Die Poesie lebt - doch die ungeheure Vielfalt der Dichter aller Sprachen, aller Länder von Albanien bis Zypern ist nahezu unbekannt. So ist es höchste Zeit für eine neue, aufregende Bestandaufnahme: Nach den legendären Vorgängern "Museum der modernen Poesie" von Hans Magnus Enzensberger (1960) und "Atlas der neuen Poesie" von Joachim Sartorius (1995) machen sich Jan Wagner und Federico Italiano auf eine faszinierende Reise. Die "Grand Tour" durch die junge Lyrik Europas gibt poetischen Proviant für Jahre: Unbekanntes, Überraschendes und Unerhörtes - in Original und Übersetzung. Eine Entdeckungsreise für wache Geister.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Gedichte treiben auf Chile zu
Ein Wunderwerk der jungen Dichtkunst im kollektiven Zusammenspiel: "Grand Tour" unternimmt sieben Reisen durch die europäische Lyrik.
Von Paul Ingendaay
Alle paar Jahrzehnte kommt eine lyrische Anthologie heraus, die es noch einmal von den Dächern schreit: Leute, lest Gedichte! Den Anfang machte 1961 Hans Magnus Enzensbergers "Museum der modernen Poesie" (Suhrkamp), das den Nachkriegsdeutschen mit dem Brio der Entdeckung eine andere Moderne aufschloss, von Lorca bis Mandelstam. Vom Begriff des "Museums" hat sich Enzensberger später selbst distanziert und den "Atlas" vorgeschlagen. Genau den nahm Joachim Sartorius dann 1995 in den Titel seines herrlichen "Atlas der neuen Poesie" (Rowohlt) und unterteilte ihn in neun "Mappen". Das hatte einen gewissen Geo-Schick, roch nach Abenteuer und Vorläufigkeit. Sartorius' Vorwort ist als Appell, Bekenntnis und Beschwörung noch immer lesenswert.
Vom großen Trotzdem der literarischen Moderne ist bei Sartorius' Nachfolgern wenig geblieben. Der gewichtige Band "Grand Tour - Reisen durch die junge Lyrik Europas" (Hanser) gibt sich fröhlich, unternehmungslustig und vor allem gemeinschaftlich und inklusiv. Europa, darunter verstehen die Herausgeber Jan Wagner und Federico Italiano all jene Länder, "die aus geographischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können und müssen". Ansonsten weigern sich die beiden Herausgeber, das Los minoritärer Dichter zu bejammern oder den allgemeinen Leserschwund zu beklagen. Aus Sicht der Produzenten trifft ja genau das Gegenteil zu: "Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung." Die Gründe dafür stehen im vorliegenden Band, denn er selbst ist der Beweis seiner Ausgangsthese: dass Dichter und Dichterinnen sämtlicher Länder des Kontinents rastlos reisen, einander begegnen, einander lesen und übersetzen, und zwar mit einer Leichtigkeit der Kommunikation und einer Effizienz des Warenaustauschs, wie sie historisch einmalig sind.
Unpolitisch sind die Dichter deshalb noch lange nicht. Gerade im Zeitalter nationalistischer und separatistischer Strömungen, so die Herausgeber, gebe es keinen besseren Augenblick für ein "Europa der Lyrik", in welchem "der Austausch mit dem und das Lernen vom anderssprachigen, aber nicht grundsätzlich andersartigen Gegenüber der Normalzustand ist und Vielseitigkeit als Gewinn gesehen wird". Besser könnte es auch Steinmeier nicht sagen.
In sieben Reisen mit je sieben Ländern geht's kreuz und quer durch Europa, beginnend mit Polen, dem Land von Milosz, Herbert, Szymborska und Zagajewski. Die Neuen allerdings dürfen nicht älter als fünfzig sein, auch wenn Ausnahmen gemacht wurden. Häufig sind Mix und modernes Nomadentum, die Migration zwischen Sprachen und Kulturen - gebrochene Lebensläufe, wohin man schaut. Ohne nachgezählt zu haben - zu mühsam! -, entsteht der Eindruck: Es könnte mehr Dichterinnen als Dichter geben. Sollte es so sein, wäre es nur der Spiegel der Erkenntnis, dass Frauen mehr lesen als Männer. Fast sechshundert Seiten. Neunundvierzig Länder. Hunderte Lyriker. Man ist baff. Der Dank der Herausgeber geht an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die das Werk in Auftrag gab, sowie an 185 (!) beratende Einzelpersonen, die den Überblick über den jetzigen Stand der europäischen Produktion erst ermöglicht haben.
