Die erste umfassende Dokumentation einer der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte - ein epochemachendes Monumentalwerk
Mehr als 36 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer, in nahezu jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und noch immer darf in China offiziell nicht darüber gesprochen werden: die schreckliche Hungerkatastrophe der Jahre 1958 bis 1962, die Mao und seine Parteikader zu verantworten haben.
Yang Jisheng, dessen eigener Vater verhungerte, hat über zwei Jahrzehnte lang Interviews mit Zeugen geführt und eine unglaubliche Fülle an bislang unzugänglichen Informationen zusammengetragen. Minutiös dokumentiert er so, in welch unheilvolles Desaster Maos »Großer Sprung nach vorn« führte. Ein aufsehenerregendes Buch, das bereits jetzt in einem Atemzug mit Solschenizyns Werken genannt wird.
Mehr als 36 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer, in nahezu jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und noch immer darf in China offiziell nicht darüber gesprochen werden: die schreckliche Hungerkatastrophe der Jahre 1958 bis 1962, die Mao und seine Parteikader zu verantworten haben.
Yang Jisheng, dessen eigener Vater verhungerte, hat über zwei Jahrzehnte lang Interviews mit Zeugen geführt und eine unglaubliche Fülle an bislang unzugänglichen Informationen zusammengetragen. Minutiös dokumentiert er so, in welch unheilvolles Desaster Maos »Großer Sprung nach vorn« führte. Ein aufsehenerregendes Buch, das bereits jetzt in einem Atemzug mit Solschenizyns Werken genannt wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012Der Große Sprung mündete in die größte Katastrophe
Die Überwindung der Wirklichkeit auf dem Rücken von Millionen Opfern: Yang Jisheng beschreibt, wie es zur chinesischen Hungersnot der Jahre 1958 bis 1962 kam.
Von Mark Siemons
Im Frühjahr 1959 musste der neunzehn Jahre alte Yang Jisheng miterleben, wie der geliebte Adoptivvater in seinem winzigen Dorf verhungerte. Danach kehrte er in seine Schule in der Kreisstadt zurück und dichtete unverdrossen weiter Hymnen auf den "Großen Sprung nach vorn", wie die von Mao initiierte Massenmobilisierung auf dem Land in China damals genannt wurde. Er hielt den Tod des Vaters einfach für ein privates Unglück, an dem er sich selber mitschuldig fühlte. Yang durchlief alle Stadien eines enthusiasmierten jungen Aktivisten, von den Jungpionieren über die Jugendliga bis zur Parteimitgliedschaft. Ausgerechnet die Wandzeitungen der Kulturrevolution mit ihren Enthüllungen über korrupte Funktionäre sorgten für die erste Irritation. Damals hörte Yang Jisheng auch zum ersten Mal, dass der Große Sprung Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte.
Aus dem begeisterten Bauernjungen wurde ein zusehends desillusionierter Journalist der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der das Handwerk der propagandistischen Nachrichtenverfertigung lernte. Nach seiner Pensionierung schrieb er dann das monumentale Werk, das, 2008 in Hongkong erschienen und auf dem Festland verboten, aber über Raubdrucke verbreitet, nun auf Deutsch vorliegt. Ausführlicher denn je dokumentiert es eines der unheimlichsten und monströsesten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts: eine Hungerkatastrophe, deren dreißig oder vierzig Millionen Toten unmittelbar auf eine abstrakte Ideologie zurückzuführen sind.
Gleichzeitig dokumentiert es die Mechanik der Realitätsabschottung und des Verschweigens, von der der Autor selber ein Teil war - sich schließlich aber befreite. Gerade diese persönliche Beteiligung und die Fülle der ausgewerteten Quellen heben das Buch gegenüber den westlichen Darstellungen des Themas (zuletzt erschien 2010 "Mao's Great Famine" von dem in Hongkong lehrenden Historiker Frank Dikötter) heraus. Seit Anfang der neunziger Jahre hat Yang seinen amtlichen Reporterstatus dazu genutzt, um in Archiven des ganzen Landes zu recherchieren, mit Zeitzeugen zu sprechen. So kamen Zehntausende Seiten Material zusammen, die er zu 950 Seiten im chinesischen Original und immerhin noch achthundert Seiten in der deutschen Fassung kondensierte.
