"Wir wissen, dass die Toten mächtige Herrscher sind" (Sigmund Freud)
Der Totenkult um verstorbene Herrscher oder andere prominente Personen ist seit frühesten Zeiten ein wirkungsvolles Mittel der Machtsicherung. Riesige Grabanlagen - Pyramiden, Mausoleen und Grabhügel - zeugen von der unschätzbaren Bedeutung der Toten für den Machterhalt ihrer Nachfolger. Bis heute können Gräber eine erstaunliche politische Bedeutung und Sprengkraft entfalten. Kaum ein Ort ist zwischen Israelis und Palästinensern so heftig umstritten wie das Grab des Patriarchen Joseph in Nablus. Das Lenin-Mausoleum in Moskau ist auch noch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein zentraler symbolischer Ort Rußlands, an dessen Fortexistenz sich die Geister scheiden. Und bei der Überführung des Leichnams Alexandre Dumas' ins Pariser Pantheon hat sich die politische Elite Frankreichs erst vor kurzem selbst gefeiert.
Der Totenkult um verstorbene Herrscher oder andere prominente Personen ist seit frühesten Zeiten ein wirkungsvolles Mittel der Machtsicherung. Riesige Grabanlagen - Pyramiden, Mausoleen und Grabhügel - zeugen von der unschätzbaren Bedeutung der Toten für den Machterhalt ihrer Nachfolger. Bis heute können Gräber eine erstaunliche politische Bedeutung und Sprengkraft entfalten. Kaum ein Ort ist zwischen Israelis und Palästinensern so heftig umstritten wie das Grab des Patriarchen Joseph in Nablus. Das Lenin-Mausoleum in Moskau ist auch noch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein zentraler symbolischer Ort Rußlands, an dessen Fortexistenz sich die Geister scheiden. Und bei der Überführung des Leichnams Alexandre Dumas' ins Pariser Pantheon hat sich die politische Elite Frankreichs erst vor kurzem selbst gefeiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2003Leinen unserer Ursprünge
Olaf Rader über die unwägbare Kraft des politischen Totenkults
Die Toten haben Macht über uns. Das weiß jeder, dem ein nahestehender Mensch gestorben ist. Im Guten wie im Bösen erhält alles, was der Verstorbene gesagt und getan hat, so wie umgekehrt alles, was man selbst mit ihm erlebt hat, eine schwerer wiegende Bedeutung. Bestattungss- und Gedenkrituale kanalisieren den Sturm der Gefühle, den der Tod bei Angehörigen und Freunden auslöst. Wie lebensnotwendig und wirkkräftig diese Zeremonien und Kulte für den einzelnen aber ebenso für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind, erweist sich im Extrem der altägyptischen Kultur - nur, wer als Lebender für seinen Tod vorgesorgt, die ewige Unversehrtheit des Leibes mittels Mumifizierung und die des Namens mittels gemeißelter und geschriebener Urkunden sichergestellt hatte, dem war ein ewiges Leben sicher.
Ebenso unterlagen die Nachkommen der Pflicht, mittels Opfern und Gebeten für das ewige Wohl des Verstorbenen zu sorgen. Wo dies nicht geschah, suchte sie dessen Geist strafend heim. Von den winzigen Grabkapellen kleiner Kaufleute bis zu den pharaonischen Pyramiden und Totentempeln starrt das Land noch heute von altägyptischen Bauwerken, die den Bann des Todes bezeugen, unter dem eine ganze Kultur lebte.
Die gesamte antike Welt pflegte, wenn auch nicht mit der fanatischen Hingabe Ägyptens, das Andenken der Toten. Und wie dort, wo die überwältigenden Pyramiden die Kronzeugen für das Ineins spirituellen und politischen, dies- und jenseitigen Machtstrebens sind, so wuchsen auch in allen anderen Kulturkreisen bestimmte Totenrituale bald zum Mittel der Herrschaftsbefestigung: "Handlungen", so nennt sie der Kulturwissenschaftler Olaf B. Rader, "die unmittelbar mit Herrschaft verknüpft sind sowie mit der daran angelagerten, ständig im Fluß befindlichen Genese von Gemeinschaftsbewußtsein".
