Freiheit ist eine der drei Forderungen der Französischen Revolution. Freiheit auch für die Kunst? Berühmtester Protagonist einer neuen - liberalen - Kunst ist der spanische Hofmaler Francisco Goya, der dem bürgerlichen Welt- und Menschenbild in seinem Werk Ausdruck gibt. Jörg Traeger benennt die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und politischen Bedingungen für Goyas Å'uvre und beleuchtet die zukunftsweisenden Konsequenzen für die " Freiheit" des Künstlers bis hin zu Exil und Entfremdung im 20. Jahrhundert.Im Zentrum des Buches steht der weltgeschichtlich neue Typus des Liberalen, der zwischen Revolution und Reaktion eine mittlere Position vertritt. Künstlerisch überragendster Protagonist dieses liberalen Geistes ist Goya, Hofmaler und Portraitist der aristokratischen Gesellschaft Spaniens im Zeitalter Napoleons. In exemplarischen Analysen bestimmt Jörg Traeger die Pole der "gespaltenen" Kunst Goyas - vom offiziellen Gesellschaftsporträt bis zum inoffiziellen Capriccio. Daß Liberalität aber nur um den Preis des Kompromisses zu gewinnen ist, belegen die Lebensstationen des Künstlers: Hofmaler einer dekadenten Monarchie, Kollaborateur unter Napoleon, schonungsloser Ankläger von Inquisition und Folter während der Bourbonischen Restauration. Von Goya ausgehend erörtert Jörg Traeger die neu entstandene Staatsmalerei, die Modi des Obszönen und der Ironie in der Kunst, das Bild des Krieges und des Nichts in epochen- und länderübergreifendem Zusammenhang. Damit spannt er den Bogen von den theoretischen Voraussetzungen einer Kunst der Freiheit in Antike und Renaissance bis zu Exil und Entfremdung des Künstlers in der Gegenwart. Goyas Freiheit erweist sich zuletzt als unser aller Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Reichlich ungeniert
Jörg Traegers Goya ist so frei / Von Werner Hofmann
Im Zentrum der Familie Karls IV. steht die Königin. In seiner eindringlichen Analyse des großen Gruppenporträts verweist Jörg Traeger auf eine zeitgenössische Quelle, wonach "den größten körperlichen Vorzug María Luisas offenbar ihre Arme" darstellten. Goya scheint diesem Körperteil zu huldigen, denn die Königin zeigt ihren linken Arm in geradezu provozierender, vulgärer Nacktheit.
Im Kontext von Traegers Untersuchungen wäre der Leser nicht überrascht, wenn er die Fülle dieses Armes als Metapher der Freigebigkeit nachgewiesen fände, einer "liberalidad", die der Verfasser etymologisch aus den artes liberales ableitet. Dabei fällt sein assoziierender Blick auf die Liberalità aus der Ikonologie des Cesare Ripa: eine Frauengestalt mit zwei Füllhörnern. Später wird Traeger das letzte Blatt der "Desastres" - die junge, barbusige Bäuerin mit dem gefüllten Korb - dieser Motivkette einfügen: "Die Freigebigkeit der Natur erweist sich als Sinnbild natürlicher Freigebigkeit." Traeger rückt María Luisa nicht in diese Reihe ein, obgleich die Königin es an (sexueller) Freizügigkeit nicht fehlen ließ. Er begnügt sich damit, das Bild als "die entschiedenste Selbstdarstellung liberaler Kunst im monarchischen System" hervorzuheben.
Damit ist das Ziel der Untersuchung benannt. Goya wird als Galionsfigur des Liberalismus in der Kunst dargestellt. Dieser Ort ist dem großen Traditionsbrecher noch nie zugewiesen worden. Traeger fixiert bisweilen zu beharrlich. Die "Caprichos" sieht er als ein "Manifest liberalen Geistes", im Selbstbildnis mit Zylinder entdeckt er den "betrachtenden Partner der Provokationen einer freien Kunst im Zeitalter des Liberalismus", und im berühmten "Traum/Schlaf der Vernunft" stellt sich ihm der Grundsatz "eines Ausgleichs zwischen den Gegensätzen" dar, der "Gewinn der Mitte".
