Eine ARTE-Dokumentation schickt Gérard Depardieu auf den Spuren des Schriftstellers Alexandre Dumas in den Kaukasus. Der Schauspieler hat neben dem Grafen von Monte Christo auch dessen Schöpfer Dumas selbst verkörpert. Und weil Dumas vor 150 Jahren von einem Maler begleitet wurde, reist Depardieu zusammen mit einem Comiczeichner, der dann gleich ein ganzes Buch über den Mimen macht und über fünf Jahre hinweg immer wieder in sein Universum eintaucht.Gérard Depardieu polarisiert, seine Begeisterung für Wladimir Putin, die Annahme der russischen Staatsangehörigkeit oder seine Steuerflucht nach Belgien machten weit über Frankreich hinaus Schlagzeilen. Mathieu Sapin zeichnet ein vielschichtiges, fesselndes und humorvolles Bild des Weltstars. Man muss Gérard Depardieu nicht mögen, um sich von dieser Reportage in den Bann ziehen zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2018Kein Buffet bleibt ungeplündert
"Zeichne mich, wie ich bin": Mathieu Sapins kluge Comicreportage über den Schauspielstar Gérard Depardieu
Mein Lehrer im Erasmus-Französischkurs liebte es, seine landeskundlichen Schwärmereien in einer metonymischen Verkürzung gipfeln zu lassen: "Paris, c'est la France" oder: "De Gaulle, c'est la France". Er hätte auch sagen können: "Depardieu, c'est la France", denn von den Weltstars, die das französische Kino immer hervorgebracht hat, ist Gérard Depardieu nach circa 240 Filmen ohne Zweifel einer der größten. Das, was die Welt unter "französisch" versteht, verkörpert dieser Mann so perfekt, als müsste er die Globalisierung im Alleingang aufhalten: Er liebt gutes Essen, und man sieht es ihm auch an, er besitzt Weingüter und versteht etwas von der Winzerei, er fährt Motorroller und hält sich dabei nicht an die Verkehrsregeln, er war in seiner Jugend kleinkriminell, er hält Amerika für steril, sammelt Kunst und liebt Frauen. Paradoxerweise ist Frankreich Depardieu inzwischen zu eng, er verkörpert es lieber auf rastlosen Reisen durch die Welt und hat infolge einer Steueraffäre sogar das Angebot Putins angenommen, russischer Staatsbürger zu werden.
2014 hatte Arte die Idee, Depardieu für einen Dokumentarfilm auf den Spuren von Alexandre Dumas durch den Kaukasus reisen zu lassen. Dumas, der von ganz ähnlicher Statur wie der 140-Kilogramm-Mann Depardieu war, hatte die Region 1858 besucht und ein Buch darüber geschrieben. Weil Dumas dabei von einem Maler begleitet worden war, hatte Arte Depardieu auch einen Künstler zur Seite gestellt: den neben ihm zwergenhaft wirkenden Comicautor Mathieu Sapin. Damit hatte man ein klassisches Komödienpaar gecastet. Depardieu, der wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker in einem ist, spielt sich selbst in seinem unstillbaren Appetit auf Intensität, Echtheit und "Leben". Sapin dagegen gab sich in seinen dokumentarischen Comics als schüchternen Zeitgenossen. Zurück in Paris musste er einige Tage auf dem Sofa verbringen, mit Waschlappen auf der Stirn, Wärmflasche auf dem Bauch und sechs Kilo Übergewicht, aber er hatte ein neues Sujet gefunden.
Sapin, der seinen Zivildienst im Musée de la Bande Dessinée in Angoulême abgeleistet hat (so etwas geht in Frankreich!), ist mit einigen der großartigsten französischen Comicautoren seiner Generation befreundet: mit Christophe Blain, Lewis Trondheim, Riad Sattouf, und mit Joann Sfar teilt er sich sogar ein Atelier. (In der Comic-Community geht es freundschaftlicher zu als im neidvergifteten Literaturbetrieb, man liest sogar gegenseitig seine Bücher.) Er hatte sich für den Arte-Auftrag mit mehreren Reportagecomics qualifiziert, in denen er als interessierter Nerd in für ihn exotische Milieus eingetaucht ist und sie radikal subjektiv und mit Sinn für Humor beschrieben hat. Nach drei Bänden über Dreharbeiten und Rezeption von Joann Sfars Gainsbourg-Spielfilm hat er ein halbes Jahr im Redaktionsgebäude der Tageszeitung "Libération" verbracht und ein Comic-Tagebuch darüber veröffentlicht, das sich wie ein Abgesang auf die heroische Epoche des Printjournalismus liest. Er hat die Wahlkampagne von François Hollande dokumentiert und durfte danach mehr als ein Jahr im Elysée-Palast aus und ein gehen, um auch darüber einen Comic zu veröffentlichen.
