Besatzer und Rebellen kämpfen um die Städte Inamenas und Ekbatana, Schauplatz: ein fiktives Land in Nordafrika. In einem Jahrhundert unvordenklicher Gräuel und Gewaltexzesse ist dieser Text das auf die Spitze des Grässlichen getriebene Sinnbild jedes Kriegs, markiert den point of no return jeder moralischen und literarischen Konzeption des Bösen. In abgerissenem Stakkato, in archaischem Singsang entfaltet Guyotat Szenen von Folter, Versklavung, unentwegter mörderischer und sexueller Gewalt. Sadismus ist gang und gäbe, absolut und ausweglos gilt das Gesetz des Siegers. Und er schildert die ungeheuerliche Menschlichkeit in all diesen Szenen: obszön und schön. Das radikale, ikonoklastische Epos eines der letzten Avantgardisten der Literatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2015Ein ganz gefährlicher Klassiker
Pierre Guyotats Buch "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten" erklärt, warum Gewalt ein Bindemittel moderner Gesellschaften ist
Auch Bücher können in Kontexte fallen, von denen ihr Autor und ihr Verleger bestimmt keine Ahnung hatten. Pierre Guyotats "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", das gerade erstmals auf Deutsch erschienen ist, 47 Jahre nach dem französischen Original, ist so ein Fall. In Frankreich längst ein Klassiker der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, wird es jetzt nach den furchtbaren Ereignissen von Paris mit einer zwar nicht neuen, aber darum nicht weniger aktuellen Konnotation aufgeladen: mit der Frage nach der Gewalt im Zentrum der Moderne. Und in diesem Zusammenhang wird Guyotats Roman zu einer Gegengeschichte, ganz im Sinn Michel Foucaults, zur aktuellen Großerzählung des Westens.
Denn auch wenn heute jeder weiß, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist, gibt es eine ganz große Erzählung, die sich gerade in diesen Tagen so ungebrochen durch die Kommentare zu den schrecklichen Gewaltexzessen zieht, dass man es kaum glauben kann. Es ist die Erzählung vom Unterschied zwischen "traditionellen" und "modernen" Gesellschaften. Nach dieser Erzählung sind moderne Gesellschaften über die Prozesse der Industrialisierung, Demokratisierung, Bürokratisierung und Säkularisierung in ihrer Entwicklung so weitreichend über alle traditionellen oder vormodernen Gesellschaften hinausgeschritten, dass den Zurückgebliebenen erst einmal nichts anderes übrigbleibt, als sich an die Spuren dieser Moderne zu heften und ihnen zu folgen. Denn, so wird es erzählt, nur die moderne Gesellschaft ist auf dem Weg in eine gewaltfreie Zukunft, in der das Leben so ausgeglichen geregelt sein wird wie in einem modernen Amüsierclub mit kompetenten Türstehern.
Dass sich geschichtlich beispiellose Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts wie der Holocaust genau im Zentrum dieser westlich-modernen Welt abgespielt haben, absorbiert diese Fortschrittserzählung mit einem einfachen Trick. Sie schließt potentielle Rückfälle in frühere Stadien nicht aus, sondern lässt ihre Möglichkeit offen. Als Rückfälle in die Barbarei oder Zivilisationsbrüche werden die Gewaltorgien der Moderne, wie sie auch in den Zerfallskriegen des ehemaligen Jugoslawien auftraten, markiert und somit aus dem Zentrum der Moderne ausgeschlossen. Und als hätte es die Kritik von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ralf Dahrendorf oder Zygmunt Bauman an diesem zumindest einseitigen Begriff der Moderne nie gegeben, liest man in diesen Tagen in jedem zweiten Aufsatz zum Horror von Paris, dass die Muslime oder besser noch: der ganze Islam jetzt mal in ihre religionskritische Phase eintreten müssen, die wir ja schon längst - spätestens seit Spinozas Bibelkritik - hinter uns gelassen haben. Dass die Vorfahren dieses Spinoza als Juden, als sogenannte Marranen, ihre Blütezeit im islamisch beherrschten Spanien hatten, das sich durch eine extreme Toleranz gegenüber Christen wie Juden und durch eine prinzipielle Offenheit der Universitäten auszeichnete, ist dann natürlich keiner Rede mehr wert. Es störte die Unterscheidung von traditionell und modern zu sehr.