Selbstredend greift sich diese Sicht aus den Schwarzen Gemälden, die der alte Goya für sein Landhaus malte, gerade "Asmodea" heraus, das fliegende Menschen- oder Dämonenpaar, hinter dem eine Stadt (oder Festung) auf einem Felsen aufragt - für Traeger "utopischer Hinweis auf die lichte Festung eines den Niederungen todbringender Staatsgewalten entrückten, freien Gemeinwesens". Es wäre ungerecht, die fundierte Untersuchung nur nach verkürzten Argumenten abzusuchen. Daß ein Autor sieht, was er sehen will, ist jedem vertraut, der selbst mit Thesen und Hypothesen umgeht. Traeger steuert, auch wenn er aus dem Liberalismus dessen Gegenteil, ein Prokrustesbett, zimmert, viele wichtige Beobachtungen zum Werkverständnis bei. Er verankert den Maler, den man bei den Exorzisten und den Impressionisten, den Expressionisten und den Surrealisten untergebracht hat, in den gesellschaftlichen Prozessen seiner Zeit, ohne sein demokratisches Engagement überzubewerten.
Als Goya 1792 der Aufforderung folgte, Vorschläge zu einer Reform der Akademie auszuarbeiten, schlug er nicht den pragmatischen Weg seiner Kollegen ein, sondern entschied klipp und klar, "daß es in der Malerei keine Regeln gibt und daß der Zwang oder die Verpflichtung, alle auf gleiche Weise studieren zu lassen, ein großes Hindernis für die Jungen ist". Für Traeger entspricht das dem freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb: "Dabei wird das liberale Konkurrenz- und Leistungsprinzip auch als Grundlage für sozialen Aufstieg begriffen."
In der Akademiekritik spricht der Lehrer und Hofmaler, nicht der Künstler, der in der Liberalität auch den Kampf aller gegen alle wahrnimmt. Goya sieht das schärfer als alle Zeitgenossen. Das ist nicht der gesellschaftlichen Situation Spaniens zuzschreiben, sondern seiner Persönlichkeit. In einem schönen Kapitel werden Goya, David und Heine unter dem Gesichtspunkt des Exils behandelt als der Konsequenz der liberalen Umwälzungen. Traegers anspruchsvoller Versuch über Goya richtet sich zugleich auf die Bewußtseinslage der Epoche, in der die Forschung allenthalben die Inkubationsphase der Moderne erkennt. Folglich bekommen auch David und die Maler seiner Schule das liberale Alibi angeheftet, desgleichen Goethe und Schiller.
Für die Brüche und Umbrüche "um 1800" bietet sich ein Wort an, das Goethe auf Mantegna münzte: Doppelleben. Das meint Traeger offenbar, wenn er von zweigleisigen Verfahren und Doppelstrukturen spricht, wenn er in der bürgerlichen Kunst der Freiheit das Dilemma einer "Ästhetik des gebrochenen Ranges" (das gab es schon früher!) erkennt, die sich mit Ironie gegen "absolute Ansprüche" zur Wehr setzt. Zwar übersieht Traeger nicht die tiefgreifenden Zwiespälte des "Liberalismus in der Kunst", doch neigt er dazu, sie in einer Wunschgestalt zu versöhnen, in ebendem Liberalen, der als Mensch des Ausgleichs in freiheitlicher Distanz zu den Extremen lebt und sich im Sowohl-Als-auch eingerichtet hat. Lesen wir ein Parteiprogramm unserer Tage, das es jedem recht machen will? Wenn dem Liberalen obendrein die Bereitschaft zu "wechselnden Koalitionen" nachgesagt wird, gerät Goya unter die Gesinnungsbürgen politischer Wendehälse. Auch Zitate von Goethe, Schiller und Thomas Mann, die das liberale Verhalten hochstilisieren, machen es nicht zu einem Stimulans im Vorstellungshaushalt des Künstlers. Dieser bezieht sein Doppelleben aus tieferen Schichten. Gotthilf Heinrich von Schubert attestierte Caspar David Friedrich ein "Zweigespann der Gemütsstimmungen", für Schiller war das Erhabene ein gemischtes Gefühl aus Wehsein und Frohsein, dem "delightful horror" nachempfunden. Solche Erfahrungen haben nicht einmal tangential mit liberalem Verhalten zu tun.
