Sie überlebten zwei Weltkriege, erlebten den Rassismus, flohen vor dem Nationalsozialismus. Sie entgingen dem Holocaust und überlebten eine Odyssee. Adorno und Horkheimer hatten den Mut, nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückzukommen, um eine andere, humanere Gesellschaft aufzubauen.
Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär - allen voran ihr Papst, Theodor W. Adorno, und ihr Finanz- und Außenminister, Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft eine vielschichtige Biographie der Frankfurter Schule, die sich mitten im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhundert ereignet. Mitreißend schildert er, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er Jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Kritisch beobachtet Jeffries, wie die 68er-Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Ironisch hält er fest, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass die »Schule« geschlossen wird. Und dennoch stellte die Frankfurter Schule fast alles vom Kopf auf die Füße: Entschieden wehrten sie sich gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus, Beherrschung von Natur und Mensch. Die deutsche Gesellschaft ist seither eine ganz andere: freier, offener, (selbst-)kritischer.
»Eine fesselnde Geschichte des Lebens und der wichtigsten Ideen der führenden Denker der Frankfurter Schule.«
New York Review of Books
»Eine leicht zugängliche, unterhaltsame Geschichte von einer der beeindruckenderen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.«
Owen Hatherley, The Guardian
Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär - allen voran ihr Papst, Theodor W. Adorno, und ihr Finanz- und Außenminister, Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft eine vielschichtige Biographie der Frankfurter Schule, die sich mitten im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhundert ereignet. Mitreißend schildert er, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er Jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Kritisch beobachtet Jeffries, wie die 68er-Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Ironisch hält er fest, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass die »Schule« geschlossen wird. Und dennoch stellte die Frankfurter Schule fast alles vom Kopf auf die Füße: Entschieden wehrten sie sich gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus, Beherrschung von Natur und Mensch. Die deutsche Gesellschaft ist seither eine ganz andere: freier, offener, (selbst-)kritischer.
»Eine fesselnde Geschichte des Lebens und der wichtigsten Ideen der führenden Denker der Frankfurter Schule.«
New York Review of Books
»Eine leicht zugängliche, unterhaltsame Geschichte von einer der beeindruckenderen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.«
Owen Hatherley, The Guardian
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Worüber reden die Mönche der Moderne im Café Marx?
Mit viel Phantasie: Stuart Jeffries hat ein unhistorisches Buch über die Geschichte der Frankfurter Schule geschrieben.
Von Jörg Später
Stuart Jeffries, Jornalist des "Guardian", hat neue und ungewohnte Perspektiven auf die Frankfurter Sozialphilosophie anzubieten. Damit ist nicht der Titel seines nun auf Deutsch vorliegenden Buchs gemeint, also das Bonmot vom Grand Hotel Abgrund, das von Georg Lukács stammt und dessen Missmut über die Praxisabstinenz bis -verweigerung von Horkheimer und Adorno ausdrückt, den der Autor teilt. Erfrischend ungewöhnlich ist, dass so manche Nebenfigur in der langen Geschichte des Instituts für Sozialforschung hier stärker als sonst üblich ausgeleuchtet wird: Erich Fromm etwa oder Henryk Grossmann, jener orthodoxe Marxist unter den Frankfurtern, der die gesellschaftlichen Miseren unverdrossen in der politischen Ökonomie suchte und nicht in der Kultur, womit Jeffries sympathisiert.
Voller Überraschungen sind auch die Einstiege in die Kapitel. Der Autor schaut gerne vom Rand aus auf die Granden der Frankfurter Sozialphilosophie. Walter Benjamins Erinnerungen an seine Berliner Kindheit von 1900 ist beispielsweise die Ouvertüre (und nicht etwa die Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923/24). Der Autor will eben das ganze Jahrhundert von den Pferdekutschen bis zur Online-Kulturindustrie erfassen, und warum auch nicht. Und er will zeigen, dass die Randfigur Benjamin der originelle Vordenker des Kreises um Horkheimer war (was nach Ansicht des Rezensenten allerdings nur auf Adorno zutrifft).
