelhaken einer Fischenzyklopädie dunkle Mythen und Wunder, schaurige Foltertechniken und phantastische Visionen aus dem stehenden Wasser der Vergangenheit fischt: von den Exzessen kolonialer Landnahme (und ihrer Verdrängung heute), vom Leiden der Zuchthäusler und Ureinwohner, denen sich alle farbenprächtigen Verheißungen der Aufklärung - Humanität, Fortschritt, Vernunft, Freiheit - zu schwarzweißen Karikaturen verzerrten.

Gould, der zur Kunst erpreßte Zuchthäusler und Opportunist aus Notwehr, sucht wie Voltaires Candide die beste aller Welten und findet ausgerechnet im Südseeparadies die Hölle: eine Insel, auf der Menschen im Namen von Wissenschaft, Recht und Handel klassifiziert, gefoltert und getötet werden, ein Naturgefängnis, halb Disneyland, halb KZ, in dem Gefangene und Schließer, Täter und Opfer in stumpfsinniger Symbiose leben. Wie in den Romanen von García Márquez brütet dieser üppige Dschungel Monster und Mißgeburten aus, absolutistische Patriarchen und skurrile Hofschranzen, Untertanen und Rebellen.

Der Kommandant, ein Diktator mit Visionen, will aus der Gefängnisinsel ein neues Venedig machen. Er erbaut Paläste, Bahnhöfe und Straßen; aber es gibt keine Züge und keine freien Bürger, nur Kettensträflinge und schwarze Sklaven, siamesische Huren und japanische Holzfäller, und so versinken die Wunderwerke der Zivilisation bald wieder in Schimmel und Vogelmist, "ein trauriger Haufen in Scheiße gehülltes Europa" und am Ende ein Raub der Flammen. Der utopische Versuch dieses Nero, aus einer Strafkolonie eine Handels- und Kulturnation zu machen, scheitert, und es bleibt seinem Archivar, einem dänischen Bibliothekar, vorbehalten, eine Geschichte voller Grausamkeit und Häßlichkeit in die Chronik einer Idealgesellschaft umzulügen.

Auch Gould, der im Auftrag des Gefängnisarztes Fische malt, muß erkennen, daß seine Kunst weder Privileg noch Mittel der Erkenntnis, sondern Strafe und Lüge war: "Koloniale Kunst ist die komische Fertigkeit, dem Neuen den Schein des Alten zu verleihen, dem Unbekannten den des Bekannten, dem Antipodischen den des Europäischen, dem Verächtlichen den des Respektablen." Alle sind Betrüger: Der große Diktator ist ein entflohener Sträfling, der wie ein Messias erwartete Befreier ein Phantom, der Künstler ein Hochstapler und Fälscher, der, statt "nach der Natur" zu malen, seine Fische als Karikaturen seiner Peiniger, Geliebten und Mithäftlinge anlegt; selbst der sinistre Herausgeber des Fischbuchs verkauft nebenbei gefälschte Antiquitäten an Touristen.

Es gehört zur Logik der Kunst und zur Tragödie des Malers, daß er seine Fische sterben lassen muß, um sie als Modelle und Kronzeugen seiner Lebensphilosophie benutzen zu können. So verwandelt sich auch Gould, der pikareske Held, in einer Art "umgekehrter Evolution" im Tod wieder in einen Fisch, der stumm und ungerührt seine Bahn zieht. Die Geschichte fällt, wie in Ransmayrs "Letzter Welt", an die Natur und den Mythos, der lineare Fortschritt in den ewigen Kreislauf Ovidischer Metamorphosen zurück. "Es gibt kein Europa mehr, das es wert wäre, imitiert zu werden, nur dieses Leben, das wir kennen, in all seiner staunenswerten Verkommenheit und Pracht."