Als Beispiel führt er in seinem Prolog den von Cicero überlieferten Besuch Alexanders des Großen am mutmaßlichen, vor Troja aufragenden Grabhügel des Achill an: "Oh glücklicher Jüngling, der du ja für deine Heldentaten einen Homer als Herold hattest", so soll Alexander ausgerufen haben. Gleich dreifach wird damit die These vom Totenkult als Herrschaftsinstrument und Bindemittel von Gemeinschaften belegt - Homers Achill war Generationen vor Alexander gemeinschaftsstiftende Identifikationsfigur des Griechentums, war dann dem Makedonen Vorbild für die Eroberung Asiens, aber auch und vor allem Mittel zum Zweck: Als "wohlüberlegte, gut vorbereitete Inszenierung" verklärte Alexander sich durch den Besuch des Grabes vor den Augen seiner Soldaten zum neuen Achill - und schmiedete diese zur ehernen Gemeinschaft zusammen.
Doch es ist - dies ist die dritte Variante der These - ein "ciceronischer Alexander", den das Beispiel vorstellt. Andere Autoren schildern seinen Troja-Besuch anders - mal als stummes erschüttertes Verweilen, mal als Vorschein des späteren Triumphs. Und gewiß wird es unter den zahllosen Chroniken, die die Satrapen zur Rechtfertigung ihrer Alexander-Nachfolge und zur identitätsstiftenden Erbauung ihrer Untertanen niederschreiben ließen, auch solche gegeben haben, in denen dieser seinen, dem Achill ähnlichen frühen Tod vorausahnt. "Der Kult um den toten Helden belegt auch eine anscheinend immergültige Handlungsanleitung ratloser Herrschaftsträger: Wenn man politisch nicht mehr weiterweiß, zelebriert man die Vergangenheit und verwandelt sie in einen Mythos."
Ein wenig forsch verallgemeinert Rader da, doch hat er schlagende, bis in die Gegenwart reichende Exempel parat: Jenes dreißig Meter hohe Monument beispielsweise, das Slobodan Milosevic im Sommer 1989 auf dem Amselfeld errichten ließ. Die Gebeine von Knez Lazar, dem mythischen Nationalhelden, der 1389 dort die Entscheidungsschlacht gegen die Türken verloren und mit dem Leben bezahlt hatte, wurden in dem Monument beigesetzt und zum Bürgen eines neuen serbischen Reichs samt der endgültigen "Rückkehr" ins Kosovo stilisiert. Der Mechanismus griff und verstrickte mehrere Volksgruppen in einen schrecklichen Krieg gegeneinander.
Am wirksamsten wird das identitätsstiftende Angedenken an einen toten Helden, wenn die Gemeinschaft in buchstäblichen Kontakt mit dem Verstorbenen treten kann. Rader nennt die alttestamentliche Schilderung des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, auf dem, wie ausdrücklich vermerkt wird, auf Geheiß des Moses hin die Mumie Josephs mitgeführt wurde, jenes Gottgesegneten, der Generationen zuvor in Ägypten zum Stellvertreter Pharaos aufgestiegen war und sein Volk nachgeholt hatte.
Dreieinhalb Jahrtausende später erwies sich der Mythos jenes Stammvaters, den Rader als "personalisiertes Über-Ich" der einstigen Hebräer deutet, ein weiteres Mal als schlagkräftig. Doch schlug er nun auf Israel zurück: In Nablus, wo im neunzehnten Jahrhundert über der vermeintlichen Grabstätte des Joseph ein Kuppelbau errichtet worden war, zerstörten Palästinenser im Jahr 2000 nach Abzug der israelischen Truppen den Bau, der Andachtsort frommer Juden gewesen war, und bauten eine Moschee über den Fundamenten.
"Mit der Aufklärung und Reformation sind vom Feld des magischen Denkens viele der Vorstellungen, die hinter diesen Ritualen standen, abgemäht worden. Doch haben (sie) offensichtlich so tiefgehende Wurzeln, daß sie bei günstigem Klima, also drängendem Bedürfnis dergestaltiger symbolischer Kommunikation, wilde Sprossen austreiben können; wir es in der Moderne also vielleicht mit einer Art konkurrierender Phänomene zu tun haben könnten": Öfter als es unser modernes Bewußtsein wahrhaben will, erliegen wir dem magischen Denken.