Nach Benjamin betritt dann Freud die Bühne des Stücks, um die Genealogie der Kritischen Theorie zu beleuchten. Dem Autor ist nämlich aufgefallen, dass das Frankfurter Milieu durchgängig von ödipalen Generationenkonflikten zwischen Vätern und Söhnen geprägt war. Erst nach Freud kommen dann die gesellschaftlichen Verhältnisse: Klassengesellschaft, Antisemitismus . . . - so entsteht hier die "Frankfurter Schule".
Das Buch ist aber auch merkwürdig: Der Autor verwechselt die "Frankfurter Schule" mit dem Institut für Sozialforschung. Doch es gab keine "Frankfurter Schule", bis die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren und später manche Schüler Adornos von einer Schule sprachen. Weder Carl Grünberg noch Axel Honneth waren je "Leiter der Frankfurter Schule". Jeffries Erzählung ist zutiefst unhistorisch. Sie konstruiert ein Subjekt, von dem keiner seiner "Mitglieder" wusste, dass es existiert. Ob und in welcher Hinsicht eine Gruppe von Sozialphilosophen, Soziologen, Sozialpsychologen, marxistischen Wirtschafts- und Kulturkritikern und so weiter existierte, die mehr oder weniger lose mit dem Institut verbunden waren, müsste gezeigt, statt bloß behauptet werden.
Jeffries aber hat andere Ziele: Er stellt die vermeintlichen Schlüsseltexte vor, manchmal referiert er präzise und treffend, manchmal ausschweifend und wirr. Daneben kommentiert er sie ohne Unterlass. Oft findet er etwas abstrus, bemerkt Widersprüche und beklagt sich über alte patriarchale weiße Männer, die Horkheimer, Adorno und Marcuse in den sechziger Jahren schließlich auch waren. Vor allem aber lässt Jeffries seine Leser wissen, was ihm alles so dazu einfällt, vorwiegend aus dem Bereich der Popkultur. Es ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn immer wieder mal gefragt wird, wie aktuell diese oder jene Zeitdiagnose noch ist, ob sie denn auch "stimmt", aber in dieser Häufigkeit ist das bei einem Phänomen mit historischem Wahrheitskern doch eher unangemessen.
Zudem ist das Buch voll von sprachlichen Übersprungshandlungen: Mönche der Moderne sitzen etwa im Café Marx, das irgendwann in Café Max umbenannt wird. Abenteurer wie der sowjetische Spion Richard Sorge bringen die biederen "Lehnstuhlphilosophen" in Verlegenheit, und Jeffries folgt den "Actionhelden" bereitwillig auf ihren Wegen. Der Autor walzt so manches Gerücht aus und sagt dann irgendwann, dass es so nicht war, versichert aber doch in einem dieser Fälle: "Beim Lesen dieser Passage fällt es schwer, nicht an die Szene in ,Annie Hall' zu denken, in der Alvy Singer, gespielt von Woody Allen, unklugerweise mit einer Reporterin vom Rolling Stone zu einem Konzert mit Bob Dylan geht." Man hat oft mit solchen Sätzen zu kämpfen.
Jeffries hat eine blühende Phantasie und produziert so manche Stilblüte. Seine Kapitelüberschriften sind so verwegen wie verrätselt: "Im Rachen des Krokodils" und "An die Wand Motherfuckers", so heißen doch noch nicht einmal B-Pictures. Auch die Übersetzung trägt zum gemischten Leseerlebnis bei. Dass es sich um eine Übertragung handelt, vergisst man leider zu keinem Zeitpunkt. Kurios etwa dies: Adornos Texte "bilden nicht, was man vielleicht eher erwartet hätte, die verzweifelt gutgelaunte Maske eines Mannes ab, der zusehen muss, wie sich hinter seinen Eltern der Abgrund öffnet." Gute Güte! Eine Übersetzung ist ein neu geschriebener Text, eine schwierige Angelegenheit, und es ist nicht einzusehen, warum man auf ein Lektorat verzichten sollte - das in diesem Fall zudem so manche der vielen krassen sachlichen Fehler des Originals hätte eliminieren können.