Anders als in der Literatur gilt im Comic die autobiographische Methode nicht als minderwertig, im Gegenteil. Und ganz gegen die Regeln des Journalismus ist Sapin mit seiner eigenen Perspektive immer anwesend, er ist ja als Comicfigur Teil des Geschehens und kann zum Beispiel Äußerungen anderer in Denkblasen kommentieren. (Man darf nicht vergessen, dass auch alle anderen realen Personen bei ihm Comicfiguren sind, also künstlerische Interpretationen der Realität.) Comicautoren blasen sich nicht auf, sie machen sich eher klein, das macht sie so sympathisch. Dadurch, dass Sapin die eigene Unfähigkeit, Ahnungslosigkeit oder Überforderung in tendenziell oft wichtigtuerischen Milieus (Film, Journalismus, Politik) ständig thematisiert, erleichtert er dem Leser die Identifikation, sperrige Themen erscheinen plötzlich interessant.
Mit jedem Buch hat Sapin seiner Methode mehr vertraut und seinen Strich verfeinert. Inzwischen dokumentiert er während der Recherchen heimlich oder offen mit der Kamera und fertigt ständig Skizzen an (am Ende von "Gérard" sind einige Seiten aus den Notizbüchern abgedruckt, die zeigen, wie weit der Weg von der Skizze zur Stilisierung der Figuren im Comic noch ist). Sapins Perspektive und seine Idiosynkrasien fördern Material zutage, das man in journalistischen Reportagen vermisst, etwa wenn er im Elysée-Palast vom Koch erfährt, dass das Lieblingsessen des Präsidenten nicht bekanntgegeben wird, sonst würde er auf Staatsbesuchen immer dasselbe serviert bekommen. Oder wenn er feststellt, dass man wie ein Kriegsreporter rüberkommt, wenn man den Rucksack nur über einer Schulter trägt.
Nach zwei Reportagebänden über den französischen Präsidenten konnte eigentlich nur noch Depardieu kommen. Das Cover von "Gérard" zeigt die beiden im Beisitzer-Motorrad durch eine Bohrturm-Landschaft bei Baku fahren. Das soll, laut Sapin, an das Tim-und-Struppi-Cover von "Im Reiche des schwarzen Goldes" erinnern. Schließlich nannte Depardieu Sapin am Anfang noch "Tintin", weil er sich das besser merken konnte. Fünf Jahre lang hat der Zeichner den Schauspieler auf Reisen begleitet und dabei ständig Skizzen angefertigt, selbst in der Sauna eines russischen Geschäftsmanns und Depardieu-Verehrers, wo beide mit Birkenzweigen gepeitscht werden.
Zunächst bringt Sapin dem Star eine Mischung aus Neugier und ideologischen Bedenken entgegen, schließlich ist Depardieu durch eine eher zweifelhafte politische Sturheit aufgefallen. Seine Freundschaft zu Putin lässt er sich nicht ausreden. Schneller als gedacht aber findet Sapin sich mit der Kinolegende unter der Gemeinschaftsdusche eines Hotels in Baku wieder (dessen Handtücher Depardieu, wie der ihm anvertraut, gerne klaut). Der charismatische Schwadroneur, der ständig zwischen dem nachdenklichen, cholerischen, philosophischen und schweinischen Register wechselt, wird Sapin sympathischer, auch weil Depardieu alles andere als eitel ist. Er ist ein vielbeschäftigter Schauspieler, dessen Haus in Paris eine Ansammlung von scheußlichen Kunstobjekten enthält, die einem afrikanischen Despoten aus den siebziger Jahren zur Ehre gereicht hätten. Dort sitzt Depardieu am liebsten mit freiem Oberkörper und in Boxershorts am Marmortisch und telefoniert. (Allerdings nicht mehr, wie er erzählt, täglich eine Stunde mit seinem Analytiker, denn der sei nach dreißig Jahren Therapie gestorben.)