Einzelne Dichter herauszupicken scheint bei dieser Fülle albern. Dennoch. Da ist das "Lied an den Lärm" der Waliserin Deryn Rees-Jones. Der präzise Landschaftsblick des Luxemburgers Tom Nisse. Der Einbruch alltäglicher Gewalt in die lakonischen Verse von Dstanka Hrastelj aus Slowenien. Das Sprachspiel von Cia Rinne (Finnland), der Buchstabensalat des Niederländers Mustafa Stitou, der unangestrengte Balladenton in dem Gedicht "Die Puppe" der Weißrussin Vera Burlak und ein Poem des Iren David Wheatley mit dem Titel "Die antarktische Schule der Dichtung", in welchem sich die wunderbaren Zeilen finden: "Täglich brechen Gedichte ab und treiben, / grob gesagt, auf Chile zu."
Das Kriterium des "Herausragenden" und "Überdauernden" ist aufgeweicht. Mit diesem Buch wird kein Kanon geschaffen, sondern eine internationale literarische Handwerksmesse veranstaltet. Biographische Informationen sind darin kaum enthalten, man braucht sie auch nicht. Wer will, setzt sich einfach vor den Bildschirm und ruft Youtube-Videos auf. Der Band quillt über vor radikaler Subjektivität, lautem Sprechen und diskretem Sprechen und großer Aufmerksamkeit für die Dinge. Bestimmte Objekte - Handschuhe zum Beispiel - beschäftigen mehrere Dichter. Bestimmte Tiere - Pferde zum Beispiel - sind Thema sehr verschiedener Poeme, darunter das schwermütige "Die Grubenpferde" der Französin Linda Maria Baros oder eine fast mythische Beschwörung wie "Das Pferd unter dem Kamin" der Irin Doireann ní Ghríofa. Die verwandten Themen, die Echos und motivischen Verflechtungen haben den Herausgebern erkennbar Spaß gemacht. Eine andere Erkenntnis: Auch Männer interessieren sich für Küche, Kraut und Garten.
Die deutsche Lyrik ist mit 26 Namen vertreten, für jeden ein Poem. Da gibt's die bekannteren wie Stefen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck und Uljana Wolf, dann das fein rhythmisierte Gedicht "Rattenfänger" von Nora Bossong, das so beginnt: "Zwei Jungen traf ich / unterm Brückenbogen nachts, / die pinkelten den Pfosten an und / sagten, dass sie sieben seien / sagten, dass sie Läuse hätten." Ulrike Almut Sandig, die ihre lautpoetische Arbeit gern mit Musik vorträgt - ihren Videoclip von einem Festival in Mumbai haben schon mehr als 150 000 Benutzer geklickt -, verschmilzt mit Witz Alltagssprechen, Goethe und unsere verschrammten Konventionen der Verschriftlichung. Hier hüpft das Auge endlich einmal die Zeilen entlang, und man merkt, dass moderne Lyrik sonst eher eine Sache des Textes als der Musik ist. Eine Entdeckung: Christian Lehnert mit einem reich assoziierenden titellosen Erinnerungsgedicht, das Volker Braun gewidmet ist.
Der mutmaßlich bekannteste deutsche Lyriker der jüngeren Generation, der Büchner-Preisträger Jan Wagner, konnte sich natürlich nicht selbst in die Anthologie stecken. Dafür tritt er als hochproduktiver Übersetzer auf, sogar "übers Englische aus dem Armenischen", und zwar für Tatev Chakhian, die einzige Vertreterin ihres Landes, die noch einmal die Brechtschen Fragen eines lesenden Arbeiters beantwortet: "Nach einer Revolution, / nach einem gewonnenen Krieg, / nach einem Unabhängigkeitstag, / denkt ein Straßenkehrer, / bedrückt, gebeugt, / niemals an eine Revolution, / an einen Sieg / und erst recht nicht an Unabhängigkeit."
Das mag einfach klingen, aber insgesamt verdienen die übersetzerischen Leistungen dieses Bandes eine tiefe Verbeugung. An lyrischen Zeilen wird lange gefeilt, und die Nachbildung metrischer oder lautmalerischer Qualität, von Sinnentsprechungen mal zu schweigen, dauert Tage und Wochen, weil die Ideen nicht immer dann sprudeln, wenn man sie braucht. Lyrikübersetzer sind selbst Dichter - was man hier besonders schön sieht, weil ein gewichtiger Teil der fremdsprachigen Gedichte von Kollegen übertragen wurde.