Minutiös zeichnet Yang Jisheng nach, wie Mao den relativ pragmatischen Wirtschaftskurs, zu dem die Kommunistische Partei 1956 gefunden hatte, innerhalb eines Jahres in sein Gegenteil verkehrte. 1956 war das Zentralkomitee noch Staatspräsident Zhou Enlai gefolgt, der sich im Staatsrat gegen ökonomische "Überstürzung" ausgesprochen hatte: "Die Möglichkeit, die Realität zu übertreffen, darf man nicht durcheinanderbringen mit Haltlosigkeit, man darf nicht alles haltlos beschleunigen, sonst ist das sehr gefährlich. Ich bitte doch alle, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen." Ein gutes Jahr später übt Zhou Enlai Selbstkritik an seinen Irrtümern: "Die Jahrzehnte der chinesischen Revolution und die historische Erfahrung des Aufbaus beweisen, dass der Vorsitzende Mao der Vertreter der Wahrheit ist." Getrieben von der Konkurrenz mit der Sowjetunion Chruschtschows, wurde eine neue "Generallinie" verabschiedet, die auf Tempo, Beschleunigung, eine "Anspannung aller Kräfte" auf dem Weg zum Kommunismus hinauslief.
Mao hatte sich damit nicht nur in einem Machtkampf durchgesetzt. Der Autor zeigt, wie der Große Vorsitzende das dem Großen Sprung zugrundeliegende Prinzip der voluntaristischen Wirklichkeitsüberwindung innerhalb weniger Monate durch eine kommunikative Konstellation absicherte, die in der Folge gegen jede Kritik und jede realistische Einschätzung von vornherein immunisierte, sie unmöglich machte. Mao diskreditierte die Warner vor Überstürzung als verkappte "Rechtsabweichler", die Funktionäre an der Basis, die über leere Speicher klagen, als Interessenvertreter der Lebensmittel hortenden reicheren Bauern, die Gegner des Personenkults als Relativisten (warum nicht die verehren, in deren Hand die Wahrheit liegt?), die "bloßen Zuschauer" und "Experten" als neunmalkluge Verhinderer. In einem solchen Setting geriet jeder, der auf reale Bedingungen verwies und nicht die Planvorgaben überbietende Erfolge meldete, in ideologischen Verdacht - mit schwerwiegenden Folgen für Leib und Leben. Mao verlangte ausdrücklich eine doppelte Bilanzierungsweise: neben den öffentlich gemachten Planzielen solle das Zentralkomitee intern auch erhoffte Ziele formulieren, an denen sich dann die öffentlichen Planziele der nächsten Ebene orientieren und so fort. So nahm das Plansoll systematisch von Ebene zu Ebene zu.
Ähnlich wie später bei der Kulturrevolution konnte auf diese Weise ein fatales Zusammenspiel aus Anstoß von oben und Eigendynamik an der Basis zustandekommen, in diesem Fall vor allem der unteren Funktionäre, die sich in Falschmeldungen gegenseitig überboten. Mao konnte sich dann im Verlauf des Desasters immer mehr auf die abgehobene Position dessen zurückziehen, der "Realismus" einforderte und darüber klagte, dass ihm niemand die Wahrheit sage. Menschen außerhalb des Machtgeflechts hatten ohnehin nicht den geringsten Bewegungsspielraum.
Seitdem die Großgenossenschaften 1958 in Volkskommunen inklusive Volksküche, Kinderhort, Schulen, Krankenhaus, Polizei und Industrie überführt worden waren, gab es für die einzelnen Bauern keine Möglichkeit mehr, für sich selbst zu sorgen: Ihre privaten Küchen wurden ebenso wie alle Hausgeräte, Lebensmittel und Tiere konfisziert; ein Wohnortwechsel wurde verboten. Sie waren mit Haut und Haaren einer Bürokratie ausgeliefert, die ihrerseits jeden Boden unter den Füßen verloren hatte.
Die Zwangskollektivierung, der zum Ideal erhobene Dilettantismus und die Umlenkung der Arbeitskraft in industrielle Großprojekte führten zu einem dramatischen Einbruch der Ernteerträge; außerdem verlangte der Staat immer höhere Getreideabgaben. Yang Jisheng schätzt aufgrund seiner Recherchen die Zahl der Hungertoten auf sechsunddreißig Millionen. Aus den Provinzen Henan, Gansu, Sichuan und Anhui berichtet er über zahlreiche in den Archiven dokumentierte Szenen, die sich in den Dörfern abspielten. Als sich die Toten häuften, wurden sie oft nur noch notdürftig verscharrt.