Diese Unterscheidung kann im Buch des heute 75-jährigen Guyotat gar nicht erst auftreten. Zu selbstverständlich gehören bei ihm modernste Staats- und Kriegstechniken, Sklaven, gut funktionierende Gewehre, die ausgeklügelsten Herrenmenschen-Sexualpraktiken und archaische Ernährungsformen zusammen in eine Welt. In eine Welt, die in allen Beziehungen, denen zwischen den Individuen und denen zwischen den Individuen und ihren Institutionen, vor allem durch die verschiedensten Formen von Gewalt zusammengehalten wird. Von einer Gewalt, die Guyotat immer wieder rhythmisch zu Blut-, Sperma- und Speichelorgien steigert, die man manchmal überfliegend überblättert, weil man meint, es schon zu kennen, oder weil man es schlicht nicht erträgt. Das ist ähnlich wie beim Lesen des Marquis de Sade, wo man nach dem dritten Exzess auf den vierten keine Lust mehr hat. Bei Guyotat führt es aber nicht wie beim Marquis dazu, dass man lieber über ihn liest, als ihn selbst zu lesen. Und das hat verschiedene Gründe. Es hat zum einen mit der poetischen Kraft zu tun. Guyotat ist ein Meister der Beschreibung von sich bewegendem Wasser, sei es bei Ebbe und Flut, bei Regen, beim Anspülen von Leichen am Strand oder einfach beim Waschen. Genauso echt wie das Wasser und die vielen Fliegen, Käfer, Hunde und Katzen tauchen dann Szenen auf, die man aus anderen Zusammenhängen kennt.
"Die Äste brechen unter dem Frost und den Stricken", schreibt er, "es zittern die Hand des Kriegsherren und seine Lippen; im Frühling streichelt er an der eingestürzten Mauer seiner glutroten Hauptstadt die Wangen und die Augen der erschöpften Kinder, die er an die Front zurückschickt; er streicht ihnen übers Haar, das aus den Helmen oder den Glimmer-Schirmmützen hervorschaut." Das ist natürlich die detaillierte - "es zittern die Hand" - Beschreibung jener Filmszene, in der Hitler zum Kriegsende die Kinder des Volkssturm auszeichnet und betatscht, bevor das Guido-Knopp-Fernsehen diesen Schrecken zu Tode gesendet hat. Es ist die Nähe zu solchen Realien, die im fiktiven Land Ekbatana Frankreich und dessen Befreiung von den Nazis erkennen lässt.
Es ist allerdings ein befreites Frankreich, das gleichzeitig seine Macht als Kolonialherr Algeriens nicht aufgibt, sondern verschärft, indem es auch die eigene Bevölkerung in den Terror seines Kolonialkrieges hineinzieht. Folter, Durchkämmen und systematische Vergewaltigungen sind nicht nur Methoden des Krieges in Algerien, sie sind auch in Frankreich bekannt. Guyotat wusste, wovon er redete. Er wird 1960 eingezogen und nach Algerien berufen. 1962 wird er verhaftet mit der Begründung, dass er zur Fahnenflucht aufgerufen habe. Vom Teilnehmer des Algerienkrieges, der von 1954 bis 1962 dauerte, wird er zu dessen radikalem Gegner, und sein Buch ist die im besten Sinn subjektive Erforschung der Bedingungen und Möglichkeiten der Rebellion gegen die Fremdherrschaft.
Subjektiv im besten Sinn ist darin auch die Tatsache, dass Pierre Guyotat nie der Frage ausweicht, inwieweit Gewalt nicht auch ein Bindemittel der entwickelten Strukturen im individuellen wie im institutionellen Leben ist. Moderner kann man die Gegengeschichte zur gewaltfreien Moderne kaum erzählen.