"Goulds Buch der Fische" ist als Fälschung getarnte Wahrheit, aus Abschaum destillierte barocke Schönheit: ein Triumph aufgeklärter Kunst. Flanagans dritter Roman wurde von enthusiastischen Kritikern mit Dante, Sterne, Fielding, Blake, Hugo, Faulkner, Dostojewski, Conrad und etlichen mehr verglichen und zu Recht mit dem Commonwealth-Preis ausgezeichnet: Es ist einer jener Flaschenpostbriefe von den Antipoden des Empire, aus denen die angelsächsische Literatur immer wieder neue Impulse zieht. Das "erste Meisterwerk des 21. Jahrhunderts" ist es freilich nicht. Dafür bleiben die Figuren in ihrer Bizarrerie zu flach, die Piranesi-Kerker, Walfängerspelunken und aboriginalen Zauberwälder zu kulissenhaft, die moralischen Allegorien zu aufdringlich, und das postmoderne Brimborium der Herausgeberfiktionen, Zitate, Anspielungen, selbstreflexiven Schleifen, in Körper geritzten Schriftzeichen und verrückten Bibliothekare - Jorgen Jorgensen erinnert nicht zufällig an Borges und seinen Wiedergänger in Ecos "Name der Rose" - ist oft nur ermüdend.

Flanagan kann sinnlich, hymnisch-pathetisch und dann wieder ironisch erzählen, als sei er der Statthalter des magischen Realismus in Australien. Aber wie sehr er auch mit dem Image des Naturburschen kokettiert, der tabula rasa mit abendländischen Exotismusprojektionen macht und nur in seinem Element ist, wenn er durch Blut, Schmutz und Scheiße watet: In Wahrheit ist er mit allen Wassern der Alten Welt gewaschen.