Goyas wechselnde Bündnisse machen ihn nicht zu einem Maler der Kompromisse. Er war bestenfalls in dem Sinn ein Liberaler, daß er die Zwiespälte der Kunst nicht in falsche Synthesen preßte, sondern immer wieder aufdeckte und gegeneinander ausspielte. Wie er sich 1792 gegen die Regeln in der Kunst aussprach, so durchschaute er auch die gesellschaftlichen Regeln mit zynischer Skepsis. Das zeigt seine Ankündigung der "Caprichos" (1799), die Traeger nicht untersucht. Goya bekennt, er habe neben den üblichen Launen und Fehlhandlungen, den herkömmlichen Schwindeleien, neben Ignoranz und Wichtigtuerei jene Übelstände herausgegriffen, die Grund zur Lächerlichkeit geben und zugleich "die Phantasie des Künstlers anregen". Noch deutlicher sagt das Goethe 1805 in seinen Tag- und Jahresheften: "Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern? Die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden."
Nochmals: Das liberale Verhalten ist bloß die soziale, praktikable Spielart des Doppellebens und der Entzweiungen, die Goyas und Goethes Epoche kennzeichnen. Wo die Politiker nach Spielregeln und Kompromissen suchen, überschreiten Künstler wie Goya die Grenze zum Absurden. Dort trägt die von Traeger hartnäckig behauptete Analogie von Politik und Kunst nicht mehr. Ein Politiker, der nach rechts und nach links blickt, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Der Januskopf des Künstlers zieht aus seinen Doppelrollen das Kapital der unauflösbaren Mehrsinnigkeit.
Jörg Traeger hat einen wichtigen Beitrag zur Goya-Forschung geleistet und neue Anstöße zur Epochenanalyse gegeben. Unbeirrt glaubt er bis zur letzten Seite, im Liberalismus der Kunst so etwas wie den "Wesenssinn" (Panofsky) der Epoche aufgedeckt zu haben. Indem er Goya als Symbolfigur ausbeutet, schneidet er ihn sich zur ideologischen Attrappe zurecht und nimmt für seine Deutung die Freiheit in Anspruch, die Panofsky der Ikonologie einräumte: der von ihr ermittelte "Wesenssinn" erschließt sich dem Kunsthistoriker, kann jedoch dem Künstler verborgen bleiben. Vielleicht sollte man Traegers Buch zu den Symptomen des Zeitgeistes rechnen: Ein Kunsthistoriker analysiert die Ursprünge der "neuen Mitte", in der heute die Konvergenz von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit gefeiert wird. Nicht alle Künstler legen sich darüber Rechenschaft ab.
Jörg Traeger: "Goya". Die Kunst der Freiheit. Verlag C. H. Beck, München 2000. 220 S., 66 Farb- u. SW-Abb., br., 48,- DM.
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Jörg Traegers Goya ist so frei / Von Werner Hofmann
Im Zentrum der Familie Karls IV. steht die Königin. In seiner eindringlichen Analyse des großen Gruppenporträts verweist Jörg Traeger auf eine zeitgenössische Quelle, wonach "den größten körperlichen Vorzug María Luisas offenbar ihre Arme" darstellten. Goya scheint diesem Körperteil zu huldigen, denn die Königin zeigt ihren linken Arm in geradezu provozierender, vulgärer Nacktheit.
Im Kontext von Traegers Untersuchungen wäre der Leser nicht überrascht, wenn er die Fülle dieses Armes als Metapher der Freigebigkeit nachgewiesen fände, einer "liberalidad", die der Verfasser etymologisch aus den artes liberales ableitet. Dabei fällt sein assoziierender Blick auf die Liberalità aus der Ikonologie des Cesare Ripa: eine Frauengestalt mit zwei Füllhörnern. Später wird Traeger das letzte Blatt der "Desastres" - die junge, barbusige Bäuerin mit dem gefüllten Korb - dieser Motivkette einfügen: "Die Freigebigkeit der Natur erweist sich als Sinnbild natürlicher Freigebigkeit." Traeger rückt María Luisa nicht in diese Reihe ein, obgleich die Königin es an (sexueller) Freizügigkeit nicht fehlen ließ. Er begnügt sich damit, das Bild als "die entschiedenste Selbstdarstellung liberaler Kunst im monarchischen System" hervorzuheben.