Das zeigt die atemlose Spannung, mit der man, wie einst als Schüler, bei Rader noch einmal den Bericht über Kaiser Otto III. und sein Eindringen in die Aachener Gruft Karls des Großen im Jahr 1000 liest, über die angebliche Unversehrtheit des Leichnams, sein majestätisches Thronen, die Neueinkleidung in weiße Gewänder, die Otto vornahm. Die folgenden nüchternen Ausführungen über die Absichten des Ottonen ernüchtern so wenig wie die, mit denen Rader gleich darauf die Erhebung der Gebeine Karls des Großen und dessen Heiligsprechung am 29. Dezember 1165 als Coup Kaiser Barbarossas analysiert, der in dem nun heiligen kaiserlichen Toten einen übermächtigen Verbündeten im Kampf zwischen päpstlichen und kaiserlichen Machtansprüchen gewann.
Wissend bleiben wir wie magisch gebannt. So ist die hervorragend recherchierte und glänzend geschriebene Untersuchung Olaf B. Raders mehr als Enthüllungswissenschaft auf hohem Niveau. Denn indem sie uns die großen Toten von Alexander bis Lenin, von Lumumba bis Theseus samt ihrer Indienstnahme durch jeweils sich ändernde Herrschaftsinteressen vorführt, ist diese Studie auch ein Ariadnefaden durch das riesige Knäuel kollektiver wie individueller Erinnerungen.
Sie sind, wie Rader schreibt, "endlos tief und verschlungen", wodurch sie "die Völker gleichsam wie mit langen Leinen an ihre Ursprünge fesseln". Ehe wir das nächste Mal mit der Achsel zucken, wenn wieder einmal eine Nachrichtenagentur den definitiven Fund des Alexandergrabs meldet, oder russische Wissenschaftler die Gebeine der Zarenfamilie so akribisch zueinanderordnen, wie ihre Vorgänger einst Lenins Leichnam balsamierten, ehe wir also im Namen der Moderne die Toten ihre Toten begraben lassen wollen, wollen wir uns der Macht erinnern, die diese über uns haben - und des Mißbrauchs, den Lebende immer schon damit trieben und treiben.
DIETER BARTETZKO.
Olaf B. Rader: "Grab und Herrschaft". Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. C. H. Beck Verlag, München 2003. 272 S., 10 Abb., geb., 26,90 [Euro].
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Olaf Rader über die unwägbare Kraft des politischen Totenkults
Die Toten haben Macht über uns. Das weiß jeder, dem ein nahestehender Mensch gestorben ist. Im Guten wie im Bösen erhält alles, was der Verstorbene gesagt und getan hat, so wie umgekehrt alles, was man selbst mit ihm erlebt hat, eine schwerer wiegende Bedeutung. Bestattungss- und Gedenkrituale kanalisieren den Sturm der Gefühle, den der Tod bei Angehörigen und Freunden auslöst. Wie lebensnotwendig und wirkkräftig diese Zeremonien und Kulte für den einzelnen aber ebenso für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind, erweist sich im Extrem der altägyptischen Kultur - nur, wer als Lebender für seinen Tod vorgesorgt, die ewige Unversehrtheit des Leibes mittels Mumifizierung und die des Namens mittels gemeißelter und geschriebener Urkunden sichergestellt hatte, dem war ein ewiges Leben sicher.
Ebenso unterlagen die Nachkommen der Pflicht, mittels Opfern und Gebeten für das ewige Wohl des Verstorbenen zu sorgen. Wo dies nicht geschah, suchte sie dessen Geist strafend heim. Von den winzigen Grabkapellen kleiner Kaufleute bis zu den pharaonischen Pyramiden und Totentempeln starrt das Land noch heute von altägyptischen Bauwerken, die den Bann des Todes bezeugen, unter dem eine ganze Kultur lebte.
