"Er ist Amerika", sagte Ezra Pound über den Dichter Walt Whitman. In seinen "Grasblättern" besingt er den Aufbruch der USA nach dem Bürgerkrieg. Der Lyriker Jürgen Brocan hat dieses zentrale Werk der amerikanischen Literatur mehr als ein Jahrhundert nach Erscheinen erstmals vollständig auf Deutsch übersetzt und mit einem Nachwort und einem ausführlichen Kommentar versehen. Im Schmelztiegel seiner Dichtung vereint Whitman Ideen aus Kultur, Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und Mystik seiner Zeit. Seine Gesänge sind Abbild und Vision einer modernen Nation der "Vereinigten Staaten", die Spaltungen überwinden und allen Menschen Freiheit und Gleichheit bringen soll.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2009Als die Sprache demokratisch wurde
Neue, schlanke, ekstatische Verse aus der Jugend Amerikas: Walt Whitmans "Leaves of Grass - Grasblätter" sind zum ersten Mal in einer vollständigen deutschen Übersetzung erschienen
One's-Self I sing, a simple separate person, / Yet utter the word Democratic" - "Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson, / Doch spreche das Wort demokratisch". So beginnen, mit der ersten der "Zueignungen" (Inscriptions), die viel gerühmten "Leaves of Grass" von Walt Whitman, diesem ersten großen Dichter Amerikas, der ein politischer Dichter war und ein Naturdichter, ein Dichter des Körpers und der Seele, ein Dichter, der nichts, was ihm begegnete, unbesungen ließ, und der auch besang, was erst noch kommen sollte: die Zukunft. Vor allem jedoch, und das zeigen bereits diese ersten anderthalb Verse, war er ein Dichter, der das Individuum und seine Autonomie feierte, sich die Entfaltung des Einzelnen aber nur in Gesellschaft und unter Wahrung der Rechte aller anderen vorstellen konnte - in der Demokratie.
Die Vereinbarung von Individualismus und demokratischer Herrschaftsform, das ist Whitmans "große Idee", und in Amerika sieht er sie am weitesten verwirklicht. Die Demokratie aber ist nur so gut, gerecht und stark, wie es die sie bildenden "schlichten Einzelpersonen" sind, die common men, die sie ausmachen und von denen auch er, der Dichter, einer ist. 1819 kam er als Sohn eines Zimmermanns in einem Bauernhaus zur Welt, zog mit seiner Familie nach Brooklyn, ging sechs Jahre zur Schule, arbeitete als Setzer und Journalist, war auf Versammlungen und hörte die berühmtesten Prediger seiner Zeit. Von klein auf also lebte er inmitten von common men - und war umgeben von Lettern und aus ihnen gesetzten Sätzen. Und er begriff, welche Macht das Wort entfalten konnte, das alltäglich gesprochene, das in Reden kunstvoll gesetzte, das gedruckte.
Die Macht der Worte
Und das Wunderbare geschah: Whitman, der die Dichter studiert hatte, die Hoch- und die Alltagssprache, der sich ein "Primer of Words", ein Wörterelementarbuch, angelegt hatte, in dem er Slangausdrücke, Wörter aus der "Negersprache", Fachtermini und Namen sammelte und sich etymologisch Bemerkenswertes notierte, dieser Walt Whitman brachte 1855, auf eigene Kosten, teilweise sogar selbst gesetzt, anonym und ohne Titel, eine Sammlung von zwölf Gedichten heraus, in denen er die Vorzüge des gedruckten und des gesprochenen Wortes, ihrer beider Wirkmächtigkeit verband - die "Leaves of Grass", die zur Gründungsurkunde der amerikanischen Dichtung wurden.