MARTIN HALTER

Richard Flanagan: "Goulds Buch der Fische". Ein Roman in zwölf Fischen. Aus dem Englischen übersetzt von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 462 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Im siebten Kreis der Schöpfung
Der Australier Richard Flanagan erzählt in seinem Roman „Goulds Buch der Fische” die Geschichte seines Kontinents
Was für ein Buch! Gebunden in grünlich-schimmerndes Leinen, an das irisierende Schuppenkleid der Fische erinnernd. Geschmückt mit zwölf Aquarellen aus dem „Buch der Fische” des vermutlich 1831 umgekommenen Sträflings William Buelow Gould, das bis heute in der Allport Library in Hobart auf der Insel Tasmanien aufbewahrt wird. Und gedruckt in mehreren verschiedenen Farbtönen, die denen der Tinten entsprechen, die sich der Sträfling aus Blut und anderen Grundstoffen gefertigt hat.
Was für ein Buch? Geschrieben hat es der 1961 auf Tasmanien geborene Autor Richard Flanagan. Das heißt, er hat den Taugenichts und Antiquitäten- Betrüger Sid Hammet erfunden, welcher dann ein Pendant zu besagtem Buch im Trödel findet, über dessen vielsträngiger Lektüre zu einem Besessen- Erleuchteten wird, später das Buch auf einem Spelunkentresen sich in eine Pfütze verwandeln sieht und daraufhin – darangeht, die 400 Seiten Text aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren.
Schon nach 40 Seiten hat dieser Roman damit eine Buch- und Herausgeber- Fiktion entworfen, die alles Mögliche wie auch Unmögliche, alles Sagbare wie Unsägliche erwarten lässt. Und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Flanagan seine Ansprüche nicht ein Grad niedriger angesetzt hat. „Goulds Buch der Fische” ist ein Buch über die Kraft und die Wahrheit der Kunst, es ist ein Buch über den Sinn und Unsinn der Geschichte und des Erzählens. Es ist eine Klage über die Unmenschlichkeit des Menschen ebenso wie ein Hohelied der Humanität. Und vielleicht vor allem ist es der Versuch einer Entstehungsgeschichte der australischen Kultur aus dem Geiste einer von vertierten Gefängnisaufsehern und ihren Opfern betriebenen Verklärung jenes nachaufklärerisch-industriellen Europas, das sie zuvor ausgespieen und erniedrigt hat.
Die Kunst in der Sträflingshölle
Protagonist dieses unerhörten literarischen Ansinnens ist eben jener William Buelow Gold, der nach allerlei Irrfahrten durch die alte Welt Europas und die neue Nordamerikas seine letzten Jahre auf Sarah Island, einer Sträflingsinsel vor Tasmanien verbringt. Gould ist der Pikaro, der Herumtreiber, der die Welt von schräg unten ansieht, er ist der Simplicius, dessen Vereinfachungen sich als philosophisch-satirische Finten erweisen. Und schließlich ist Gould der Künstler! Ein gelernter Fälscher, ein Maler elender Wirtshausschildern und noch elenderer Kolonialpopanzen, Hersteller von Gebrauchskunst und gerade deshalb der Kunst gegenüber ebenso skeptisch wie enthusiastisch. Als der Gefängnisarzt ihn die Fische der australischen Gewässer malen lässt, weil er sich durch die Lieferung wissenschaftlichen Materials nach London Aufnahme in die Royal Society verspricht, bekommt Gould nicht nur die Chance, dem schlimmsten Sträflingselend zu entgehen – er findet auch seine Zentralmetapher: Durch die Betrachtung und Abbildung der Fische hindurch schreibt er fortan seiner und überhaupt der Welt „down under” eine Art naturphilosophischen Subtext: jenes „Buch der Fische”, das sich 170 Jahre später auf einem Kneipentresen liquidieren wird.
Wer nun hingehen und diesem prallvollen Text seine „zentralen Aussagen” abziehen wollte, der täte dem Buch Unrecht, auch wenn Gould im Angesicht der Sträflingshölle wahre Unmengen von Anmerkungen über Sinn und Unsinn der Existenz aneinander reiht. Denn Richard Flanagan ist weniger an der (Re)Konstruktion authentischer Sträflingserfahrungen interessiert. Er will sehr viel mehr: er entwirft Sarah Island als eine vollkommen negative Welt, deren verschiedene Protagonisten (darauf weist nachdrücklich eine als „Epilog” bezeichnete Gebrauchsanweisung für das Buch) allesamt Varianten des gleichen ur-australischen Bewusstseins sind.
Sarah Island ist der Staats-Versuch, die alten (ästhetischen) und neuen (wissenschaftlich-industriellen) Errungenschaften Europas auf der anderen Seite der Erde, in einer Gesellschaft zu entwickeln, die keine Alltags- Humanität mehr kennt und in der der Einzelne nur nach dem Maß seiner Arbeitsleistung zählt.
So ist der Kommandant ein technokratischer Despot, der seine Kolonie durch Ströme von Sträflingsblut in eine Welt des Handelsglücks führen will. Dabei verkauft er Mensch und Natur, träumt aber hinter einer goldenen Gesichtsmaske den Traum einer Verbindung von Technik, Schönheit und Prosperität. Nachdem er einen Bahnhof hat bauen lassen, wundert er sich, dass nicht gleich von überall her die Schienenstränge seine Insel erreichen. Der Gefängnisschreiber und -chronist ist eine allgegenwärtig-tote Instanz zur Etablierung von Beschönigungen und Lügen als den gültigen Wahrheiten der auf totale Bürokratie begründeten Gefängniswelt. Und der Gefängnisarzt ist ein Monstrum von Dickens’schem Zuschnitt, dem die lebendige Welt eine Sammlung von nur noch nicht präpariertem Material für die naturkundlichen Sammlungen, für die Auffüllung der Leerstellen im System des Linnaeus ist. Am Antipol ihres Ursprungs ist seine Wissenschaft nicht nur ein totes, sondern ein im höchsten Grade todbringendes System. Und die meisten Gefangenen sind Inkarnationen der schieren Deformation.