Wenn man sich unter jüngeren Lyrikern, zumal aus Kroatien oder Mazedonien, so wenig auskennt wie der Unterzeichner, ist das Buch auf jeder Seite eine Überraschung. Der Krieg auf dem Balkan ist in den Versen bis heute lebendig, weil die Brutalisierung des Lebens bis heute andauert. Manchmal frappiert die Übertragbarkeit der Umstände - Kindheiten gibt es überall, Schmerz auch, Jubel ebenso. Und die so verschiedenen Sprachen: Trennen sie? Verbinden sie? Am Ende tun sie beides. Weisheit wird gewässert von ursprünglicher Ahnungslosigkeit, dem griechischen Staunen, dem Anfang der Philosophie. Das ist unser struppiges, lärmendes, hinreißendes Europa, und vor dieser Doppelbewegung vibriert der ganze Band.
Wir lernen kennen: sechs Dichter(innen) aus Griechenland, fünf aus der Slowakei, acht aus der Ukraine und einen aus Zypern. Sprachen insgesamt (und alle Originale sind rechts neben dem Deutschen zu finden): 47! Darunter nicht nur Baskisch, Katalanisch, Galicisch, Ladinisch, Rätoromanisch oder schottisches Gälisch, sondern auch ein Ding namens Polyglott. An Proporz hat dabei niemand gedacht. Es sollte nur kein Winkel Europas vergessen werden.
Ein Werk wie dieses, will es Wirkung haben, muss ein Hausbuch sein. Der prächtige Hanser-Band, groß und breit und hart und natürlich fadengebunden, ist genau das geworden. Er sagt: Ich bin Papier und halte ewig. Ich nehm euch mit, bin bei euch, wenn's nicht weitergeht.
Jan Wagner, Federico Italiano (Hrsg.): "Grand Tour".
Reisen durch die junge Lyrik Europas.
Carl Hanser Verlag, München 2019. 576 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Wunderwerk der jungen Dichtkunst im kollektiven Zusammenspiel: "Grand Tour" unternimmt sieben Reisen durch die europäische Lyrik.
Von Paul Ingendaay
Alle paar Jahrzehnte kommt eine lyrische Anthologie heraus, die es noch einmal von den Dächern schreit: Leute, lest Gedichte! Den Anfang machte 1961 Hans Magnus Enzensbergers "Museum der modernen Poesie" (Suhrkamp), das den Nachkriegsdeutschen mit dem Brio der Entdeckung eine andere Moderne aufschloss, von Lorca bis Mandelstam. Vom Begriff des "Museums" hat sich Enzensberger später selbst distanziert und den "Atlas" vorgeschlagen. Genau den nahm Joachim Sartorius dann 1995 in den Titel seines herrlichen "Atlas der neuen Poesie" (Rowohlt) und unterteilte ihn in neun "Mappen". Das hatte einen gewissen Geo-Schick, roch nach Abenteuer und Vorläufigkeit. Sartorius' Vorwort ist als Appell, Bekenntnis und Beschwörung noch immer lesenswert.
Vom großen Trotzdem der literarischen Moderne ist bei Sartorius' Nachfolgern wenig geblieben. Der gewichtige Band "Grand Tour - Reisen durch die junge Lyrik Europas" (Hanser) gibt sich fröhlich, unternehmungslustig und vor allem gemeinschaftlich und inklusiv. Europa, darunter verstehen die Herausgeber Jan Wagner und Federico Italiano all jene Länder, "die aus geographischen wie historischen Gründen zu Europa gezählt oder mit Europa gedacht werden können und müssen". Ansonsten weigern sich die beiden Herausgeber, das Los minoritärer Dichter zu bejammern oder den allgemeinen Leserschwund zu beklagen. Aus Sicht der Produzenten trifft ja genau das Gegenteil zu: "Das Europa der Lyrik ist in bester Verfassung." Die Gründe dafür stehen im vorliegenden Band, denn er selbst ist der Beweis seiner Ausgangsthese: dass Dichter und Dichterinnen sämtlicher Länder des Kontinents rastlos reisen, einander begegnen, einander lesen und übersetzen, und zwar mit einer Leichtigkeit der Kommunikation und einer Effizienz des Warenaustauschs, wie sie historisch einmalig sind.