Denn Amerika ist noch nicht da, es wird in dieser, aus dieser Sprache geschaffen, erwächst aus den neuen schlanken ekstatischen Versen mit ihrem enthusiastischen Überschuss. Alles, was seine körperliche und spirituelle Gegenwart und die seines Landes, ja, im Grunde der Welt und der Menschheit ausmacht, nimmt Whitman in seine Verse auf. Kein Gegenstand und keine Tätigkeit, kein Trieb und kein Gefühl sind ihm zu gering - alles verwandelt er in Sprache. Denn er ist überzeugt, dass, wenn jeder common man seine Stimme, seine ursprüngliche Stimme frei und beherzt erklingen lässt, und dazu die Geräusche seines Tuns als Begleitung, eine wohlklingende Hymne entsteht. Und solange die anderen noch nicht singen, tut er es für sie. So werden die "Leaves of Grass" zum "Idiomatischen Buch" seines Landes, zum dichterischen Universal-Lexikon, zur "Neuen Bibel" - in der alles seinen Platz hat und besungen, singend bejaht wird, weil es ist.
Dass ein solcher Anspruch und die erforderliche Freiheit im Denken Freiheiten in der Form nach sich ziehen muss, ist klar. In Vorworten und Einleitungen verteidigt Whitman seine Revolte gegen die metrischen Konventionen und sein Prinzip des "organischen Wachstums": der Dichter müsse "die freie Bahn seiner selbst" sein, um das moderne Leben, das sich vor seinen Augen entfaltet, in seine Dichtung aufnehmen zu können.
Whitman war zwar nicht der Erste, der mit freien, prosanahen Langversen experimentierte, aber mit seinen berühmten kataloghaften Aufzählungen, in denen alles, was einem Menschen, nämlich ihm, dem Dichter, im Laufe seines Lebens begegnet, gleichberechtigt nebeneinandersteht, sprengte er die formalen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik. Der Opernenthusiast schuf dabei einen dem Alternieren von Rezitativ und Arie ähnlichen Wechsel aus lyrisch-rhythmischen und episch-deskriptiven Passagen, die er zu Clustern zusammenfasste, dem Lyrischen das Ideale, den prosanahen Rezitativen dagegen das Reale vorbehaltend.
Und das Reale war schon bald der Krieg. Denn dieses Amerika, dessen Einigkeit Whitman besang, war zutiefst zerstritten. Und obgleich der Dichter den Bürgerkrieg bejahte und die erkämpfte Einigung der Union durch Abraham Lincoln als zweiten Gründungsakt der Nation begriff, war er von dem blutigen Gemetzel verstört. Einen Großteil der Kriegsjahre verbrachte er zwischen Verwundeten und Sterbenden in den Krankenhäusern von Washington. In dieser Zeit entstanden die "Drum-Taps", die "Trommelschläge", eine Sammlung von Gedichten, in denen Whitman nicht die konkreten historischen Ereignisse schilderte, sondern allgemeine Szenen aus dem Soldatenleben. Erstaunlicherweise erlag er dabei weder dem Pessimismus und der Zukunftsangst der ihn später so verehrenden, kriegstraumatisierten deutschen Expressionisten, noch verfiel er, wie diese, einem leereumwehten Pathos - und auch seinen Glauben verlor er nicht, weder den an Gott noch den an die Vereinigten Staaten. Dennoch sind seit den "Drum-Taps" die dunklen Töne nicht zu überhören. Ein Schatten liegt auf der Utopie. Fast vierzig Jahre hat Whitman die "Leaves of Grass" immer wieder umgebaut, erweitert, gekürzt, gestrafft, ergänzt - und die Enttäuschung über die politische Entwicklung, die Verzweiflung über die Ermordung Lincolns (sie spricht aus dem berühmten "O Captain! My Captain" aus den "Memories of President Lincoln") und auch das Alter hinterließen ihre Spuren. So hatte die Dichtung in ihrer letzten Fassung, der sogenannten Totenbett-Ausgabe von 1891/92, jenen "afflatus", wie Whitman selbst bemerkte, jene inspirierte Leichtigkeit, die die Erstausgabe beseelt hatte, verloren, war dafür aber zu dem vielstimmigen, fast vierhundert Gedichte umfassenden Fundament der amerikanischen Literatur geworden, dessen Wirkung auf das Werk von Gertrude Stein bis Allen Ginsberg kaum zu ermessen ist.