Damit ist das Ziel der Untersuchung benannt. Goya wird als Galionsfigur des Liberalismus in der Kunst dargestellt. Dieser Ort ist dem großen Traditionsbrecher noch nie zugewiesen worden. Traeger fixiert bisweilen zu beharrlich. Die "Caprichos" sieht er als ein "Manifest liberalen Geistes", im Selbstbildnis mit Zylinder entdeckt er den "betrachtenden Partner der Provokationen einer freien Kunst im Zeitalter des Liberalismus", und im berühmten "Traum/Schlaf der Vernunft" stellt sich ihm der Grundsatz "eines Ausgleichs zwischen den Gegensätzen" dar, der "Gewinn der Mitte".
Selbstredend greift sich diese Sicht aus den Schwarzen Gemälden, die der alte Goya für sein Landhaus malte, gerade "Asmodea" heraus, das fliegende Menschen- oder Dämonenpaar, hinter dem eine Stadt (oder Festung) auf einem Felsen aufragt - für Traeger "utopischer Hinweis auf die lichte Festung eines den Niederungen todbringender Staatsgewalten entrückten, freien Gemeinwesens". Es wäre ungerecht, die fundierte Untersuchung nur nach verkürzten Argumenten abzusuchen. Daß ein Autor sieht, was er sehen will, ist jedem vertraut, der selbst mit Thesen und Hypothesen umgeht. Traeger steuert, auch wenn er aus dem Liberalismus dessen Gegenteil, ein Prokrustesbett, zimmert, viele wichtige Beobachtungen zum Werkverständnis bei. Er verankert den Maler, den man bei den Exorzisten und den Impressionisten, den Expressionisten und den Surrealisten untergebracht hat, in den gesellschaftlichen Prozessen seiner Zeit, ohne sein demokratisches Engagement überzubewerten.
Als Goya 1792 der Aufforderung folgte, Vorschläge zu einer Reform der Akademie auszuarbeiten, schlug er nicht den pragmatischen Weg seiner Kollegen ein, sondern entschied klipp und klar, "daß es in der Malerei keine Regeln gibt und daß der Zwang oder die Verpflichtung, alle auf gleiche Weise studieren zu lassen, ein großes Hindernis für die Jungen ist". Für Traeger entspricht das dem freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb: "Dabei wird das liberale Konkurrenz- und Leistungsprinzip auch als Grundlage für sozialen Aufstieg begriffen."
In der Akademiekritik spricht der Lehrer und Hofmaler, nicht der Künstler, der in der Liberalität auch den Kampf aller gegen alle wahrnimmt. Goya sieht das schärfer als alle Zeitgenossen. Das ist nicht der gesellschaftlichen Situation Spaniens zuzschreiben, sondern seiner Persönlichkeit. In einem schönen Kapitel werden Goya, David und Heine unter dem Gesichtspunkt des Exils behandelt als der Konsequenz der liberalen Umwälzungen. Traegers anspruchsvoller Versuch über Goya richtet sich zugleich auf die Bewußtseinslage der Epoche, in der die Forschung allenthalben die Inkubationsphase der Moderne erkennt. Folglich bekommen auch David und die Maler seiner Schule das liberale Alibi angeheftet, desgleichen Goethe und Schiller.
Für die Brüche und Umbrüche "um 1800" bietet sich ein Wort an, das Goethe auf Mantegna münzte: Doppelleben. Das meint Traeger offenbar, wenn er von zweigleisigen Verfahren und Doppelstrukturen spricht, wenn er in der bürgerlichen Kunst der Freiheit das Dilemma einer "Ästhetik des gebrochenen Ranges" (das gab es schon früher!) erkennt, die sich mit Ironie gegen "absolute Ansprüche" zur Wehr setzt. Zwar übersieht Traeger nicht die tiefgreifenden Zwiespälte des "Liberalismus in der Kunst", doch neigt er dazu, sie in einer Wunschgestalt zu versöhnen, in ebendem Liberalen, der als Mensch des Ausgleichs in freiheitlicher Distanz zu den Extremen lebt und sich im Sowohl-Als-auch eingerichtet hat. Lesen wir ein Parteiprogramm unserer Tage, das es jedem recht machen will? Wenn dem Liberalen obendrein die Bereitschaft zu "wechselnden Koalitionen" nachgesagt wird, gerät Goya unter die Gesinnungsbürgen politischer Wendehälse. Auch Zitate von Goethe, Schiller und Thomas Mann, die das liberale Verhalten hochstilisieren, machen es nicht zu einem Stimulans im Vorstellungshaushalt des Künstlers. Dieser bezieht sein Doppelleben aus tieferen Schichten. Gotthilf Heinrich von Schubert attestierte Caspar David Friedrich ein "Zweigespann der Gemütsstimmungen", für Schiller war das Erhabene ein gemischtes Gefühl aus Wehsein und Frohsein, dem "delightful horror" nachempfunden. Solche Erfahrungen haben nicht einmal tangential mit liberalem Verhalten zu tun.
