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George Steiners neues Buch handelt von der Idee der Schöpfung, wie sie sich in der westlichen Kultur von der Bibel über Literatur und Kunst bis in die Philosophie und die Wissenschaftsgeschichte verbreitet hat. Erst das 20. Jahrhundert stellte die Idee des Schöpferischen in Frage und ersetzte sie durch das Prinzip der Erfindung.
George Steiner zeigt, wie stark unsere Zivilisation von den vielfältigen Erscheinungsformen des Schöpferischen geprägt ist und macht deutlich, dass von Wissenschaft und Technik keine Antworten auf die großen Fragen der Moral, der Politik und der Ästhetik zu erwarten
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Produktbeschreibung
George Steiners neues Buch handelt von der Idee der Schöpfung, wie sie sich in der westlichen Kultur von der Bibel über Literatur und Kunst bis in die Philosophie und die Wissenschaftsgeschichte verbreitet hat. Erst das 20. Jahrhundert stellte die Idee des Schöpferischen in Frage und ersetzte sie durch das Prinzip der Erfindung.

George Steiner zeigt, wie stark unsere Zivilisation von den vielfältigen Erscheinungsformen des Schöpferischen geprägt ist und macht deutlich, dass von Wissenschaft und Technik keine Antworten auf die großen Fragen der Moral, der Politik und der Ästhetik zu erwarten sind. Eine Zivilisation, die sich von der Idee der Schöpfung und des Schöpferischen verabschiedet, nimmt große Verluste in Kauf und setzt ihre Zukunft aufs Spiel. Kein anderer als George Steiner vermag es, so eindringlich vor dieser Entwicklung zu warnen.

Autorenporträt
Steiner, George
George Steiner, geboren 1929 in Paris, lehrte in Princeton, Genf und Cambridge; seit 1994 ist er Professor für Komparatistik an der Universität Oxford. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2001