Hier nur ein paar wenige davon: Weder Benjamin noch Adorno waren 1925 mit dem Institut für Sozialforschung verbunden. Noch zum Zeitpunkt seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität 1931 war Adorno kein Mitarbeiter und Horkheimer folglich nicht sein "Vorgesetzter". Benjamins Kunstwerkaufsatz wurde zuerst nicht in Deutsch, sondern in Französisch veröffentlicht. Gershom Scholem war kein jüdischer Mystiker, sondern forschte über die jüdische Mystik. Ernst Bloch "lebte und wirkte im Exil" nicht "in Zürich", sondern war dort nur eine kurze Zeit. Habermas war kein Schüler Heideggers und schrieb auch keinen "Brief an seinen älteren Lehrer", sondern 1953 einen kritischen Artikel über ihn in dieser Zeitung. Er war zudem nie Leiter des Instituts für Sozialforschung und weder explizit noch implizit ein Revolutionär. Wie gesagt, ein seltsames Buch.
Stuart Jeffries: "Grand Hotel Abrund". Die Frankfurter Schule und ihre Zeit.
Aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 509 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit viel Phantasie: Stuart Jeffries hat ein unhistorisches Buch über die Geschichte der Frankfurter Schule geschrieben.
Von Jörg Später
Stuart Jeffries, Jornalist des "Guardian", hat neue und ungewohnte Perspektiven auf die Frankfurter Sozialphilosophie anzubieten. Damit ist nicht der Titel seines nun auf Deutsch vorliegenden Buchs gemeint, also das Bonmot vom Grand Hotel Abgrund, das von Georg Lukács stammt und dessen Missmut über die Praxisabstinenz bis -verweigerung von Horkheimer und Adorno ausdrückt, den der Autor teilt. Erfrischend ungewöhnlich ist, dass so manche Nebenfigur in der langen Geschichte des Instituts für Sozialforschung hier stärker als sonst üblich ausgeleuchtet wird: Erich Fromm etwa oder Henryk Grossmann, jener orthodoxe Marxist unter den Frankfurtern, der die gesellschaftlichen Miseren unverdrossen in der politischen Ökonomie suchte und nicht in der Kultur, womit Jeffries sympathisiert.
Voller Überraschungen sind auch die Einstiege in die Kapitel. Der Autor schaut gerne vom Rand aus auf die Granden der Frankfurter Sozialphilosophie. Walter Benjamins Erinnerungen an seine Berliner Kindheit von 1900 ist beispielsweise die Ouvertüre (und nicht etwa die Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923/24). Der Autor will eben das ganze Jahrhundert von den Pferdekutschen bis zur Online-Kulturindustrie erfassen, und warum auch nicht. Und er will zeigen, dass die Randfigur Benjamin der originelle Vordenker des Kreises um Horkheimer war (was nach Ansicht des Rezensenten allerdings nur auf Adorno zutrifft).
Nach Benjamin betritt dann Freud die Bühne des Stücks, um die Genealogie der Kritischen Theorie zu beleuchten. Dem Autor ist nämlich aufgefallen, dass das Frankfurter Milieu durchgängig von ödipalen Generationenkonflikten zwischen Vätern und Söhnen geprägt war. Erst nach Freud kommen dann die gesellschaftlichen Verhältnisse: Klassengesellschaft, Antisemitismus . . . - so entsteht hier die "Frankfurter Schule".