Unpolitisch sind die Dichter deshalb noch lange nicht. Gerade im Zeitalter nationalistischer und separatistischer Strömungen, so die Herausgeber, gebe es keinen besseren Augenblick für ein "Europa der Lyrik", in welchem "der Austausch mit dem und das Lernen vom anderssprachigen, aber nicht grundsätzlich andersartigen Gegenüber der Normalzustand ist und Vielseitigkeit als Gewinn gesehen wird". Besser könnte es auch Steinmeier nicht sagen.
In sieben Reisen mit je sieben Ländern geht's kreuz und quer durch Europa, beginnend mit Polen, dem Land von Milosz, Herbert, Szymborska und Zagajewski. Die Neuen allerdings dürfen nicht älter als fünfzig sein, auch wenn Ausnahmen gemacht wurden. Häufig sind Mix und modernes Nomadentum, die Migration zwischen Sprachen und Kulturen - gebrochene Lebensläufe, wohin man schaut. Ohne nachgezählt zu haben - zu mühsam! -, entsteht der Eindruck: Es könnte mehr Dichterinnen als Dichter geben. Sollte es so sein, wäre es nur der Spiegel der Erkenntnis, dass Frauen mehr lesen als Männer. Fast sechshundert Seiten. Neunundvierzig Länder. Hunderte Lyriker. Man ist baff. Der Dank der Herausgeber geht an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die das Werk in Auftrag gab, sowie an 185 (!) beratende Einzelpersonen, die den Überblick über den jetzigen Stand der europäischen Produktion erst ermöglicht haben.
Einzelne Dichter herauszupicken scheint bei dieser Fülle albern. Dennoch. Da ist das "Lied an den Lärm" der Waliserin Deryn Rees-Jones. Der präzise Landschaftsblick des Luxemburgers Tom Nisse. Der Einbruch alltäglicher Gewalt in die lakonischen Verse von Dstanka Hrastelj aus Slowenien. Das Sprachspiel von Cia Rinne (Finnland), der Buchstabensalat des Niederländers Mustafa Stitou, der unangestrengte Balladenton in dem Gedicht "Die Puppe" der Weißrussin Vera Burlak und ein Poem des Iren David Wheatley mit dem Titel "Die antarktische Schule der Dichtung", in welchem sich die wunderbaren Zeilen finden: "Täglich brechen Gedichte ab und treiben, / grob gesagt, auf Chile zu."
Das Kriterium des "Herausragenden" und "Überdauernden" ist aufgeweicht. Mit diesem Buch wird kein Kanon geschaffen, sondern eine internationale literarische Handwerksmesse veranstaltet. Biographische Informationen sind darin kaum enthalten, man braucht sie auch nicht. Wer will, setzt sich einfach vor den Bildschirm und ruft Youtube-Videos auf. Der Band quillt über vor radikaler Subjektivität, lautem Sprechen und diskretem Sprechen und großer Aufmerksamkeit für die Dinge. Bestimmte Objekte - Handschuhe zum Beispiel - beschäftigen mehrere Dichter. Bestimmte Tiere - Pferde zum Beispiel - sind Thema sehr verschiedener Poeme, darunter das schwermütige "Die Grubenpferde" der Französin Linda Maria Baros oder eine fast mythische Beschwörung wie "Das Pferd unter dem Kamin" der Irin Doireann ní Ghríofa. Die verwandten Themen, die Echos und motivischen Verflechtungen haben den Herausgebern erkennbar Spaß gemacht. Eine andere Erkenntnis: Auch Männer interessieren sich für Küche, Kraut und Garten.
Die deutsche Lyrik ist mit 26 Namen vertreten, für jeden ein Poem. Da gibt's die bekannteren wie Stefen Popp, Marion Poschmann, Monika Rinck und Uljana Wolf, dann das fein rhythmisierte Gedicht "Rattenfänger" von Nora Bossong, das so beginnt: "Zwei Jungen traf ich / unterm Brückenbogen nachts, / die pinkelten den Pfosten an und / sagten, dass sie sieben seien / sagten, dass sie Läuse hätten." Ulrike Almut Sandig, die ihre lautpoetische Arbeit gern mit Musik vorträgt - ihren Videoclip von einem Festival in Mumbai haben schon mehr als 150 000 Benutzer geklickt -, verschmilzt mit Witz Alltagssprechen, Goethe und unsere verschrammten Konventionen der Verschriftlichung. Hier hüpft das Auge endlich einmal die Zeilen entlang, und man merkt, dass moderne Lyrik sonst eher eine Sache des Textes als der Musik ist. Eine Entdeckung: Christian Lehnert mit einem reich assoziierenden titellosen Erinnerungsgedicht, das Volker Braun gewidmet ist.