Wir sind die Geschöpfe eines großen Durstes
Der Kritiker als Affe Gottes: George Steiner kehrt zurück zum Ort der Schöpfung und findet eine Wüste, in der transzendentale Trivialitäten funkeln
Noch weiß keiner, welches Gewicht der 11. September für Denken und Handeln der Zeitgenossen gehabt haben wird. Aber man spürt, wie die Erschütterungen sich in der Tiefe fortpflanzen und die Bedeutungen sich verschieben. Nichts zeigt die veränderten Lagen besser an als die Seismologie des Lesens. Das Buch, das wir in der ersten Monatshälfte in die Hand nahmen, hat in der zweiten sein Gesicht verändert. Plötzlich hat alles aktuellen Sinn, erkennen wir akute Zeichen und Deutungen, wo gestern noch toter Buchstabe war; umgekehrt nehmen sich die Wichtigkeiten von gestern im Licht von heute blutleer und papieren aus.
Auch Texte, die zeitfern über den Wassern zu schweben scheinen wie Steiners „Grammatik der Schöpfung”, lässt der Zeitbruch nicht unberührt. Niemand wird das Schlusskapitel über das Schicksal der menschlichen Kreativität, das vom „festlichen Selbstmord” des Kunstwerks spricht, ohne zeitgemäße Assoziationen lesen. Steiner endet mit dem Bild des „Selbst- Destrukt”, einer Metallskulptur, die Jean Tinguely 1960 im Hof des MOMA in New York in Brand setzte („ein Glanz fällt aus der Luft”). Dreihundert Seiten Schöpfungsbericht, und dann ein eve of destruction: Dem Leser dieses Herbstes tritt der moderne Künstler als Schöpfer und Zerstörer entgegen, sein Gesicht geschwärzt von der Asche von Manhattan, seine Kleider bedeckt mit den Zeichen der Kunst und des Terrors. Ein Held der Moderne seit Nietzsche, seit Goya.
Eine Woche im September stand der Leser im Bann einer surrealen Ästhetik. Wie die Welt um ihn herum starrte er, zutiefst fasziniert, auf die Fernsehbilder der in den Körper des Hochhauses eindringenden Maschine. Irgendwann bemerkte er, der gestern noch die unverschämte Lust Ernst Jüngers – das Rotweinglas in der Hand über den Dächern des bombardierten Paris – degoutant gefunden hatte, dass er das Schreckliche in denselben Formen des Schönen rezipierte. Woher rührte die neue, unheimliche Faszination durch den Sonnenkult der Technik? Und was bedeutete die unerwartete Begegnung mit dem Aztekentum der eigenen Kultur auf dem schattigen Talweg der Postmoderne?
Sicher war nur, dass dieser Rückfall in Archaik sich nicht an irgendwelchen dampfenden Altären ereignete, sondern im kalten Blick des Betrachters, der in endloser Wiederholung die Bilder eines sinnlosen Opfers konsumierte. Eine Woche lang gaben die Bilder dem Leser Gelegenheit zu begreifen, dass seine Rolle die eines ersten Kriegsgefangenen war, Gefangener des Ästhetizismus seit Wagner und Nietzsche. Die Ästhetik, einst Fluchtweg aus dem stählernen Gehäuse der ökonomischen und politischen Moderne, war selbst zum Kerker geworden, zu einer komfortablen Kerkerhöhle. Welche Anstrengung würde der Ausbruch aus diesem Gefängnis kosten?
Der Ausbruch fand nicht statt. Stattdessen ereignete sich ein öffentlicher Ausbruch an Hypokrisie, als ein alternder Komponist in neronischer Aufwallung die Detonationen von New York zum größten Kunstwerk aller Zeiten erhob. Dankbar schob das Publikum dem Provokateur zu, was ihm als Wunsch im eigenen Herzen unheimlich und unsagbar bleiben musste, das Verlangen nach Steigerung des Schreckens. Denn das Passwort der modernenen Ästhetik lautet: mehr. Mehr vom Schrecken, mehr vom Entsetzlichen. Wehe dem, der es ausspricht! Stockhausen hatte den Fehler gemacht, dem Hang zum Gesamtkunstwerk seine rezeptionsästhetische Pointe abzulauschen und sie mit der Naivität des Künstlers weiterzuerzählen.
Angesichts der brennenden Türme von New Yok war ihm aufgegangen, dass die Moderne eine rezeptive Haltung zum eigenen Untergang entwickelt hatte und ihre Zusammenbrüche in ästhetischen Kategorien wahrnahm, unabhängig davon, wie sie zustande kamen und welcher Leidenspreis entrichtet wurde. Denn weder ist der Terror selbst, wie Breton dachte, das künstlerische Werk, noch können Amokschützen und Suizidattentäter als Künstler gelten. Aber das Medienpublikum rezipiert ihre „Werke” anders, es nimmt sie wahr, als ob es Kunstwerke wären. Nicht der verstrickte Künstler ist das Problem der Moderne, sondern die Ästhetik, der Wahrnehmungszusammenhang als Verstrickung.
George Steiner kalkuliert seine Risiken besser als Karl Heinz Stockhausen. Seit langem wird Steiner nicht müde, die Ermüdung der okzidentalen Kultur zu beklagen, ihr Epigonentum, die länger werdenden Schatten. Aber nie hat seine Klage bewegender geklungen als auf den ersten Seiten der „Grammatik”: „Wir sind Spätlinge oder fühlen uns als solche. Das Geschirr wird abgeräumt. ‚Feierabend, die Herrschaften‘.” Das klingt nach Hegel, Tod der Kunst. Aber aus Dialektik ist Apodiktik geworden. Vor ihr soll jeder Einspruch verstummen.
Das Abendland, nomen est omen, ist niemals jung gewesen. Doch im Westen war immer noch ein Lichtschimmer zu sehen. Er hielt die Hoffnung auf neue Morgenröten wach, die Utopie, den Glauben an ein Morgen. Auch ihn trägt Steiner ernst zu Grabe. Vorher noch wischt er Nietzsches Wort vom Tod Gottes unwirsch beiseite: „Die Determinante unserer gegenwärtigen Situation ist umfassender. Ich würde sie als ‚den Niedergang des Messianischen‘ bezeichnen.” Der Niedergang des Messianischen reisst das Futur mit sich hinab. Denn durch alle Futurformen leuchtete einst das Licht des Messianischen. Dies Licht, so Steiner, ist nun erloschen: „Grammatiken des Nihilismus flackern sozusagen am Horizont.” Gott straft gerecht am rechten Ort, den Wüstling trifft es am Gemächte, den Wortgewaltigen am Stil. Aber wer Steiner liebt, nimmt Stilblüten in Kauf.