Diese letzte Ausgabe liegt auch der ersten deutschen Gesamtübertragung von Jürgen Brôcan zu Grunde. Sie trägt, im Unterschied zu den bisherigen Teilübersetzungen, den Titel "Grasblätter", was keineswegs eine Spielerei ist, denn auch der englische Titel ist eine ungewöhnliche Wortkombination. "Welch einen Kampf hatte ich wegen des Namens. Wer kannte denn ein Grasblatt? Es gab Grashalme - aber Blätter? Oh! nein!", beschwerte sich der Dichter. "Grass" war im damaligen Druckerslang eine experimentell gesetzte Seite, was Whitman, der Setzer, natürlich wusste; "leaves" waren ein Packen Papier. Whitmans Gedichte mit den bis über drei Zeilen gehenden Langversen sind nun beides: ungewöhnlich im Schriftbild und ein dicker Packen Papier. Und bei Justus von Liebig hatte er gelernt, dass "Blatt" die wissenschaftlich korrekte Bezeichnung für alle grünen Pflanzenteile, also auch des Grases sei. Von solchen Schlaumeiereien war Whitman immer begeistert.
Die Neuübertragung erlaubt nun zum ersten Mal, sämtliche Gedichte auf Deutsch in ihrem Kontext zu lesen - und versucht zu vermeiden, was "die meisten früheren Übersetzungen gemeinsam haben", "die Monotonie eines unangemessen pathetischen Stils", so Brôcan nüchtern im Nachwort. Leider ist die Kehrseite dieser Vermeidungsstrategie ein häufig allzu trockener Ton, in dem Elemente einer dichterischen Hochsprache, von der auch Brôcan sich nicht ganz freimachen kann, einsame Inseln bilden - im dreizehnten Gedicht des "Song of Myself", in dem der schöne Körper eines Schwarzen besungen wird, "I behold the picturesque giant and love him, and I do not stop there, / I go with the team also", gibt er das lapidare "I do not stop there" mit "aber ich verweile dort nicht" wieder. Auch ein paar Fehler unterlaufen mitunter, etwa wenn es in "O Stern Frankreichs" heißt "Deine beispiellosen Wehen und Qualen" - womit keineswegs Entbindungsschmerzen gemeint sind, vielmehr handelt es sich um eine verunglückte Pluralbildung zu "Weh".
Dass sich die lockeren englischen Satzkonstruktionen im Deutschen nur bedingt nachbilden lassen und meistens konkreter und schwerfälliger ausfallen, ist ein bekanntes Problem - und hat schon so manchen Übersetzer verzweifeln lassen (man denke nur an die "-ing"-versessene Gertrude Stein). Aber auch sonst gibt es Ungereimtheiten und Umständliches: werden englische Komposita ins Deutsche übernommen; taucht bei Imperativen ein dem knappen Englisch unangemessenes Schluss-E auf ("bleibe" statt "bleib"); ist die Entscheidung Brôcans, die beim sprachdemokratischen Whitman eingestreuten spanischen und französischen Wörter im Deutschen ausgerechnet mit englischen Ausdrücken wiederzugeben, nicht schlüssig. Und auch wenn man die Entscheidung des Verlages, dem diese editorische Großtat hoch anzurechnen ist, dem Unternehmen Grenzen zu setzen, nachvollziehen kann, sind diese doch allzu eng gezogen.