Man ahnt sofort, dass hier ein Mensch eigentlich sehr einsam ist, obwohl er ständig von Leuten umgeben und auf Reisen ist und vor allem im postsowjetischen Raum überall erkannt und zu Selfies überredet wird. So, wie Depardieu sich als Schauspieler sieht, nämlich gar nicht schauspielernd, frei von Lüge und sich restlos ausliefernd, gibt er sich auch dem Spiel mit seinem Dokumentaristen hin, indem er sein Verhalten kein bisschen retuschiert. Er rülpst, kratzt sich am Hintern, grummelt ununterbrochen und will genau so auch dargestellt werden. Depardieu kommt von der Straße, er behauptet, drei seiner Geschwister selbst zur Welt gebracht zu haben, inklusive Erstversorgung der Mutter bei einer Gebärmutterabsenkung. Er war Strichjunge, Krimineller ("Schlägereien waren mein Ding. Ich mochte das Gefühl, was einzustecken und dann selbst auszuteilen"), saß oft im Gefängnis und säße dort vielleicht noch immer, wenn er nicht irgendwie zum Theater und zum Film gekommen wäre, um eine endlose Reihe von Hauptrollen zu spielen, für die nur er das Format hatte: Danton, Olmo Dalcò, Jean de Florette, Rodin, Cyrano de Bergerac, Uranus, Columbus, Porthos, Obelix.
Weil er sich inzwischen so oft geschäftlich in Russland aufhält, ist das Buch auch eine Milieustudie des eigenartig barocken Lebensstils der dortigen Neureichen. Depardieu wird von Geschäftsleuten, Galeristen, Filmbossen hofiert und eingeladen, und er lässt kaum ein Buffet ungeplündert stehen. Was erst einmal abschreckend klingt, erweist sich als komische, berührende, intelligente Studie einer Künstlerexistenz von globaler Ausstrahlung, als das Porträt eines Mannes, der sich längst nicht so leicht vereinnahmen lässt, wie es den Anschein haben könnte, und der wie ein Löwe darum kämpft, authentisch zu bleiben. Bei Filmaufnahmen zu "Le Divan de Staline" unter der Regie von Fanny Ardant bricht es, als er zu lange in einer kalten Badewanne sitzen muss, durchaus selbstkritisch aus ihm heraus: "Le cinéma, c'est un métier qui rend con, je te le dis!!" Auf Deutsch etwas weniger prägnant: "Bei dieser Arbeit verblödest du total, ich sag's dir!"
JOCHEN SCHMIDT
Mathieu Sapin: "Gérard". Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu.
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Reprodukt Verlag, Berlin 2018. 160 S., geb., 24,- [Euro].
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"Zeichne mich, wie ich bin": Mathieu Sapins kluge Comicreportage über den Schauspielstar Gérard Depardieu
Mein Lehrer im Erasmus-Französischkurs liebte es, seine landeskundlichen Schwärmereien in einer metonymischen Verkürzung gipfeln zu lassen: "Paris, c'est la France" oder: "De Gaulle, c'est la France". Er hätte auch sagen können: "Depardieu, c'est la France", denn von den Weltstars, die das französische Kino immer hervorgebracht hat, ist Gérard Depardieu nach circa 240 Filmen ohne Zweifel einer der größten. Das, was die Welt unter "französisch" versteht, verkörpert dieser Mann so perfekt, als müsste er die Globalisierung im Alleingang aufhalten: Er liebt gutes Essen, und man sieht es ihm auch an, er besitzt Weingüter und versteht etwas von der Winzerei, er fährt Motorroller und hält sich dabei nicht an die Verkehrsregeln, er war in seiner Jugend kleinkriminell, er hält Amerika für steril, sammelt Kunst und liebt Frauen. Paradoxerweise ist Frankreich Depardieu inzwischen zu eng, er verkörpert es lieber auf rastlosen Reisen durch die Welt und hat infolge einer Steueraffäre sogar das Angebot Putins angenommen, russischer Staatsbürger zu werden.