Unmöglich, George Steiner nicht zu lieben: Weil er ein unvergleichlicher Kritiker ist, der den „schwierigen” Autoren der philosophischen Literatur, von Hegel bis Heidegger, von Spinoza bis Simone Weil, der ihren hermetisch weggesperrten und akademisch einbalsamierten Texte zu neuem Leben in der Literatur verholfen hat. Weil er ein Tiefensüchtiger ist, der die Tiefensucht des Geistes, speziell in seiner deutschen Ausprägung, ironisch an den Ohren zieht und dabei abgrundtief versteht. Weil er dem Hang einer Spätzeit, sich in die Ursprünge zu vertiefen, ein wenig liberalen Tadel und unendlich viel metaphysische Sympathie entgegenbringt: „Wir sind die Geschöpfe eines großen Durstes, darauf versessen, an einen Ort heimzukehren, den wir nie gekannt haben.”
Die deutsche Mentalität, weiß George Steiner, ist „vom turbulenten Dunkel des Beginns und der Gründung fasziniert, ja man darf sagen, besessen”. Mit ihr ist es George Steiner, der sich von dem ursprünglichsten aller deutschen Denker seit Meister Eckhardt, von Martin Heidegger, tief hat beeindrucken und prägen lassen. Von Heidegger weiß er um die Nichtigkeit alles Seienden – und spürt dem Reiz nach, den das Nichtsein auf die abendländische Philosophie ausgeübt hat, von Parmenides bis Sartre.
Ist Steiner als Ästhet reiner Rezipient, so ist er als Philosoph Ontologe. Seine Definition des Schöpferischen weilt an den Rändern des faszinierenden Nichts. Aus diesem grundlosen Grund schöpft es die zwei wesentlichen Attribute des Schöpfungsakts: seine wesentliche Freiheit, überhaupt nicht ins Sein getreten zu sein – und seine Inkorporation des Nichts in Form von Unvollkommenheiten, welche die „Potentialiät des Nichtseins” bewahren. In aller großen Kunst liegen wie Schatten des Abgrunds „Spuren des Ungeformten”.
Dies ist der Punkt, an dem George Steiners Kunstlehre die Ästhetik Adornos berührt und sich sogleich wieder von ihr entfernt. Aus Steiners Wort, im tiefsten Innern der Form liege eine Trauer, „eine Spur von Verlust”, klingt romantische Wehmut über die verlorene Unschuld, den verlorenen Ursprung. Doch das Rätsel der Form bleibt unangetastet. Sie ist oder ist nicht – und bewahrt noch in ihrem vollkommenen Sein etwas von der Möglichkeit des Nichtseins.
Während bei Adorno, der an den strengen Autor und Komponisten der Moderne denkt, die Form sich einem spannungsvollen Produktionsprozess, den inhärenten Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Materials verdankt, feiert Steiner, der göttliche Leser, der Kritiker, ein Mysterium jungfräulicher Geburt ex nihilo. Und wo jener eine Produktionsästhetik entwickelt, die den Geniebegriff umgeht, badet dieser in einer Rezeptionsästhetik, die gar nicht genug Genielotion ins Badewasser gießen kann: George Steiner entwickelt eine Kunstlehre nicht für Künstler, sondern für Kenner und Genießer. Eine Ästhetik für Leser, für Kritiker – und für Priester.
Steiners „Grammatik” inszeniert ein faustisches Spiel für zwei Personen, den Teufel und den lieben Gott. Dazwischen steht der Künstler, mal dem einen, mal dem anderen näher. Mit Dante sind wir dem Gott der hohen Kunst nah, mit Marcel Duchamp dem ironischen Teufel der Moderne: Schöpfer der eine, Erfinder der andere. Aber Steiner analysiert nicht nur (sofern man seine Invokationen der großen weißen Kunst Analysen nennen will) die Kunstreligion des Okzidents, die dem Begriff der Schöpfung seinen onto-theologischen Hintergrund gegeben hat – er imitiert sie auch. Bis tief hinein in ihren Aufbau – fünf Kapitel ohne Inhaltsverzeichnis – folgt die „Grammatik” (im Original grammars, also Plural) den ersten Büchern des Alten Testaments, von der Genesis bis zum Deuteronomium. Auf wunderbare Weise, schreibt Steiner, erinnere der Teufel im Buch Hiob an die Gestalt des Kritikers, der mit der Gottheit „bissig vertraut” sei. Der Autor der „Grammatik” zielt offenkundig höher: Er will den Alten selbst beerben, zum Stifter einer neuen Kunstreligion werden. Zusehends verliert sich George Steiner, der wunderbare Kritiker, in den Fußstapfen Zarathustras. Lange Zeit galt die Kunst als Nachäffung der Natur, der Künstler als ihr Affe. Hier erblicken wir den Kritiker als Affen Gottes.
Wären da nicht jene befreienden Frechheiten im Umgang mit dem lieben Gott und der eigenen, schon ziemlich gottgleich gewordenen Person, die die Lektüre Steiners immer wieder zum teuflischen Vergnügen machen. Man lese doch die wunderbare Seite über den Gott Hiobs, der auf die ontologischen Fragen seines Knechts mit dem Stolz des erfolgreichen Künstlers antwortet, des maître, der den catalogue raisonné seines Oeuvres schwingt. Das ist große Theologie, weil sie die Fallhöhe jüdischen Witzes hat. Die Dämonie des Schöpferischen hingegen hält sich Steiner durch eine aus heideggerschen Tiefen gezogene Nichtsfrömmigkeit selbst verschlossen.
Niemals würde George Steiner sich dazu hinreißen lassen, ein explodierendes Hochhaus zum Kunstwerk auszurufen. Aber das Rätsel der Souveränität des modernenen Künstlers, der gleichzeitig Schöpfer und Zerstörer ist, kann auch er nicht lösen: weil er sich sträubt, die Gottgleichung der Kunst aufzulösen. Er bleibt, was seine Rolle immer war, Zuschauer und Rhapsode ihres Untergangs.
ULRICH RAULFF
GEORGE STEINER: Grammatik der Schöpfung. Carl Hanser Verlag, München 2001. 350 Seiten, 49,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Warum ist da nicht nichts?
Vor moralischen Spottkosten wird gewarnt: George Steiner stellt der Bioethik die ontologische Frage / Von Wolfgang Frühwald