Das Buch ist aber auch merkwürdig: Der Autor verwechselt die "Frankfurter Schule" mit dem Institut für Sozialforschung. Doch es gab keine "Frankfurter Schule", bis die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren und später manche Schüler Adornos von einer Schule sprachen. Weder Carl Grünberg noch Axel Honneth waren je "Leiter der Frankfurter Schule". Jeffries Erzählung ist zutiefst unhistorisch. Sie konstruiert ein Subjekt, von dem keiner seiner "Mitglieder" wusste, dass es existiert. Ob und in welcher Hinsicht eine Gruppe von Sozialphilosophen, Soziologen, Sozialpsychologen, marxistischen Wirtschafts- und Kulturkritikern und so weiter existierte, die mehr oder weniger lose mit dem Institut verbunden waren, müsste gezeigt, statt bloß behauptet werden.
Jeffries aber hat andere Ziele: Er stellt die vermeintlichen Schlüsseltexte vor, manchmal referiert er präzise und treffend, manchmal ausschweifend und wirr. Daneben kommentiert er sie ohne Unterlass. Oft findet er etwas abstrus, bemerkt Widersprüche und beklagt sich über alte patriarchale weiße Männer, die Horkheimer, Adorno und Marcuse in den sechziger Jahren schließlich auch waren. Vor allem aber lässt Jeffries seine Leser wissen, was ihm alles so dazu einfällt, vorwiegend aus dem Bereich der Popkultur. Es ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn immer wieder mal gefragt wird, wie aktuell diese oder jene Zeitdiagnose noch ist, ob sie denn auch "stimmt", aber in dieser Häufigkeit ist das bei einem Phänomen mit historischem Wahrheitskern doch eher unangemessen.
Zudem ist das Buch voll von sprachlichen Übersprungshandlungen: Mönche der Moderne sitzen etwa im Café Marx, das irgendwann in Café Max umbenannt wird. Abenteurer wie der sowjetische Spion Richard Sorge bringen die biederen "Lehnstuhlphilosophen" in Verlegenheit, und Jeffries folgt den "Actionhelden" bereitwillig auf ihren Wegen. Der Autor walzt so manches Gerücht aus und sagt dann irgendwann, dass es so nicht war, versichert aber doch in einem dieser Fälle: "Beim Lesen dieser Passage fällt es schwer, nicht an die Szene in ,Annie Hall' zu denken, in der Alvy Singer, gespielt von Woody Allen, unklugerweise mit einer Reporterin vom Rolling Stone zu einem Konzert mit Bob Dylan geht." Man hat oft mit solchen Sätzen zu kämpfen.
Jeffries hat eine blühende Phantasie und produziert so manche Stilblüte. Seine Kapitelüberschriften sind so verwegen wie verrätselt: "Im Rachen des Krokodils" und "An die Wand Motherfuckers", so heißen doch noch nicht einmal B-Pictures. Auch die Übersetzung trägt zum gemischten Leseerlebnis bei. Dass es sich um eine Übertragung handelt, vergisst man leider zu keinem Zeitpunkt. Kurios etwa dies: Adornos Texte "bilden nicht, was man vielleicht eher erwartet hätte, die verzweifelt gutgelaunte Maske eines Mannes ab, der zusehen muss, wie sich hinter seinen Eltern der Abgrund öffnet." Gute Güte! Eine Übersetzung ist ein neu geschriebener Text, eine schwierige Angelegenheit, und es ist nicht einzusehen, warum man auf ein Lektorat verzichten sollte - das in diesem Fall zudem so manche der vielen krassen sachlichen Fehler des Originals hätte eliminieren können.
Hier nur ein paar wenige davon: Weder Benjamin noch Adorno waren 1925 mit dem Institut für Sozialforschung verbunden. Noch zum Zeitpunkt seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität 1931 war Adorno kein Mitarbeiter und Horkheimer folglich nicht sein "Vorgesetzter". Benjamins Kunstwerkaufsatz wurde zuerst nicht in Deutsch, sondern in Französisch veröffentlicht. Gershom Scholem war kein jüdischer Mystiker, sondern forschte über die jüdische Mystik. Ernst Bloch "lebte und wirkte im Exil" nicht "in Zürich", sondern war dort nur eine kurze Zeit. Habermas war kein Schüler Heideggers und schrieb auch keinen "Brief an seinen älteren Lehrer", sondern 1953 einen kritischen Artikel über ihn in dieser Zeitung. Er war zudem nie Leiter des Instituts für Sozialforschung und weder explizit noch implizit ein Revolutionär. Wie gesagt, ein seltsames Buch.