Es kam zu Plünderungen von Lebensmitteltransportzügen. Es bildeten sich lokale Aufstandsbewegungen, die Namen trugen wie "Chinesische Heldenpartei", "Armee der Rechtschaffenheit" oder "Oberbefehl China im Aufbau", doch sie wurden alle rasch niedergeschlagen; das engmaschige Kontrollsystem verhinderte größere Unruhen unter den Bauern, wie sie bei früheren Hungersnöten schon Dynastiewechsel herbeigeführt hatten. In Grenzgebieten ergriffen viele die Flucht, vor allem nach Hongkong und in die Sowjetunion. Insbesondere dokumentiert das Buch zahlreiche Fälle von Kannibalismus und Leichenfledderei. "Es kam vor, dass Väter ihre Söhne, Mütter ihre Töchter, Männer ihre Frauen, Brüder ihre Schwestern und Schwestern ihre Schwestern verzehrten", schreibt Yang.
Mit nicht zu überbietender Konkretion nennt er Orte und Umstände der berichteten Fälle. In besondere Gefahr brachte man sich, wenn man den Raum der eigenen Kommune verließ: Eine Frau aus der Produktionsgruppe Lujiazhang wurde von hungernden Menschen umgebracht; "das Fleisch wurde ihr restlos von den Knochen abgeschabt". Die weitaus meisten Bauern, fügt Yang an, seien jedoch lieber gestorben, als Kannibalen zu werden.
Sein Buch will ein "Grabstein" sein für die Millionen damals "einfach so und ohne einen Laut" verschwundenen Menschen. Das Ereignis wurde tabuisiert, aber unterirdisch sendete es Schockwellen aus, die in der chinesischen Geschichte bis heute wirken. Die katastrophalen Auswirkungen des Großen Sprungs brachten Mao nach 1962 in die Defensive, aus der er sich 1966 durch die Kulturrevolution befreite. Deshalb sieht Yang eine logische Verknüpfung am Werk: Ohne Hungersnot keine Kulturrevolution, "ohne Kulturrevolution, die die Dinge ins Extrem trieb, keine Reform des Wirtschaftssystems". Viel schreibt er über die Demokratie als wichtigste Lehre aus dem so grausam gescheiterten despotischen Experiment; aber dafür brauche China noch Zeit.
Yang Jisheng: "Grabstein - Mùbei". Die Große Chinesische Hungerkatastrophe 1958 - 1962.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 800 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Überwindung der Wirklichkeit auf dem Rücken von Millionen Opfern: Yang Jisheng beschreibt, wie es zur chinesischen Hungersnot der Jahre 1958 bis 1962 kam.
Von Mark Siemons
Im Frühjahr 1959 musste der neunzehn Jahre alte Yang Jisheng miterleben, wie der geliebte Adoptivvater in seinem winzigen Dorf verhungerte. Danach kehrte er in seine Schule in der Kreisstadt zurück und dichtete unverdrossen weiter Hymnen auf den "Großen Sprung nach vorn", wie die von Mao initiierte Massenmobilisierung auf dem Land in China damals genannt wurde. Er hielt den Tod des Vaters einfach für ein privates Unglück, an dem er sich selber mitschuldig fühlte. Yang durchlief alle Stadien eines enthusiasmierten jungen Aktivisten, von den Jungpionieren über die Jugendliga bis zur Parteimitgliedschaft. Ausgerechnet die Wandzeitungen der Kulturrevolution mit ihren Enthüllungen über korrupte Funktionäre sorgten für die erste Irritation. Damals hörte Yang Jisheng auch zum ersten Mal, dass der Große Sprung Millionen von Menschen das Leben gekostet hatte.
Aus dem begeisterten Bauernjungen wurde ein zusehends desillusionierter Journalist der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, der das Handwerk der propagandistischen Nachrichtenverfertigung lernte. Nach seiner Pensionierung schrieb er dann das monumentale Werk, das, 2008 in Hongkong erschienen und auf dem Festland verboten, aber über Raubdrucke verbreitet, nun auf Deutsch vorliegt. Ausführlicher denn je dokumentiert es eines der unheimlichsten und monströsesten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts: eine Hungerkatastrophe, deren dreißig oder vierzig Millionen Toten unmittelbar auf eine abstrakte Ideologie zurückzuführen sind.