Daß die Naturwissenschaften "ein grenzenloses Morgen" vor sich haben, hat George Steiner schon mehrfach betont, denn ihr Prinzip ist der Fortschritt. An der "Erfahrungsbeschleunigung", nach Reinhart Koselleck das Kernkriterium im Prozeß der Modernisierung, sind sie deshalb mehr als alle anderen Wertsysteme der Gesellschaft beteiligt und somit "modern" in einem ganz spezifischen Sinn.

Zur Zeit sind sie auf der Suche nach den Ursprüngen des Lebens ebenso wie des Bewußtseins, der Materie, der Welt und des Kosmos. Ein erstaunlich großes Stück sind sie auf diesem Wege vorangekommen, und "keine Winde der Mode" - sagt Steiner - werden sie "in die Vergangenheit zurückwehen". Sie sind auf Sekunden an den "Urknall" herangekommen, sind in das Innere des Lebens eingedrungen und haben es der technischen Intervention offengelegt, sie haben das scheinbar Unspaltbare (das "Atom") gespalten und damit Kräfte freigesetzt, von denen vorher nur Mythos und Märchen berichtet haben, sie haben die Konstanz der Elemente durchbrochen und in ihren Teams und Arbeitsgruppen eine Gemeinschaftskultur geschaffen, die es weltweit noch nie gegeben hat. Selbst dort, wo Naturwissenschaftler um Patente und Preise und Gelder miteinander konkurrieren, "kommunizieren sie miteinander in einem ,Cyberspace' wechselseitiger Wahrnehmung, die den heutigen tatsächlichen Netzen informationeller Unmittelbarkeit um tausend Jahre voraus ist".