Den Doktor frisst übrigens bis auf Kopf und ein paar Knochen ein riesiges Zuchtschwein. Um nicht selbst in Verdacht zu geraten, schmuggelt Gould die Reste daraufhin unter die versandfertigen Schädel der (eigens dafür abgeschlachteten) Eingeborenen. Später kann er dann nachlesen, dass ausgerechnet dieses Präparat No. 36 im gelehrten Europa als sprechender Beleg für die ethische und intellektuelle Minderwertigkeit der australischen Rasse kursiert.
Ein Monstrum frisst sich selbst
Ich erwähne diese Episode mit Bedacht. Sie steht zwar unter Hunderten von ähnlichen, die Gould als Beispiele für das Grund-Verkehrte der australischen Bewusstseins-Genese festhält – doch zeigt sich hier auch besonders deutlich das Grundproblem von Richard Flanagans Romanunternehmen. Es ist das Problem des Zuviel. Beständig will der Text alles sein, hier zum Beispiel: eine tolldrastisch-komische Geschichte, dazu bei der Schilderung der sich permanent überbietenden Grausamkeiten auf der Sträflingsinsel eine Übung im hautnächsten Realismus, und schließlich überdies eine Parabel auf das sich selbst und seine Diener fressende Monstrum einer systematischen Wissenschaft, die um der Ordnung Willen alles totschlägt. Was hier noch (vom schwarzen Humor geschmiert) ganz gut funktioniert; an vielen vielen anderen Stellen führt dieses „Zuviel” zur wechselseitigen Neutralisierung der übereinander geschichteten Text-Komponenten.
Zu den Grausamkeiten, die in diesem Buch nach olympischen Maßstäben gesteigert werden, sagt die historische Parabel: Blut ist ja nur ein Sinnbild. Zu den Haupt-, Staats- und Kunstideen auf Sarah Island, die der Sträfling hütet wie einen Fischschwarm, sagt der blutige Realismus der Darstellung: Denken ist ja nur eine Ausflucht des geschundenen Geistes. Die Darstellung der australischen Geschichte droht immer wieder im Philosophisch-Allegorischen, die Allegorie in Blut, Schweiß und Tränen zu ersticken.
Dennoch möchte ich zur Lektüre von „Goulds Buch der Fische” raten - und das nicht nur als eine Art Grundkurs in zeitgenössischer australischer Selbstreflexion. Australien ist schließlich überall, spätestens seit die Sträflingslager und ihre negativen Staats-Ideen nach Europa zurückgekehrt sind. Erstaunlich und Hoffnung stiftend ist überdies das Vertrauen in die Kraft und die Möglichkeiten der Literatur, das der Sträfling William Buelow Gould mit seinem Autor teilt. Und wenn dabei dem Roman zuviel zugemutet wird, ist das allemal leichter zu entschuldigen, als wenn sich die Literatur mit ihrer Marginalisierung bescheidet und zu wenig vornimmt.
BURKHARD SPINNEN
RICHARD FLANAGAN: „Goulds Buch der Fische”. Ein Roman in zwölf Fischen. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Berlin Verlag, Berlin 2002. 459 Seiten, 24,– Euro.
Lorraine Coe – die Meerjungfrau. In eine ichthyophile Nixe hat der englische Modefotograf David Bailey sein Modell für den Lamb’s Navy Rum Kalender verwandelt. Nicht mit der Schwanzflosse lockt hier die Frau mit dem spröden Blick, um den Mann in die Tiefen des Meeres zu ziehen, sondern mit einer sinnlichen Fischstola. Es sind zugegebenermaßen zwei prächtige Exemplare von Fisch, wenn auch tot. Auf einem anderen Foto schaut Coe, in Anspielung romantischer Motivwelt, sehnsüchtig auf das Meer. An ihrer Seite ein Hund als treuer Gefährte. Mehr von den Schönen der Schönen gibt es in dem eben jetzt erschienen Farbbildband von David Bailey zu sehen. Der Band versammelt die besten seiner seit 1960 entstandenen Fotos und trägt den vielsagenden Titel „Chasing Rainbows” (Steidl Verlag, Göttingen 2002. 224 Seiten, 45 Euro). flow
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"Eine tasmanische Version von Ovids 'Metamorphosen'... Ein überbordendes, prachtvoll geschriebenes, ehrgeiziges Werk ... Gould reist ebenso ins Zentrum des Schreckens wie Marlow ins 'Herz der Finsternis' ... Es ist eine große Geschichte, wunderbar erzählt. Flanagan macht vollendeten Gebrauch von der Fähigkeit der Erzählung, einige der dunkelsten Wahrheiten unserer Geschichte umstandslos und leicht zu transportieren." (Australian Book Review) "'Goulds Buch der Fische' ist ein Roman über die Fische so wie 'Moby Dick' ein Buch über Wale ist oder 'Ulysses' ein Roman über die Ereignisse eines einzigen Tages." (Michiko Kakutani, The New York Times)

"'Goulds Buch der Fische' ist sicher einer der exzentrischsten Romane der letzten Jahre. Richard Flanagans 'Roman in zwölf Fischen' wetteifert mit anderen ehrgeizigen epischen Großunternehmen wie David Foster Wallaces 'Infinite Jest' und Thomas Pynchons 'Mason & Dixon' ... 'Goulds Buch der Fische' ist wie diese Romane ein Experiment: es verzaubert, es erstaunt, es irritiert ... Dieser ungewöhnliche Autor bleibt einzigartig, eines der ehrgeizigsten Talente des Romans, er ist ein Autor, der unsere Aufmerksamkeit erzwingt." (Los Angeles Times Book Review)