Goyas wechselnde Bündnisse machen ihn nicht zu einem Maler der Kompromisse. Er war bestenfalls in dem Sinn ein Liberaler, daß er die Zwiespälte der Kunst nicht in falsche Synthesen preßte, sondern immer wieder aufdeckte und gegeneinander ausspielte. Wie er sich 1792 gegen die Regeln in der Kunst aussprach, so durchschaute er auch die gesellschaftlichen Regeln mit zynischer Skepsis. Das zeigt seine Ankündigung der "Caprichos" (1799), die Traeger nicht untersucht. Goya bekennt, er habe neben den üblichen Launen und Fehlhandlungen, den herkömmlichen Schwindeleien, neben Ignoranz und Wichtigtuerei jene Übelstände herausgegriffen, die Grund zur Lächerlichkeit geben und zugleich "die Phantasie des Künstlers anregen". Noch deutlicher sagt das Goethe 1805 in seinen Tag- und Jahresheften: "Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern? Die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden."
Nochmals: Das liberale Verhalten ist bloß die soziale, praktikable Spielart des Doppellebens und der Entzweiungen, die Goyas und Goethes Epoche kennzeichnen. Wo die Politiker nach Spielregeln und Kompromissen suchen, überschreiten Künstler wie Goya die Grenze zum Absurden. Dort trägt die von Traeger hartnäckig behauptete Analogie von Politik und Kunst nicht mehr. Ein Politiker, der nach rechts und nach links blickt, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Der Januskopf des Künstlers zieht aus seinen Doppelrollen das Kapital der unauflösbaren Mehrsinnigkeit.
Jörg Traeger hat einen wichtigen Beitrag zur Goya-Forschung geleistet und neue Anstöße zur Epochenanalyse gegeben. Unbeirrt glaubt er bis zur letzten Seite, im Liberalismus der Kunst so etwas wie den "Wesenssinn" (Panofsky) der Epoche aufgedeckt zu haben. Indem er Goya als Symbolfigur ausbeutet, schneidet er ihn sich zur ideologischen Attrappe zurecht und nimmt für seine Deutung die Freiheit in Anspruch, die Panofsky der Ikonologie einräumte: der von ihr ermittelte "Wesenssinn" erschließt sich dem Kunsthistoriker, kann jedoch dem Künstler verborgen bleiben. Vielleicht sollte man Traegers Buch zu den Symptomen des Zeitgeistes rechnen: Ein Kunsthistoriker analysiert die Ursprünge der "neuen Mitte", in der heute die Konvergenz von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit gefeiert wird. Nicht alle Künstler legen sich darüber Rechenschaft ab.
Jörg Traeger: "Goya". Die Kunst der Freiheit. Verlag C. H. Beck, München 2000. 220 S., 66 Farb- u. SW-Abb., br., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jörg Traeger ist in der Literatur über den spanischen Hofmaler Francisco Goya kein Unbekannter, weiß der Rezensent Franz Zelger. Schon frühere Publikationen von Traeger haben den Rezensenten beeindruckt. Mit dem "handlichen" und "leserfreundlichen" Buch stellt der Autor einmal mehr unter Beweis, dass er eine vortreffliche Beobachtungsgabe und profunde Kenntnisse nicht nur über Goya, sondern auch über das zeitgenössische und künstlerische Umfeld des Spaniers besitzt, lobt der Rezensent. Ein wichtiger Beitrag für die Goya-Foschung, so lautet sein Fazit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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