George Steiner, einer der großen fragenden Kulturkritiker unserer Zeit, hat mit einer grundlegenden Frage gegenüber seinem hier skizzierten Befund den ganzen so heftig umrätselten Unterschied der beiden Kulturen von science und literature schlaglichtartig deutlich gemacht. "Was stellt", fragt er, "im Gegensatz hierzu einen Fortschritt gegenüber Homer oder Sophokles, gegenüber Platon oder Dante dar?" Moral, Ästhetik und Geschichte, die grundlegenden Objektbereiche der Geisteswissenschaften, sind nicht jenem "Imperativ des Fortschritts" unterworfen, der die Naturwissenschaften zu den modernen Wissenschaften par excellence macht. Im Schnellschritt des sich steigernden Entwicklungstempos, in einem tendenziell gedächtnislosen Fortschritt gehen offenkundig Erfahrungen und Bewußtseinszustände verloren, die zum Überleben moderner Hochkulturen ebenso wichtig sind wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen und Entdeckungen. "Es gibt keine Gemeinschaft auf der Erde und kann sie nicht geben . . ., die ohne Musik, ohne eine Form der graphischen Kunst, ohne jene Erzählungen von imaginierter Erinnerung auskäme, welche wir Mythos und Dichtung nennen." Zumindest gefährdet sind heute Gedächtnis und Erinnerung, Einsamkeit, Stille und Privatheit, der wirkende Zufall und jetzt auch - das ist George Steiners Thema - die Idee der Schöpfung und der Kreativität. Sie wird ersetzt durch bloßes Erfinden und Entdecken, wobei die Vorstellung der Kosmogonie ebenso unter Druck gerät wie ihr Analogon, die schöpferische Phantasie des Künstlers.

Schöpfung ist mehr als Erfindung, und gerade der Bezug des künstlerischen Schaffens und Erschaffens auf den Anfang aller Dinge, die Zeitlosigkeit des großen (erschaffenen) Kunstwerkes, inmitten des historischen Ablaufs der Zeit, hebt "Schöpfung" und "Schöpfer" über die Immanenz auch der bedeutenden Erfindung und der genialen Entdeckung hinaus. Der Glanz, der dieser Kreativität eignet, entspringt der Wiederholung ebenjenes "ersten Augenblicks" der Schöpfung, alle große Literatur ist ein einziges Déjà-vu. So haben die "Grammatiken der Schöpfung", die George Steiner uns zu lesen lehrt: das Buch Hiob, die Epen Homers, Platons "Timaios", Dante, Hölderlin, Flaubert, Joyce, Celan und viele andere, allesamt etwas vom Abglanz des ersten Tages, ja einer Zeit vor aller Zeit an sich. Denn das ist die grundlegende Frage, die George Steiner, allen naturtheoretischen Warnungen zum Trotz, noch einmal und wieder einmal zu stellen wagt, die ontologische Frage: "Warum ist da nicht nichts?"