Stuart Jeffries: "Grand Hotel Abrund". Die Frankfurter Schule und ihre Zeit.
Aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019. 509 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2019Denken für die Menschheit
„Grand Hotel Abgrund“: Stuart Jeffries führt durch die Frankfurter Schule
Mit dem Geld eines Kapitalisten wurde 1924 in Frankfurt am Main das kapitalismuskritische Institut für Sozialforschung gegründet. Als „Frankfurter Schule“ wurde die dort entwickelte kritische Theorie weltberühmt, auch weil sie zehn Jahre später von den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil getrieben wurde. Um sie auf eine Formel zu bringen, obwohl die unterschiedlichen Denker der kritischen Theorie formelhaftes Marketing hassten: Das Institut für Sozialforschung verband eine zwischen Pessimismus und Utopie changierende, jedenfalls nicht-revolutionäre Lektüre von Karl Marx mit einer von Sigmund Freud inspirierten Sozialpsychologie der modernen Gesellschaft.
Heute finanzieren Internetkonzerne Ethikinstitute. Und heute gibt es drei Problembereiche, in denen wieder neu an die Schriften der Frankfurter Schule angeknüpft wird. Erstens die Frage nach dem „autoritären Charakter“: Warum wollen in halbwegs freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaften wieder mehr Bürger von intoleranten Rechtspopulisten beherrscht werden?
Zweitens scheinen die düsteren Beschreibungen einer „Kulturindustrie“, die Theodor W. Adorno und andere in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwarfen, erst in den Apparaturen des kalifornischen Netz-Kapitalismus so richtig zu greifen: die Verzahnung von ständiger Selbstdarstellung und gezielter Weckung von Konsumbedürfnissen; die digitale Individualität, die zur Konformität wird.
Und drittens, damit zusammenhängend, ist die schwierige Verständigung darüber im Gang, welchen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die digitale Kommunikation eigentlich mit sich bringt – so hieß die 1962 erschienene Habilitationsschrift von Jürgen Habermas. Gibt es überhaupt einen demokratischen Debattenraum, der nicht vollkommen fragmentiert oder, wie Habermas damals schrieb, „vermachtet“ ist? Was verändert sich, wenn die „One-to-many“-Kommunikation der Massenmedien in die „Many-to-many“-Kommunikation im Internet übergeht?
Zu all diesen Fragen der Aktualisierbarkeit äußert sich der linke britische Publizist Stuart Jeffries in seiner Geschichte der Frankfurter Schule. Es sind aber leider die schwächeren Passagen seines Buches, weil sie das kulturkritische Klagen einfach in die Gegenwart perpetuieren, und weil weder die historischen Differenzen noch andere soziologische Perspektiven zur Sprache kommen. „Man kann wohl sagen“, schreibt Jeffries, „dass wir noch immer in einer Welt leben, die derjenigen ähnelt, die von den Frankfurter Theoretikern so harsch kritisiert wurde – auch wenn wir mehr Wahlfreiheiten haben als je zuvor.“ Ja, das kann man wohl sagen, aber lieber wüsste man es etwas genauer.
Stark hingegen ist der gesamte erzählerische Zugriff des Buches. Es heißt „Grand Hotel Abgrund“, weil einst der marxistische Literaturtheoretiker und Philosoph Georg Lukács den Frankfurtern mit dieser Benennung vorwarf, sie hätten sich zu folgenlos und feinsinnig in der dialektischen Negativität ihrer Gesellschaftskritik eingerichtet. Das ist das Dilemma, das Adorno selbst in den im Exil geschriebenen „Minima Moralia“ als Problem der kritischen Theoretiker formuliert hat: „Indem sie überhaupt noch das Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs.“ Max Horkheimer, sein Kompagnon und Ko-Autor der „Dialektik der Aufklärung“, schrieb ebenfalls im Exil 1937, mit nicht sehr viel mehr Hoffnung, es sei „die Aufgabe des kritischen Theoretikers, die Spannung zwischen seiner Einsicht und der unterdrückten Menschheit, für die er denkt, zu verringern“.