Der Setzer der Sätze
Beim Lesen und Blättern in dem schönen Band wird man den Eindruck nicht los, dass es zwar die erste vollständige Übersetzung werden sollte, der Sparfuchs aber immer dabei war. Die einbändige amerikanische Ausgabe von Michael Moon, auf Grundlage der kritischen Edition von Sculley Bradley und Harold W. Blodgett erarbeitet, bietet so viel mehr! Einen ausführlichen Kommentar vor allem (am Fußende der Seite, was das Blättern erspart), an dem sich Brôcan zwar orientiert, der aber stark gekürzt wurde, obgleich ein deutscher Leser eher mehr erklärenden Beistand brauchte. Poetologisches und Angaben zu Übersetzerentscheidungen fehlen fast ganz.
Und dann druckt die amerikanische Ausgabe die erste Fassung der "Leaves of Grass" vollständig ab, was auf einen Blick mehr zum Verständnis der Werkgenese beiträgt als etliche Seiten Nachwort. Das Vorwort zur Erstausgabe sucht man leider auch vergeblich, dabei könnte es Ähnliches leisten. Gerade weil es später zu Teilen in die Dichtung eingeflossen ist (vor allem in "By Blue Ontario's Shore"), erlaubte es den Vergleich von einführender, die Dichtung erklärender, jedoch sich selbst nicht als Dichtung verstehender Prosa und darauf folgender, die explizite Poetologie in implizite verwandelnder Lyrik und würde die Unterschiede zwischen beiden Schreibweisen, die Whitman stets betont hat, aufzeigen.
Komfortabel wären auch ein paar Extras gewesen: eine Übersicht der bisherigen Übersetzungen ins Deutsche, eine Auswahlbibliographie, eine Vita mit den wichtigsten biographischen Angaben, Kolumnentitel; ein alphabetisches Verzeichnis der Überschriften und Anfangsverse (mit den Originaltiteln) sowie eine Verszählung - gehört das nicht inzwischen auch bei Leseausgaben zu den editorischen Standards?
Ganz glücklich werden kann man also, trotz der alles in allem beeindruckend schönen Leistung von Übersetzer und Verlag, mit der Ausgabe nicht. Dennoch soll jetzt gefeiert werden, und zwar mit einer einladenden Verkündigung, die sich, wer weiß, schon erfüllt hat? "Ich verkünde das Kommen von Mann oder Frau, vielleicht bist du es, (Bis bald)". "So long!", "Bis bald!" - das ist der Gruß der Tagediebe und Landstreicher, derjenigen, die nicht wissen, wann sie sich wiedersehen und wo, im Diesseits oder im Jenseits. Aber sicher bist du es, lieber Leser, Mann oder Frau, also schlag es auf, das Buch und lies Whitman, diesen großen, ungezähmten, ekstatisch liebenden, beglückenden Dichter.
BETTINA HARTZ
Walt Whitman: "Grasblätter". Nach der Ausgabe von 1891-92 erstmals vollständig übertragen und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Hanser, 880 Seiten mit Abbildungen, 39,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neue, schlanke, ekstatische Verse aus der Jugend Amerikas: Walt Whitmans "Leaves of Grass - Grasblätter" sind zum ersten Mal in einer vollständigen deutschen Übersetzung erschienen
One's-Self I sing, a simple separate person, / Yet utter the word Democratic" - "Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson, / Doch spreche das Wort demokratisch". So beginnen, mit der ersten der "Zueignungen" (Inscriptions), die viel gerühmten "Leaves of Grass" von Walt Whitman, diesem ersten großen Dichter Amerikas, der ein politischer Dichter war und ein Naturdichter, ein Dichter des Körpers und der Seele, ein Dichter, der nichts, was ihm begegnete, unbesungen ließ, und der auch besang, was erst noch kommen sollte: die Zukunft. Vor allem jedoch, und das zeigen bereits diese ersten anderthalb Verse, war er ein Dichter, der das Individuum und seine Autonomie feierte, sich die Entfaltung des Einzelnen aber nur in Gesellschaft und unter Wahrung der Rechte aller anderen vorstellen konnte - in der Demokratie.