Er beantwortet sie aus der Lektüre der "Grammatiken der Schöpfung", aus dem Postulat der Verantwortung, die der Schöpfer gegenüber seiner Schöpfung hat. Daß diese Frage und diese Antwort immer wieder mit grausamen Aporien konfrontiert sind, mit solchen individuellen Leides, aber auch mit solchen, wie sie die Schoa gestellt hat, weiß Steiner wohl. Doch entbinden uns diese Aporien nicht davon, die ontologische Frage zu stellen. Ob Levinas recht hat, daß "nur der Entschluß, für andere zu leben, . . . den Schrecken der Existenz validieren und annehmbar machen" kann?

Die Frage nach der Schöpfung und den analogen Schöpfungen sieht Steiner heute grundlegend erschüttert. Wie großen Erdbeben nicht meßbare, aber von Tieren wahrgenommene Vibrationen vorausgehen, so hat die sprachkritische und sprachskeptische Bewegung der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert jene Erschütterungen vorgedeutet, die von dem mörderischen letzten Jahrhundert dann ausgegangen sind. Sie hat die Mutationen des "Sprachtieres" angezeigt, als welches der Mensch bis dahin (seit der Antike) verstanden wurde. Verwandelt hat sich unter dem Eindruck des blutigsten Jahrhunderts der neueren Geschichte, unter der Erfahrung der - von Stefan Zweig so genannten - programmatischen Anti-Humanität des Nationalsozialismus unsere Wahrnehmung des Todes, unser Gefühl für den Tod - und damit auch für seinen Gegenpol: die Unsterblichkeit. Die Industrialisierung des Todes, seine Namenlosigkeit, seine Einbeziehung in einen "fast kommerziellen Prozeß und in süßsauere Routine", hat die Würde des Todes in unserer Kultur verändert.

Mit ihr aber verändert sich auch das Schöne, das - schon in Schillers "Nänie" - nichts anderes ist als die Klage der Götter über den Tod des Vollkommenen. Bei Steiner heißt diese Erkenntnis, daß "der Ringkampf mit dem dunklen Engel archetypisch (ist) für menschliche Kreativität". Diese archetypische Wahrnehmung hat sich verändert, der Gedanke des Überlebens im Kunstwerk ist "mit dem Übergang unserer Kultur und des sie prägenden Vokabulars zu einem neuen Code des Kollektiven, des Ersetzbaren, des Ephemeren" suspekt, peinlich, ja nahezu lächerlich geworden. Die Mutation der Todeswahrnehmung hat die Mutation des Ästhetischen unweigerlich zur Folge.

Daß "die Geschichte aus der ,Genesis' (aus der Schöpfung) ein Ende gefunden hat", glaubt auch George Steiner nicht, der unserer Kultur Müdigkeit im Kern attestiert. Doch die Veränderung dieser Geschichte innerhalb einer weltumspannenden Wertehierarchie, "die in zunehmendem Maße von den Naturwissenschaften und ihrer technologischen Anwendung dominiert wird", steht außer Zweifel. Ebenso steht außer Zweifel, daß die Naturwissenschaften und ihre Anwendungen ohne diese Geschichte, ohne die aus dieser Quelle stets zu erneuernde menschliche Kreativität nicht überleben können, zumindest nicht human überleben können. "Über die Gott-Hypothese", sagt George Steiner, "läßt sich nicht ohne Kosten spotten." Er gehört zu den wenigen Kulturkritikern, die ohne Wehleidigkeit und in einer zugänglichen Sprache die Grundfragen unserer Zivilisation verständlich machen, den Kontinuitätsbruch des zwanzigsten Jahrhunderts, die Entstehung neuer Wahrnehmungsmöglichkeiten, aber auch die damit einhergehenden Verluste. Auf diesem Niveau würden wir gerne mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den Naturwissenschaften diskutieren.

George Steiner: "Grammatik der Schöpfung". Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Carl Hanser Verlag, München 2001. 348 S., geb., 49,80 DM.

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