Gleichzeitig dokumentiert es die Mechanik der Realitätsabschottung und des Verschweigens, von der der Autor selber ein Teil war - sich schließlich aber befreite. Gerade diese persönliche Beteiligung und die Fülle der ausgewerteten Quellen heben das Buch gegenüber den westlichen Darstellungen des Themas (zuletzt erschien 2010 "Mao's Great Famine" von dem in Hongkong lehrenden Historiker Frank Dikötter) heraus. Seit Anfang der neunziger Jahre hat Yang seinen amtlichen Reporterstatus dazu genutzt, um in Archiven des ganzen Landes zu recherchieren, mit Zeitzeugen zu sprechen. So kamen Zehntausende Seiten Material zusammen, die er zu 950 Seiten im chinesischen Original und immerhin noch achthundert Seiten in der deutschen Fassung kondensierte.
Minutiös zeichnet Yang Jisheng nach, wie Mao den relativ pragmatischen Wirtschaftskurs, zu dem die Kommunistische Partei 1956 gefunden hatte, innerhalb eines Jahres in sein Gegenteil verkehrte. 1956 war das Zentralkomitee noch Staatspräsident Zhou Enlai gefolgt, der sich im Staatsrat gegen ökonomische "Überstürzung" ausgesprochen hatte: "Die Möglichkeit, die Realität zu übertreffen, darf man nicht durcheinanderbringen mit Haltlosigkeit, man darf nicht alles haltlos beschleunigen, sonst ist das sehr gefährlich. Ich bitte doch alle, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen." Ein gutes Jahr später übt Zhou Enlai Selbstkritik an seinen Irrtümern: "Die Jahrzehnte der chinesischen Revolution und die historische Erfahrung des Aufbaus beweisen, dass der Vorsitzende Mao der Vertreter der Wahrheit ist." Getrieben von der Konkurrenz mit der Sowjetunion Chruschtschows, wurde eine neue "Generallinie" verabschiedet, die auf Tempo, Beschleunigung, eine "Anspannung aller Kräfte" auf dem Weg zum Kommunismus hinauslief.
Mao hatte sich damit nicht nur in einem Machtkampf durchgesetzt. Der Autor zeigt, wie der Große Vorsitzende das dem Großen Sprung zugrundeliegende Prinzip der voluntaristischen Wirklichkeitsüberwindung innerhalb weniger Monate durch eine kommunikative Konstellation absicherte, die in der Folge gegen jede Kritik und jede realistische Einschätzung von vornherein immunisierte, sie unmöglich machte. Mao diskreditierte die Warner vor Überstürzung als verkappte "Rechtsabweichler", die Funktionäre an der Basis, die über leere Speicher klagen, als Interessenvertreter der Lebensmittel hortenden reicheren Bauern, die Gegner des Personenkults als Relativisten (warum nicht die verehren, in deren Hand die Wahrheit liegt?), die "bloßen Zuschauer" und "Experten" als neunmalkluge Verhinderer. In einem solchen Setting geriet jeder, der auf reale Bedingungen verwies und nicht die Planvorgaben überbietende Erfolge meldete, in ideologischen Verdacht - mit schwerwiegenden Folgen für Leib und Leben. Mao verlangte ausdrücklich eine doppelte Bilanzierungsweise: neben den öffentlich gemachten Planzielen solle das Zentralkomitee intern auch erhoffte Ziele formulieren, an denen sich dann die öffentlichen Planziele der nächsten Ebene orientieren und so fort. So nahm das Plansoll systematisch von Ebene zu Ebene zu.
Ähnlich wie später bei der Kulturrevolution konnte auf diese Weise ein fatales Zusammenspiel aus Anstoß von oben und Eigendynamik an der Basis zustandekommen, in diesem Fall vor allem der unteren Funktionäre, die sich in Falschmeldungen gegenseitig überboten. Mao konnte sich dann im Verlauf des Desasters immer mehr auf die abgehobene Position dessen zurückziehen, der "Realismus" einforderte und darüber klagte, dass ihm niemand die Wahrheit sage. Menschen außerhalb des Machtgeflechts hatten ohnehin nicht den geringsten Bewegungsspielraum.
Seitdem die Großgenossenschaften 1958 in Volkskommunen inklusive Volksküche, Kinderhort, Schulen, Krankenhaus, Polizei und Industrie überführt worden waren, gab es für die einzelnen Bauern keine Möglichkeit mehr, für sich selbst zu sorgen: Ihre privaten Küchen wurden ebenso wie alle Hausgeräte, Lebensmittel und Tiere konfisziert; ein Wohnortwechsel wurde verboten. Sie waren mit Haut und Haaren einer Bürokratie ausgeliefert, die ihrerseits jeden Boden unter den Füßen verloren hatte.