CORD RIECHELMANN
Pierre Guyotat: "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten". Sieben Gesänge. Aus dem Französischen von Holger Fock. Diaphanes, 654 Seiten, 34,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pierre Guyotats Buch "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten" erklärt, warum Gewalt ein Bindemittel moderner Gesellschaften ist
Auch Bücher können in Kontexte fallen, von denen ihr Autor und ihr Verleger bestimmt keine Ahnung hatten. Pierre Guyotats "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten", das gerade erstmals auf Deutsch erschienen ist, 47 Jahre nach dem französischen Original, ist so ein Fall. In Frankreich längst ein Klassiker der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, wird es jetzt nach den furchtbaren Ereignissen von Paris mit einer zwar nicht neuen, aber darum nicht weniger aktuellen Konnotation aufgeladen: mit der Frage nach der Gewalt im Zentrum der Moderne. Und in diesem Zusammenhang wird Guyotats Roman zu einer Gegengeschichte, ganz im Sinn Michel Foucaults, zur aktuellen Großerzählung des Westens.
Denn auch wenn heute jeder weiß, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist, gibt es eine ganz große Erzählung, die sich gerade in diesen Tagen so ungebrochen durch die Kommentare zu den schrecklichen Gewaltexzessen zieht, dass man es kaum glauben kann. Es ist die Erzählung vom Unterschied zwischen "traditionellen" und "modernen" Gesellschaften. Nach dieser Erzählung sind moderne Gesellschaften über die Prozesse der Industrialisierung, Demokratisierung, Bürokratisierung und Säkularisierung in ihrer Entwicklung so weitreichend über alle traditionellen oder vormodernen Gesellschaften hinausgeschritten, dass den Zurückgebliebenen erst einmal nichts anderes übrigbleibt, als sich an die Spuren dieser Moderne zu heften und ihnen zu folgen. Denn, so wird es erzählt, nur die moderne Gesellschaft ist auf dem Weg in eine gewaltfreie Zukunft, in der das Leben so ausgeglichen geregelt sein wird wie in einem modernen Amüsierclub mit kompetenten Türstehern.
Dass sich geschichtlich beispiellose Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts wie der Holocaust genau im Zentrum dieser westlich-modernen Welt abgespielt haben, absorbiert diese Fortschrittserzählung mit einem einfachen Trick. Sie schließt potentielle Rückfälle in frühere Stadien nicht aus, sondern lässt ihre Möglichkeit offen. Als Rückfälle in die Barbarei oder Zivilisationsbrüche werden die Gewaltorgien der Moderne, wie sie auch in den Zerfallskriegen des ehemaligen Jugoslawien auftraten, markiert und somit aus dem Zentrum der Moderne ausgeschlossen. Und als hätte es die Kritik von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ralf Dahrendorf oder Zygmunt Bauman an diesem zumindest einseitigen Begriff der Moderne nie gegeben, liest man in diesen Tagen in jedem zweiten Aufsatz zum Horror von Paris, dass die Muslime oder besser noch: der ganze Islam jetzt mal in ihre religionskritische Phase eintreten müssen, die wir ja schon längst - spätestens seit Spinozas Bibelkritik - hinter uns gelassen haben. Dass die Vorfahren dieses Spinoza als Juden, als sogenannte Marranen, ihre Blütezeit im islamisch beherrschten Spanien hatten, das sich durch eine extreme Toleranz gegenüber Christen wie Juden und durch eine prinzipielle Offenheit der Universitäten auszeichnete, ist dann natürlich keiner Rede mehr wert. Es störte die Unterscheidung von traditionell und modern zu sehr.