Die Vereinbarung von Individualismus und demokratischer Herrschaftsform, das ist Whitmans "große Idee", und in Amerika sieht er sie am weitesten verwirklicht. Die Demokratie aber ist nur so gut, gerecht und stark, wie es die sie bildenden "schlichten Einzelpersonen" sind, die common men, die sie ausmachen und von denen auch er, der Dichter, einer ist. 1819 kam er als Sohn eines Zimmermanns in einem Bauernhaus zur Welt, zog mit seiner Familie nach Brooklyn, ging sechs Jahre zur Schule, arbeitete als Setzer und Journalist, war auf Versammlungen und hörte die berühmtesten Prediger seiner Zeit. Von klein auf also lebte er inmitten von common men - und war umgeben von Lettern und aus ihnen gesetzten Sätzen. Und er begriff, welche Macht das Wort entfalten konnte, das alltäglich gesprochene, das in Reden kunstvoll gesetzte, das gedruckte.
Die Macht der Worte
Und das Wunderbare geschah: Whitman, der die Dichter studiert hatte, die Hoch- und die Alltagssprache, der sich ein "Primer of Words", ein Wörterelementarbuch, angelegt hatte, in dem er Slangausdrücke, Wörter aus der "Negersprache", Fachtermini und Namen sammelte und sich etymologisch Bemerkenswertes notierte, dieser Walt Whitman brachte 1855, auf eigene Kosten, teilweise sogar selbst gesetzt, anonym und ohne Titel, eine Sammlung von zwölf Gedichten heraus, in denen er die Vorzüge des gedruckten und des gesprochenen Wortes, ihrer beider Wirkmächtigkeit verband - die "Leaves of Grass", die zur Gründungsurkunde der amerikanischen Dichtung wurden.
Denn Amerika ist noch nicht da, es wird in dieser, aus dieser Sprache geschaffen, erwächst aus den neuen schlanken ekstatischen Versen mit ihrem enthusiastischen Überschuss. Alles, was seine körperliche und spirituelle Gegenwart und die seines Landes, ja, im Grunde der Welt und der Menschheit ausmacht, nimmt Whitman in seine Verse auf. Kein Gegenstand und keine Tätigkeit, kein Trieb und kein Gefühl sind ihm zu gering - alles verwandelt er in Sprache. Denn er ist überzeugt, dass, wenn jeder common man seine Stimme, seine ursprüngliche Stimme frei und beherzt erklingen lässt, und dazu die Geräusche seines Tuns als Begleitung, eine wohlklingende Hymne entsteht. Und solange die anderen noch nicht singen, tut er es für sie. So werden die "Leaves of Grass" zum "Idiomatischen Buch" seines Landes, zum dichterischen Universal-Lexikon, zur "Neuen Bibel" - in der alles seinen Platz hat und besungen, singend bejaht wird, weil es ist.
Dass ein solcher Anspruch und die erforderliche Freiheit im Denken Freiheiten in der Form nach sich ziehen muss, ist klar. In Vorworten und Einleitungen verteidigt Whitman seine Revolte gegen die metrischen Konventionen und sein Prinzip des "organischen Wachstums": der Dichter müsse "die freie Bahn seiner selbst" sein, um das moderne Leben, das sich vor seinen Augen entfaltet, in seine Dichtung aufnehmen zu können.
Whitman war zwar nicht der Erste, der mit freien, prosanahen Langversen experimentierte, aber mit seinen berühmten kataloghaften Aufzählungen, in denen alles, was einem Menschen, nämlich ihm, dem Dichter, im Laufe seines Lebens begegnet, gleichberechtigt nebeneinandersteht, sprengte er die formalen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik. Der Opernenthusiast schuf dabei einen dem Alternieren von Rezitativ und Arie ähnlichen Wechsel aus lyrisch-rhythmischen und episch-deskriptiven Passagen, die er zu Clustern zusammenfasste, dem Lyrischen das Ideale, den prosanahen Rezitativen dagegen das Reale vorbehaltend.