Die Zwangskollektivierung, der zum Ideal erhobene Dilettantismus und die Umlenkung der Arbeitskraft in industrielle Großprojekte führten zu einem dramatischen Einbruch der Ernteerträge; außerdem verlangte der Staat immer höhere Getreideabgaben. Yang Jisheng schätzt aufgrund seiner Recherchen die Zahl der Hungertoten auf sechsunddreißig Millionen. Aus den Provinzen Henan, Gansu, Sichuan und Anhui berichtet er über zahlreiche in den Archiven dokumentierte Szenen, die sich in den Dörfern abspielten. Als sich die Toten häuften, wurden sie oft nur noch notdürftig verscharrt.
Es kam zu Plünderungen von Lebensmitteltransportzügen. Es bildeten sich lokale Aufstandsbewegungen, die Namen trugen wie "Chinesische Heldenpartei", "Armee der Rechtschaffenheit" oder "Oberbefehl China im Aufbau", doch sie wurden alle rasch niedergeschlagen; das engmaschige Kontrollsystem verhinderte größere Unruhen unter den Bauern, wie sie bei früheren Hungersnöten schon Dynastiewechsel herbeigeführt hatten. In Grenzgebieten ergriffen viele die Flucht, vor allem nach Hongkong und in die Sowjetunion. Insbesondere dokumentiert das Buch zahlreiche Fälle von Kannibalismus und Leichenfledderei. "Es kam vor, dass Väter ihre Söhne, Mütter ihre Töchter, Männer ihre Frauen, Brüder ihre Schwestern und Schwestern ihre Schwestern verzehrten", schreibt Yang.
Mit nicht zu überbietender Konkretion nennt er Orte und Umstände der berichteten Fälle. In besondere Gefahr brachte man sich, wenn man den Raum der eigenen Kommune verließ: Eine Frau aus der Produktionsgruppe Lujiazhang wurde von hungernden Menschen umgebracht; "das Fleisch wurde ihr restlos von den Knochen abgeschabt". Die weitaus meisten Bauern, fügt Yang an, seien jedoch lieber gestorben, als Kannibalen zu werden.
Sein Buch will ein "Grabstein" sein für die Millionen damals "einfach so und ohne einen Laut" verschwundenen Menschen. Das Ereignis wurde tabuisiert, aber unterirdisch sendete es Schockwellen aus, die in der chinesischen Geschichte bis heute wirken. Die katastrophalen Auswirkungen des Großen Sprungs brachten Mao nach 1962 in die Defensive, aus der er sich 1966 durch die Kulturrevolution befreite. Deshalb sieht Yang eine logische Verknüpfung am Werk: Ohne Hungersnot keine Kulturrevolution, "ohne Kulturrevolution, die die Dinge ins Extrem trieb, keine Reform des Wirtschaftssystems". Viel schreibt er über die Demokratie als wichtigste Lehre aus dem so grausam gescheiterten despotischen Experiment; aber dafür brauche China noch Zeit.
Yang Jisheng: "Grabstein - Mùbei". Die Große Chinesische Hungerkatastrophe 1958 - 1962.
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 800 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
"Grabstein" ist dem Rezensenten Detlev Claussen ziemlich auf den Magen geschlagen. Trotzdem: dieses Buch muss gelesen haben, wer über das nachrevolutionäre China mitreden möchte, meint er. Mit "Grabmal" habe Yang Jisheng das lange währende Schweigen von der Hungerkatastrophe zwischen 1958 und 1962 gebrochen. Damals sind in vier Jahren 36 Millionen Menschen gestorben. Hunger in diesem Ausmaß ist niemals nur der Natur geschuldet, schreibt Claussen, sondern sei auch immer ein Zeichen schlechter Herrschaft. Die katastrophale Politik Maos - "Der große Sprung nach vorn" - habe zu diesem Leiden geführt, noch grausamer als in der stalinistischen Sowjetunion. Der Klassenkampf wandte sich mit der Kollektivierung gegen die Bauern und entzog ihnen die Lebensgrundlage. Besonders der Kannibalismus dieser Zeit ist noch heute ein Tabu, während der Hungersnot gehörte er zur Realität. Detlev Claussen sieht in "Grabstein" einen wichtigen Versuch, diese verleugnete Realität aufzuarbeiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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