Diese Unterscheidung kann im Buch des heute 75-jährigen Guyotat gar nicht erst auftreten. Zu selbstverständlich gehören bei ihm modernste Staats- und Kriegstechniken, Sklaven, gut funktionierende Gewehre, die ausgeklügelsten Herrenmenschen-Sexualpraktiken und archaische Ernährungsformen zusammen in eine Welt. In eine Welt, die in allen Beziehungen, denen zwischen den Individuen und denen zwischen den Individuen und ihren Institutionen, vor allem durch die verschiedensten Formen von Gewalt zusammengehalten wird. Von einer Gewalt, die Guyotat immer wieder rhythmisch zu Blut-, Sperma- und Speichelorgien steigert, die man manchmal überfliegend überblättert, weil man meint, es schon zu kennen, oder weil man es schlicht nicht erträgt. Das ist ähnlich wie beim Lesen des Marquis de Sade, wo man nach dem dritten Exzess auf den vierten keine Lust mehr hat. Bei Guyotat führt es aber nicht wie beim Marquis dazu, dass man lieber über ihn liest, als ihn selbst zu lesen. Und das hat verschiedene Gründe. Es hat zum einen mit der poetischen Kraft zu tun. Guyotat ist ein Meister der Beschreibung von sich bewegendem Wasser, sei es bei Ebbe und Flut, bei Regen, beim Anspülen von Leichen am Strand oder einfach beim Waschen. Genauso echt wie das Wasser und die vielen Fliegen, Käfer, Hunde und Katzen tauchen dann Szenen auf, die man aus anderen Zusammenhängen kennt.
"Die Äste brechen unter dem Frost und den Stricken", schreibt er, "es zittern die Hand des Kriegsherren und seine Lippen; im Frühling streichelt er an der eingestürzten Mauer seiner glutroten Hauptstadt die Wangen und die Augen der erschöpften Kinder, die er an die Front zurückschickt; er streicht ihnen übers Haar, das aus den Helmen oder den Glimmer-Schirmmützen hervorschaut." Das ist natürlich die detaillierte - "es zittern die Hand" - Beschreibung jener Filmszene, in der Hitler zum Kriegsende die Kinder des Volkssturm auszeichnet und betatscht, bevor das Guido-Knopp-Fernsehen diesen Schrecken zu Tode gesendet hat. Es ist die Nähe zu solchen Realien, die im fiktiven Land Ekbatana Frankreich und dessen Befreiung von den Nazis erkennen lässt.
Es ist allerdings ein befreites Frankreich, das gleichzeitig seine Macht als Kolonialherr Algeriens nicht aufgibt, sondern verschärft, indem es auch die eigene Bevölkerung in den Terror seines Kolonialkrieges hineinzieht. Folter, Durchkämmen und systematische Vergewaltigungen sind nicht nur Methoden des Krieges in Algerien, sie sind auch in Frankreich bekannt. Guyotat wusste, wovon er redete. Er wird 1960 eingezogen und nach Algerien berufen. 1962 wird er verhaftet mit der Begründung, dass er zur Fahnenflucht aufgerufen habe. Vom Teilnehmer des Algerienkrieges, der von 1954 bis 1962 dauerte, wird er zu dessen radikalem Gegner, und sein Buch ist die im besten Sinn subjektive Erforschung der Bedingungen und Möglichkeiten der Rebellion gegen die Fremdherrschaft.
Subjektiv im besten Sinn ist darin auch die Tatsache, dass Pierre Guyotat nie der Frage ausweicht, inwieweit Gewalt nicht auch ein Bindemittel der entwickelten Strukturen im individuellen wie im institutionellen Leben ist. Moderner kann man die Gegengeschichte zur gewaltfreien Moderne kaum erzählen.
CORD RIECHELMANN
Pierre Guyotat: "Grabmal für fünfhunderttausend Soldaten". Sieben Gesänge. Aus dem Französischen von Holger Fock. Diaphanes, 654 Seiten, 34,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine einzige Zumutung ist dieses Buch für Thomas Laux. Ob Pierre Guyotat darin seine Erfahrungen als Soldat im Algerienkrieg verarbeitet, spielt für den Rezensenten gar keine Rolle. Zu krude, zu sehr entfernt von jeglicher Gattung und Handlungstruktur scheint ihm, was der Autor hier aufschreibt. Gewaltexzesse einer Soldateska in Endlosschleife, die beim Rezensenten bald keinen Schrecken mehr generieren, nur noch Ratlosigkeit und Widerwillen. Ein komplett pervertierter Naturalismus des Grauens, meint Laux angewidert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Moderner kann man die Gegengeschichte zur gewaltfreien Moderne kaum erzählen.« Cord Riechelmann, FAS