Und das Reale war schon bald der Krieg. Denn dieses Amerika, dessen Einigkeit Whitman besang, war zutiefst zerstritten. Und obgleich der Dichter den Bürgerkrieg bejahte und die erkämpfte Einigung der Union durch Abraham Lincoln als zweiten Gründungsakt der Nation begriff, war er von dem blutigen Gemetzel verstört. Einen Großteil der Kriegsjahre verbrachte er zwischen Verwundeten und Sterbenden in den Krankenhäusern von Washington. In dieser Zeit entstanden die "Drum-Taps", die "Trommelschläge", eine Sammlung von Gedichten, in denen Whitman nicht die konkreten historischen Ereignisse schilderte, sondern allgemeine Szenen aus dem Soldatenleben. Erstaunlicherweise erlag er dabei weder dem Pessimismus und der Zukunftsangst der ihn später so verehrenden, kriegstraumatisierten deutschen Expressionisten, noch verfiel er, wie diese, einem leereumwehten Pathos - und auch seinen Glauben verlor er nicht, weder den an Gott noch den an die Vereinigten Staaten. Dennoch sind seit den "Drum-Taps" die dunklen Töne nicht zu überhören. Ein Schatten liegt auf der Utopie. Fast vierzig Jahre hat Whitman die "Leaves of Grass" immer wieder umgebaut, erweitert, gekürzt, gestrafft, ergänzt - und die Enttäuschung über die politische Entwicklung, die Verzweiflung über die Ermordung Lincolns (sie spricht aus dem berühmten "O Captain! My Captain" aus den "Memories of President Lincoln") und auch das Alter hinterließen ihre Spuren. So hatte die Dichtung in ihrer letzten Fassung, der sogenannten Totenbett-Ausgabe von 1891/92, jenen "afflatus", wie Whitman selbst bemerkte, jene inspirierte Leichtigkeit, die die Erstausgabe beseelt hatte, verloren, war dafür aber zu dem vielstimmigen, fast vierhundert Gedichte umfassenden Fundament der amerikanischen Literatur geworden, dessen Wirkung auf das Werk von Gertrude Stein bis Allen Ginsberg kaum zu ermessen ist.
Diese letzte Ausgabe liegt auch der ersten deutschen Gesamtübertragung von Jürgen Brôcan zu Grunde. Sie trägt, im Unterschied zu den bisherigen Teilübersetzungen, den Titel "Grasblätter", was keineswegs eine Spielerei ist, denn auch der englische Titel ist eine ungewöhnliche Wortkombination. "Welch einen Kampf hatte ich wegen des Namens. Wer kannte denn ein Grasblatt? Es gab Grashalme - aber Blätter? Oh! nein!", beschwerte sich der Dichter. "Grass" war im damaligen Druckerslang eine experimentell gesetzte Seite, was Whitman, der Setzer, natürlich wusste; "leaves" waren ein Packen Papier. Whitmans Gedichte mit den bis über drei Zeilen gehenden Langversen sind nun beides: ungewöhnlich im Schriftbild und ein dicker Packen Papier. Und bei Justus von Liebig hatte er gelernt, dass "Blatt" die wissenschaftlich korrekte Bezeichnung für alle grünen Pflanzenteile, also auch des Grases sei. Von solchen Schlaumeiereien war Whitman immer begeistert.
Die Neuübertragung erlaubt nun zum ersten Mal, sämtliche Gedichte auf Deutsch in ihrem Kontext zu lesen - und versucht zu vermeiden, was "die meisten früheren Übersetzungen gemeinsam haben", "die Monotonie eines unangemessen pathetischen Stils", so Brôcan nüchtern im Nachwort. Leider ist die Kehrseite dieser Vermeidungsstrategie ein häufig allzu trockener Ton, in dem Elemente einer dichterischen Hochsprache, von der auch Brôcan sich nicht ganz freimachen kann, einsame Inseln bilden - im dreizehnten Gedicht des "Song of Myself", in dem der schöne Körper eines Schwarzen besungen wird, "I behold the picturesque giant and love him, and I do not stop there, / I go with the team also", gibt er das lapidare "I do not stop there" mit "aber ich verweile dort nicht" wieder. Auch ein paar Fehler unterlaufen mitunter, etwa wenn es in "O Stern Frankreichs" heißt "Deine beispiellosen Wehen und Qualen" - womit keineswegs Entbindungsschmerzen gemeint sind, vielmehr handelt es sich um eine verunglückte Pluralbildung zu "Weh".