Die gesamte antike Welt pflegte, wenn auch nicht mit der fanatischen Hingabe Ägyptens, das Andenken der Toten. Und wie dort, wo die überwältigenden Pyramiden die Kronzeugen für das Ineins spirituellen und politischen, dies- und jenseitigen Machtstrebens sind, so wuchsen auch in allen anderen Kulturkreisen bestimmte Totenrituale bald zum Mittel der Herrschaftsbefestigung: "Handlungen", so nennt sie der Kulturwissenschaftler Olaf B. Rader, "die unmittelbar mit Herrschaft verknüpft sind sowie mit der daran angelagerten, ständig im Fluß befindlichen Genese von Gemeinschaftsbewußtsein".
Als Beispiel führt er in seinem Prolog den von Cicero überlieferten Besuch Alexanders des Großen am mutmaßlichen, vor Troja aufragenden Grabhügel des Achill an: "Oh glücklicher Jüngling, der du ja für deine Heldentaten einen Homer als Herold hattest", so soll Alexander ausgerufen haben. Gleich dreifach wird damit die These vom Totenkult als Herrschaftsinstrument und Bindemittel von Gemeinschaften belegt - Homers Achill war Generationen vor Alexander gemeinschaftsstiftende Identifikationsfigur des Griechentums, war dann dem Makedonen Vorbild für die Eroberung Asiens, aber auch und vor allem Mittel zum Zweck: Als "wohlüberlegte, gut vorbereitete Inszenierung" verklärte Alexander sich durch den Besuch des Grabes vor den Augen seiner Soldaten zum neuen Achill - und schmiedete diese zur ehernen Gemeinschaft zusammen.
Doch es ist - dies ist die dritte Variante der These - ein "ciceronischer Alexander", den das Beispiel vorstellt. Andere Autoren schildern seinen Troja-Besuch anders - mal als stummes erschüttertes Verweilen, mal als Vorschein des späteren Triumphs. Und gewiß wird es unter den zahllosen Chroniken, die die Satrapen zur Rechtfertigung ihrer Alexander-Nachfolge und zur identitätsstiftenden Erbauung ihrer Untertanen niederschreiben ließen, auch solche gegeben haben, in denen dieser seinen, dem Achill ähnlichen frühen Tod vorausahnt. "Der Kult um den toten Helden belegt auch eine anscheinend immergültige Handlungsanleitung ratloser Herrschaftsträger: Wenn man politisch nicht mehr weiterweiß, zelebriert man die Vergangenheit und verwandelt sie in einen Mythos."
Ein wenig forsch verallgemeinert Rader da, doch hat er schlagende, bis in die Gegenwart reichende Exempel parat: Jenes dreißig Meter hohe Monument beispielsweise, das Slobodan Milosevic im Sommer 1989 auf dem Amselfeld errichten ließ. Die Gebeine von Knez Lazar, dem mythischen Nationalhelden, der 1389 dort die Entscheidungsschlacht gegen die Türken verloren und mit dem Leben bezahlt hatte, wurden in dem Monument beigesetzt und zum Bürgen eines neuen serbischen Reichs samt der endgültigen "Rückkehr" ins Kosovo stilisiert. Der Mechanismus griff und verstrickte mehrere Volksgruppen in einen schrecklichen Krieg gegeneinander.
Am wirksamsten wird das identitätsstiftende Angedenken an einen toten Helden, wenn die Gemeinschaft in buchstäblichen Kontakt mit dem Verstorbenen treten kann. Rader nennt die alttestamentliche Schilderung des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, auf dem, wie ausdrücklich vermerkt wird, auf Geheiß des Moses hin die Mumie Josephs mitgeführt wurde, jenes Gottgesegneten, der Generationen zuvor in Ägypten zum Stellvertreter Pharaos aufgestiegen war und sein Volk nachgeholt hatte.
Dreieinhalb Jahrtausende später erwies sich der Mythos jenes Stammvaters, den Rader als "personalisiertes Über-Ich" der einstigen Hebräer deutet, ein weiteres Mal als schlagkräftig. Doch schlug er nun auf Israel zurück: In Nablus, wo im neunzehnten Jahrhundert über der vermeintlichen Grabstätte des Joseph ein Kuppelbau errichtet worden war, zerstörten Palästinenser im Jahr 2000 nach Abzug der israelischen Truppen den Bau, der Andachtsort frommer Juden gewesen war, und bauten eine Moschee über den Fundamenten.