2014 hatte Arte die Idee, Depardieu für einen Dokumentarfilm auf den Spuren von Alexandre Dumas durch den Kaukasus reisen zu lassen. Dumas, der von ganz ähnlicher Statur wie der 140-Kilogramm-Mann Depardieu war, hatte die Region 1858 besucht und ein Buch darüber geschrieben. Weil Dumas dabei von einem Maler begleitet worden war, hatte Arte Depardieu auch einen Künstler zur Seite gestellt: den neben ihm zwergenhaft wirkenden Comicautor Mathieu Sapin. Damit hatte man ein klassisches Komödienpaar gecastet. Depardieu, der wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker in einem ist, spielt sich selbst in seinem unstillbaren Appetit auf Intensität, Echtheit und "Leben". Sapin dagegen gab sich in seinen dokumentarischen Comics als schüchternen Zeitgenossen. Zurück in Paris musste er einige Tage auf dem Sofa verbringen, mit Waschlappen auf der Stirn, Wärmflasche auf dem Bauch und sechs Kilo Übergewicht, aber er hatte ein neues Sujet gefunden.
Sapin, der seinen Zivildienst im Musée de la Bande Dessinée in Angoulême abgeleistet hat (so etwas geht in Frankreich!), ist mit einigen der großartigsten französischen Comicautoren seiner Generation befreundet: mit Christophe Blain, Lewis Trondheim, Riad Sattouf, und mit Joann Sfar teilt er sich sogar ein Atelier. (In der Comic-Community geht es freundschaftlicher zu als im neidvergifteten Literaturbetrieb, man liest sogar gegenseitig seine Bücher.) Er hatte sich für den Arte-Auftrag mit mehreren Reportagecomics qualifiziert, in denen er als interessierter Nerd in für ihn exotische Milieus eingetaucht ist und sie radikal subjektiv und mit Sinn für Humor beschrieben hat. Nach drei Bänden über Dreharbeiten und Rezeption von Joann Sfars Gainsbourg-Spielfilm hat er ein halbes Jahr im Redaktionsgebäude der Tageszeitung "Libération" verbracht und ein Comic-Tagebuch darüber veröffentlicht, das sich wie ein Abgesang auf die heroische Epoche des Printjournalismus liest. Er hat die Wahlkampagne von François Hollande dokumentiert und durfte danach mehr als ein Jahr im Elysée-Palast aus und ein gehen, um auch darüber einen Comic zu veröffentlichen.
Anders als in der Literatur gilt im Comic die autobiographische Methode nicht als minderwertig, im Gegenteil. Und ganz gegen die Regeln des Journalismus ist Sapin mit seiner eigenen Perspektive immer anwesend, er ist ja als Comicfigur Teil des Geschehens und kann zum Beispiel Äußerungen anderer in Denkblasen kommentieren. (Man darf nicht vergessen, dass auch alle anderen realen Personen bei ihm Comicfiguren sind, also künstlerische Interpretationen der Realität.) Comicautoren blasen sich nicht auf, sie machen sich eher klein, das macht sie so sympathisch. Dadurch, dass Sapin die eigene Unfähigkeit, Ahnungslosigkeit oder Überforderung in tendenziell oft wichtigtuerischen Milieus (Film, Journalismus, Politik) ständig thematisiert, erleichtert er dem Leser die Identifikation, sperrige Themen erscheinen plötzlich interessant.
Mit jedem Buch hat Sapin seiner Methode mehr vertraut und seinen Strich verfeinert. Inzwischen dokumentiert er während der Recherchen heimlich oder offen mit der Kamera und fertigt ständig Skizzen an (am Ende von "Gérard" sind einige Seiten aus den Notizbüchern abgedruckt, die zeigen, wie weit der Weg von der Skizze zur Stilisierung der Figuren im Comic noch ist). Sapins Perspektive und seine Idiosynkrasien fördern Material zutage, das man in journalistischen Reportagen vermisst, etwa wenn er im Elysée-Palast vom Koch erfährt, dass das Lieblingsessen des Präsidenten nicht bekanntgegeben wird, sonst würde er auf Staatsbesuchen immer dasselbe serviert bekommen. Oder wenn er feststellt, dass man wie ein Kriegsreporter rüberkommt, wenn man den Rucksack nur über einer Schulter trägt.
Nach zwei Reportagebänden über den französischen Präsidenten konnte eigentlich nur noch Depardieu kommen. Das Cover von "Gérard" zeigt die beiden im Beisitzer-Motorrad durch eine Bohrturm-Landschaft bei Baku fahren. Das soll, laut Sapin, an das Tim-und-Struppi-Cover von "Im Reiche des schwarzen Goldes" erinnern. Schließlich nannte Depardieu Sapin am Anfang noch "Tintin", weil er sich das besser merken konnte. Fünf Jahre lang hat der Zeichner den Schauspieler auf Reisen begleitet und dabei ständig Skizzen angefertigt, selbst in der Sauna eines russischen Geschäftsmanns und Depardieu-Verehrers, wo beide mit Birkenzweigen gepeitscht werden.