Dass sich die lockeren englischen Satzkonstruktionen im Deutschen nur bedingt nachbilden lassen und meistens konkreter und schwerfälliger ausfallen, ist ein bekanntes Problem - und hat schon so manchen Übersetzer verzweifeln lassen (man denke nur an die "-ing"-versessene Gertrude Stein). Aber auch sonst gibt es Ungereimtheiten und Umständliches: werden englische Komposita ins Deutsche übernommen; taucht bei Imperativen ein dem knappen Englisch unangemessenes Schluss-E auf ("bleibe" statt "bleib"); ist die Entscheidung Brôcans, die beim sprachdemokratischen Whitman eingestreuten spanischen und französischen Wörter im Deutschen ausgerechnet mit englischen Ausdrücken wiederzugeben, nicht schlüssig. Und auch wenn man die Entscheidung des Verlages, dem diese editorische Großtat hoch anzurechnen ist, dem Unternehmen Grenzen zu setzen, nachvollziehen kann, sind diese doch allzu eng gezogen.
Der Setzer der Sätze
Beim Lesen und Blättern in dem schönen Band wird man den Eindruck nicht los, dass es zwar die erste vollständige Übersetzung werden sollte, der Sparfuchs aber immer dabei war. Die einbändige amerikanische Ausgabe von Michael Moon, auf Grundlage der kritischen Edition von Sculley Bradley und Harold W. Blodgett erarbeitet, bietet so viel mehr! Einen ausführlichen Kommentar vor allem (am Fußende der Seite, was das Blättern erspart), an dem sich Brôcan zwar orientiert, der aber stark gekürzt wurde, obgleich ein deutscher Leser eher mehr erklärenden Beistand brauchte. Poetologisches und Angaben zu Übersetzerentscheidungen fehlen fast ganz.
Und dann druckt die amerikanische Ausgabe die erste Fassung der "Leaves of Grass" vollständig ab, was auf einen Blick mehr zum Verständnis der Werkgenese beiträgt als etliche Seiten Nachwort. Das Vorwort zur Erstausgabe sucht man leider auch vergeblich, dabei könnte es Ähnliches leisten. Gerade weil es später zu Teilen in die Dichtung eingeflossen ist (vor allem in "By Blue Ontario's Shore"), erlaubte es den Vergleich von einführender, die Dichtung erklärender, jedoch sich selbst nicht als Dichtung verstehender Prosa und darauf folgender, die explizite Poetologie in implizite verwandelnder Lyrik und würde die Unterschiede zwischen beiden Schreibweisen, die Whitman stets betont hat, aufzeigen.
Komfortabel wären auch ein paar Extras gewesen: eine Übersicht der bisherigen Übersetzungen ins Deutsche, eine Auswahlbibliographie, eine Vita mit den wichtigsten biographischen Angaben, Kolumnentitel; ein alphabetisches Verzeichnis der Überschriften und Anfangsverse (mit den Originaltiteln) sowie eine Verszählung - gehört das nicht inzwischen auch bei Leseausgaben zu den editorischen Standards?