Der mutmaßlich bekannteste deutsche Lyriker der jüngeren Generation, der Büchner-Preisträger Jan Wagner, konnte sich natürlich nicht selbst in die Anthologie stecken. Dafür tritt er als hochproduktiver Übersetzer auf, sogar "übers Englische aus dem Armenischen", und zwar für Tatev Chakhian, die einzige Vertreterin ihres Landes, die noch einmal die Brechtschen Fragen eines lesenden Arbeiters beantwortet: "Nach einer Revolution, / nach einem gewonnenen Krieg, / nach einem Unabhängigkeitstag, / denkt ein Straßenkehrer, / bedrückt, gebeugt, / niemals an eine Revolution, / an einen Sieg / und erst recht nicht an Unabhängigkeit."
Das mag einfach klingen, aber insgesamt verdienen die übersetzerischen Leistungen dieses Bandes eine tiefe Verbeugung. An lyrischen Zeilen wird lange gefeilt, und die Nachbildung metrischer oder lautmalerischer Qualität, von Sinnentsprechungen mal zu schweigen, dauert Tage und Wochen, weil die Ideen nicht immer dann sprudeln, wenn man sie braucht. Lyrikübersetzer sind selbst Dichter - was man hier besonders schön sieht, weil ein gewichtiger Teil der fremdsprachigen Gedichte von Kollegen übertragen wurde.
Wenn man sich unter jüngeren Lyrikern, zumal aus Kroatien oder Mazedonien, so wenig auskennt wie der Unterzeichner, ist das Buch auf jeder Seite eine Überraschung. Der Krieg auf dem Balkan ist in den Versen bis heute lebendig, weil die Brutalisierung des Lebens bis heute andauert. Manchmal frappiert die Übertragbarkeit der Umstände - Kindheiten gibt es überall, Schmerz auch, Jubel ebenso. Und die so verschiedenen Sprachen: Trennen sie? Verbinden sie? Am Ende tun sie beides. Weisheit wird gewässert von ursprünglicher Ahnungslosigkeit, dem griechischen Staunen, dem Anfang der Philosophie. Das ist unser struppiges, lärmendes, hinreißendes Europa, und vor dieser Doppelbewegung vibriert der ganze Band.
Wir lernen kennen: sechs Dichter(innen) aus Griechenland, fünf aus der Slowakei, acht aus der Ukraine und einen aus Zypern. Sprachen insgesamt (und alle Originale sind rechts neben dem Deutschen zu finden): 47! Darunter nicht nur Baskisch, Katalanisch, Galicisch, Ladinisch, Rätoromanisch oder schottisches Gälisch, sondern auch ein Ding namens Polyglott. An Proporz hat dabei niemand gedacht. Es sollte nur kein Winkel Europas vergessen werden.
Ein Werk wie dieses, will es Wirkung haben, muss ein Hausbuch sein. Der prächtige Hanser-Band, groß und breit und hart und natürlich fadengebunden, ist genau das geworden. Er sagt: Ich bin Papier und halte ewig. Ich nehm euch mit, bin bei euch, wenn's nicht weitergeht.
Jan Wagner, Federico Italiano (Hrsg.): "Grand Tour".
Reisen durch die junge Lyrik Europas.
Carl Hanser Verlag, München 2019. 576 S., geb., 36,- [Euro].
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"Federico Italianos und Jan Wagners 'Grand Tour' ist eine Anthologie, zu der es nichts Vergleichbares gibt: eine immens weitverzweigte, wunderbar abwechslungsreiche Reise durch die zeitgenössische europäische Lyrik." Wolfgang Seibel, ORF Ex Libris, 01.09.19
"Ein unverzichtbares Handbuch zur europäischen Lyrik." Michael Braun, Die Rheinpfalz, 17.05.19
"Bei einem Schatz kann man, vom Funkeln geblendet, nicht alles auf einmal zuordnen und verwerten. Man lasse sich Zeit damit. In diesem Sinn ist dieses Buch bestimmt ein Schatzhaus." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 30.06.19
"Ein unverzichtbares Handbuch zur europäischen Lyrik." Michael Braun, Die Rheinpfalz, 17.05.19
"Bei einem Schatz kann man, vom Funkeln geblendet, nicht alles auf einmal zuordnen und verwerten. Man lasse sich Zeit damit. In diesem Sinn ist dieses Buch bestimmt ein Schatzhaus." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 30.06.19