Zunächst bringt Sapin dem Star eine Mischung aus Neugier und ideologischen Bedenken entgegen, schließlich ist Depardieu durch eine eher zweifelhafte politische Sturheit aufgefallen. Seine Freundschaft zu Putin lässt er sich nicht ausreden. Schneller als gedacht aber findet Sapin sich mit der Kinolegende unter der Gemeinschaftsdusche eines Hotels in Baku wieder (dessen Handtücher Depardieu, wie der ihm anvertraut, gerne klaut). Der charismatische Schwadroneur, der ständig zwischen dem nachdenklichen, cholerischen, philosophischen und schweinischen Register wechselt, wird Sapin sympathischer, auch weil Depardieu alles andere als eitel ist. Er ist ein vielbeschäftigter Schauspieler, dessen Haus in Paris eine Ansammlung von scheußlichen Kunstobjekten enthält, die einem afrikanischen Despoten aus den siebziger Jahren zur Ehre gereicht hätten. Dort sitzt Depardieu am liebsten mit freiem Oberkörper und in Boxershorts am Marmortisch und telefoniert. (Allerdings nicht mehr, wie er erzählt, täglich eine Stunde mit seinem Analytiker, denn der sei nach dreißig Jahren Therapie gestorben.)
Man ahnt sofort, dass hier ein Mensch eigentlich sehr einsam ist, obwohl er ständig von Leuten umgeben und auf Reisen ist und vor allem im postsowjetischen Raum überall erkannt und zu Selfies überredet wird. So, wie Depardieu sich als Schauspieler sieht, nämlich gar nicht schauspielernd, frei von Lüge und sich restlos ausliefernd, gibt er sich auch dem Spiel mit seinem Dokumentaristen hin, indem er sein Verhalten kein bisschen retuschiert. Er rülpst, kratzt sich am Hintern, grummelt ununterbrochen und will genau so auch dargestellt werden. Depardieu kommt von der Straße, er behauptet, drei seiner Geschwister selbst zur Welt gebracht zu haben, inklusive Erstversorgung der Mutter bei einer Gebärmutterabsenkung. Er war Strichjunge, Krimineller ("Schlägereien waren mein Ding. Ich mochte das Gefühl, was einzustecken und dann selbst auszuteilen"), saß oft im Gefängnis und säße dort vielleicht noch immer, wenn er nicht irgendwie zum Theater und zum Film gekommen wäre, um eine endlose Reihe von Hauptrollen zu spielen, für die nur er das Format hatte: Danton, Olmo Dalcò, Jean de Florette, Rodin, Cyrano de Bergerac, Uranus, Columbus, Porthos, Obelix.
Weil er sich inzwischen so oft geschäftlich in Russland aufhält, ist das Buch auch eine Milieustudie des eigenartig barocken Lebensstils der dortigen Neureichen. Depardieu wird von Geschäftsleuten, Galeristen, Filmbossen hofiert und eingeladen, und er lässt kaum ein Buffet ungeplündert stehen. Was erst einmal abschreckend klingt, erweist sich als komische, berührende, intelligente Studie einer Künstlerexistenz von globaler Ausstrahlung, als das Porträt eines Mannes, der sich längst nicht so leicht vereinnahmen lässt, wie es den Anschein haben könnte, und der wie ein Löwe darum kämpft, authentisch zu bleiben. Bei Filmaufnahmen zu "Le Divan de Staline" unter der Regie von Fanny Ardant bricht es, als er zu lange in einer kalten Badewanne sitzen muss, durchaus selbstkritisch aus ihm heraus: "Le cinéma, c'est un métier qui rend con, je te le dis!!" Auf Deutsch etwas weniger prägnant: "Bei dieser Arbeit verblödest du total, ich sag's dir!"
JOCHEN SCHMIDT
Mathieu Sapin: "Gérard". Fünf Jahre am Rockzipfel von Depardieu.
Aus dem Französischen von Silv Bannenberg. Reprodukt Verlag, Berlin 2018. 160 S., geb., 24,- [Euro].
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