In genau dieser Spannung nun erzählt Stuart Jeffries seine Geschichte als eine „Gruppenbiographie“. Er führt wirklich sehr lebendig und kundig, und trotz großer Verehrung auch gar nicht unkritisch, durch die Theorie- und Zeitgeschichte: Walter Benjamin in Neapel und Marseille, das Verhältnis von Ästhetik und Zeitkritik, Denk- und Schreib-Stile, das kalifornische Exil zwischen Hollywood und Doktor Faustus, die Zerwürfnisse im Zuge des Kalten Kriegs und der Studentenbewegung nebst einer kleinen Ehrenrettung für den etwas kitschigen Erich Fromm.
Fachleute werden da vieles zu rasant und pauschal finden und die ideengeschichtlichen Werke von Martin Jay, Rolf Wiggershaus und anderen sowie die einschlägigen Biografien bevorzugen, die Stuart Jeffries dankbar auswertet. Dafür dürfte dies die unterhaltsamste, am leichtesten zu lesende Einführung in die Frankfurter Schule sein, die zugleich genug zu denken gibt. Und mindestens eine gute Einstimmung für zwei weitere Bücher, die im November erscheinen werden: Eine neue Biografie über die „graue Eminenz“ Friedrich Pollock sowie Jürgen Habermas’ monumentales Alterswerk über die Genealogie von Glauben und Wissen.
JOHAN SCHLOEMANN
Stuart Jeffries:
Grand Hotel Abgrund.
Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen übersetzt
von Susanne Held.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2019.
509 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Grand Hotel Abgrund“: Stuart Jeffries führt durch die Frankfurter Schule
Mit dem Geld eines Kapitalisten wurde 1924 in Frankfurt am Main das kapitalismuskritische Institut für Sozialforschung gegründet. Als „Frankfurter Schule“ wurde die dort entwickelte kritische Theorie weltberühmt, auch weil sie zehn Jahre später von den Nationalsozialisten ins amerikanische Exil getrieben wurde. Um sie auf eine Formel zu bringen, obwohl die unterschiedlichen Denker der kritischen Theorie formelhaftes Marketing hassten: Das Institut für Sozialforschung verband eine zwischen Pessimismus und Utopie changierende, jedenfalls nicht-revolutionäre Lektüre von Karl Marx mit einer von Sigmund Freud inspirierten Sozialpsychologie der modernen Gesellschaft.
Heute finanzieren Internetkonzerne Ethikinstitute. Und heute gibt es drei Problembereiche, in denen wieder neu an die Schriften der Frankfurter Schule angeknüpft wird. Erstens die Frage nach dem „autoritären Charakter“: Warum wollen in halbwegs freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaften wieder mehr Bürger von intoleranten Rechtspopulisten beherrscht werden?
Zweitens scheinen die düsteren Beschreibungen einer „Kulturindustrie“, die Theodor W. Adorno und andere in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwarfen, erst in den Apparaturen des kalifornischen Netz-Kapitalismus so richtig zu greifen: die Verzahnung von ständiger Selbstdarstellung und gezielter Weckung von Konsumbedürfnissen; die digitale Individualität, die zur Konformität wird.
Und drittens, damit zusammenhängend, ist die schwierige Verständigung darüber im Gang, welchen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ die digitale Kommunikation eigentlich mit sich bringt – so hieß die 1962 erschienene Habilitationsschrift von Jürgen Habermas. Gibt es überhaupt einen demokratischen Debattenraum, der nicht vollkommen fragmentiert oder, wie Habermas damals schrieb, „vermachtet“ ist? Was verändert sich, wenn die „One-to-many“-Kommunikation der Massenmedien in die „Many-to-many“-Kommunikation im Internet übergeht?