"Mit der Aufklärung und Reformation sind vom Feld des magischen Denkens viele der Vorstellungen, die hinter diesen Ritualen standen, abgemäht worden. Doch haben (sie) offensichtlich so tiefgehende Wurzeln, daß sie bei günstigem Klima, also drängendem Bedürfnis dergestaltiger symbolischer Kommunikation, wilde Sprossen austreiben können; wir es in der Moderne also vielleicht mit einer Art konkurrierender Phänomene zu tun haben könnten": Öfter als es unser modernes Bewußtsein wahrhaben will, erliegen wir dem magischen Denken.
Das zeigt die atemlose Spannung, mit der man, wie einst als Schüler, bei Rader noch einmal den Bericht über Kaiser Otto III. und sein Eindringen in die Aachener Gruft Karls des Großen im Jahr 1000 liest, über die angebliche Unversehrtheit des Leichnams, sein majestätisches Thronen, die Neueinkleidung in weiße Gewänder, die Otto vornahm. Die folgenden nüchternen Ausführungen über die Absichten des Ottonen ernüchtern so wenig wie die, mit denen Rader gleich darauf die Erhebung der Gebeine Karls des Großen und dessen Heiligsprechung am 29. Dezember 1165 als Coup Kaiser Barbarossas analysiert, der in dem nun heiligen kaiserlichen Toten einen übermächtigen Verbündeten im Kampf zwischen päpstlichen und kaiserlichen Machtansprüchen gewann.
Wissend bleiben wir wie magisch gebannt. So ist die hervorragend recherchierte und glänzend geschriebene Untersuchung Olaf B. Raders mehr als Enthüllungswissenschaft auf hohem Niveau. Denn indem sie uns die großen Toten von Alexander bis Lenin, von Lumumba bis Theseus samt ihrer Indienstnahme durch jeweils sich ändernde Herrschaftsinteressen vorführt, ist diese Studie auch ein Ariadnefaden durch das riesige Knäuel kollektiver wie individueller Erinnerungen.
Sie sind, wie Rader schreibt, "endlos tief und verschlungen", wodurch sie "die Völker gleichsam wie mit langen Leinen an ihre Ursprünge fesseln". Ehe wir das nächste Mal mit der Achsel zucken, wenn wieder einmal eine Nachrichtenagentur den definitiven Fund des Alexandergrabs meldet, oder russische Wissenschaftler die Gebeine der Zarenfamilie so akribisch zueinanderordnen, wie ihre Vorgänger einst Lenins Leichnam balsamierten, ehe wir also im Namen der Moderne die Toten ihre Toten begraben lassen wollen, wollen wir uns der Macht erinnern, die diese über uns haben - und des Mißbrauchs, den Lebende immer schon damit trieben und treiben.
DIETER BARTETZKO.
Olaf B. Rader: "Grab und Herrschaft". Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. C. H. Beck Verlag, München 2003. 272 S., 10 Abb., geb., 26,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Legitimität" ist ein Wahn der Herrschenden, zumal der Alleinherrscher, bemerkt der Rezensent Winfried Nippel. Da sich diese Legitimität oft über Abstammung oder geistige Ahnenlinien begründen lasse, liege gerade im "Totenkult" - "Wiederherstellung von Gräbern, Sicherung von sterblichen Überresten, spektakuläre Bestattungen" - ein wichtiger Schlüssel zur Herrschaftsfestigung. Olaf B. Rader habe zu diesem Thema "viel faszinierendes Material" zusammengetragen, in absichtlich nicht chronologischer Anordnung, um der Vorstellung einer "Entwicklung" vorzubeugen. Doch welchen genauen "Stellenwert" die Toten-Inszenierungen besitzen, kommt bei Rader "zu kurz", wie der Rezensent kritisch anmerkt. Auch grundlegende Fragen nach der Art der Herrschaftssicherung - durch direkte Abstammung oder über die Jahrhunderte hinweg vollzogene "Mythenbeschwörung" - und nach deren Effizienz, hätte man, so Nippel, "systematischer" erörtern sollen. Trotzdem ist Rader eine große Leserschaft zu wünschen, schließt Nippel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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