Zu all diesen Fragen der Aktualisierbarkeit äußert sich der linke britische Publizist Stuart Jeffries in seiner Geschichte der Frankfurter Schule. Es sind aber leider die schwächeren Passagen seines Buches, weil sie das kulturkritische Klagen einfach in die Gegenwart perpetuieren, und weil weder die historischen Differenzen noch andere soziologische Perspektiven zur Sprache kommen. „Man kann wohl sagen“, schreibt Jeffries, „dass wir noch immer in einer Welt leben, die derjenigen ähnelt, die von den Frankfurter Theoretikern so harsch kritisiert wurde – auch wenn wir mehr Wahlfreiheiten haben als je zuvor.“ Ja, das kann man wohl sagen, aber lieber wüsste man es etwas genauer.
Stark hingegen ist der gesamte erzählerische Zugriff des Buches. Es heißt „Grand Hotel Abgrund“, weil einst der marxistische Literaturtheoretiker und Philosoph Georg Lukács den Frankfurtern mit dieser Benennung vorwarf, sie hätten sich zu folgenlos und feinsinnig in der dialektischen Negativität ihrer Gesellschaftskritik eingerichtet. Das ist das Dilemma, das Adorno selbst in den im Exil geschriebenen „Minima Moralia“ als Problem der kritischen Theoretiker formuliert hat: „Indem sie überhaupt noch das Denken gegenüber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte; indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs.“ Max Horkheimer, sein Kompagnon und Ko-Autor der „Dialektik der Aufklärung“, schrieb ebenfalls im Exil 1937, mit nicht sehr viel mehr Hoffnung, es sei „die Aufgabe des kritischen Theoretikers, die Spannung zwischen seiner Einsicht und der unterdrückten Menschheit, für die er denkt, zu verringern“.
In genau dieser Spannung nun erzählt Stuart Jeffries seine Geschichte als eine „Gruppenbiographie“. Er führt wirklich sehr lebendig und kundig, und trotz großer Verehrung auch gar nicht unkritisch, durch die Theorie- und Zeitgeschichte: Walter Benjamin in Neapel und Marseille, das Verhältnis von Ästhetik und Zeitkritik, Denk- und Schreib-Stile, das kalifornische Exil zwischen Hollywood und Doktor Faustus, die Zerwürfnisse im Zuge des Kalten Kriegs und der Studentenbewegung nebst einer kleinen Ehrenrettung für den etwas kitschigen Erich Fromm.
Fachleute werden da vieles zu rasant und pauschal finden und die ideengeschichtlichen Werke von Martin Jay, Rolf Wiggershaus und anderen sowie die einschlägigen Biografien bevorzugen, die Stuart Jeffries dankbar auswertet. Dafür dürfte dies die unterhaltsamste, am leichtesten zu lesende Einführung in die Frankfurter Schule sein, die zugleich genug zu denken gibt. Und mindestens eine gute Einstimmung für zwei weitere Bücher, die im November erscheinen werden: Eine neue Biografie über die „graue Eminenz“ Friedrich Pollock sowie Jürgen Habermas’ monumentales Alterswerk über die Genealogie von Glauben und Wissen.
JOHAN SCHLOEMANN
Stuart Jeffries:
Grand Hotel Abgrund.
Die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Aus dem Englischen übersetzt
von Susanne Held.
Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2019.
509 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wie ein Conferencier führt Stuart Jeffries durch die Salons des Grand Hotel Abgrund [...] ihm gelingt das Panorama einer Gruppe von intellektuellen Außenseitern, deren Denken in einem abgründigen Jahrhundert eine staunenswerte Weltkarriere durchlief und bis heute Inspiration bietet, in Zeiten von globalem Kapitalismus und autoritärer Renaissance.« Alexander Cammann, Die Zeit, 21.11.2019 Alexander Cammann Die Zeit 20191121