Ganz glücklich werden kann man also, trotz der alles in allem beeindruckend schönen Leistung von Übersetzer und Verlag, mit der Ausgabe nicht. Dennoch soll jetzt gefeiert werden, und zwar mit einer einladenden Verkündigung, die sich, wer weiß, schon erfüllt hat? "Ich verkünde das Kommen von Mann oder Frau, vielleicht bist du es, (Bis bald)". "So long!", "Bis bald!" - das ist der Gruß der Tagediebe und Landstreicher, derjenigen, die nicht wissen, wann sie sich wiedersehen und wo, im Diesseits oder im Jenseits. Aber sicher bist du es, lieber Leser, Mann oder Frau, also schlag es auf, das Buch und lies Whitman, diesen großen, ungezähmten, ekstatisch liebenden, beglückenden Dichter.
BETTINA HARTZ
Walt Whitman: "Grasblätter". Nach der Ausgabe von 1891-92 erstmals vollständig übertragen und herausgegeben von Jürgen Brôcan. Hanser, 880 Seiten mit Abbildungen, 39,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2009Als alle Welt Amerika war
Walt Whitmans lyrische Demokratie: Alles ist gleich und in gleichem Maße heilig. Die „Grasblätter”, das Urbuch einer Nation in deutscher Übersetzung Von Heinz Schlaffer
Schnell fällt ein Dichter bei seinen Zeitgenossen in Ungnade, wenn er mit ihnen ungnädig umgeht, satirische Verse verfasst und hässliche Sitten hässlich nennt. Ungewöhnlich hingegen ist der Fall des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman (1819-1892), dessen Gedichte alles auf der Welt überschwänglich loben, besonders Amerika und seine Landsleute, aber dennoch deren Gunst zunächst nicht gewinnen konnten. Den verstörten Lesern ging das schrankenlose Lob zu weit: Es galt nicht allein der Demokratie, dem Fortschritt, der Arbeit, dem Meer, dem Wind, sondern mit gleicher Großzügigkeit dem Verbrecher, dem Landstreicher, der Prostituierten und – empörend im prüden 19. Jahrhundert – dem Geschlechtsakt, ohne die daran beteiligten Körperteile auszusparen: „Manneseier und Manneswurzel ... Brustwarzen, Nippel”. Kein Wunder, dass Whitman, der heute als einer der Begründer der modernen Lyrik gilt, zu seiner Zeit nur von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen (unter ihnen Abraham Lincoln) als revolutionärer Dichter erkannt und anerkannt wurde.
Whitmans Hymnen auf alles, was ist, sein „Song of the Universal”, vertraut dem Urteil Gottes über seine Schöpfung, in der „alles gut” geraten sei. Also kann es auch in dem, was die Geschöpfe des Schöpfers tun, nichts Schlechtes geben. Mag auch Gott der absolute Monarch sein, sein Blick auf die Welt ist demokratisch: Alles ist gleich und in gleichem Maße heilig. Diesem Blick folgt der Demokrat Whitman, um in den irdischen Erscheinungen die Spur der göttlichen Idee zu entdecken: „O Ernte in meinen Ländern – O grenzenloser Sommerwuchs,/ O üppige braune kreißende Erde – O unendlicher fruchtbarer Schoß,/ Ein Gesang zu deiner Schilderung.” Aufzählung genügt, um sich des Reichtums dieser herrlichen Erfindung „Erde” zu versichern: „Die Hitze, die Regenschauer, die unermesslichen Weidegründe,/ Die Szenerie des Schnees, das freie Orchester des Windes,/ Das ausgedehnte leichthängende Wolkendach, die klaren tiefblauen und die silberigen Säume.” Der Dichter spricht, als habe Gott ihn an seine Seite geholt, um ihm von oben die Größe und Schönheit der Welt zum ersten Mal zu zeigen.
Die Kolonisierung der Neuen Welt, die Befreiung von englischer Vorherrschaft, die Gründung der Vereinigten Staaten, der Bürgerkrieg, die Expansion nach Westen, der materielle Erfolg, der technische Fortschritt hatte die Amerikaner so beschäftigt, dass sie keine Zeit an den sündhaften Luxus der Poesie verschwenden wollten. Wenn im 19. Jahrhundert eine amerikanische Literatur entstehen und sogar Anerkennung finden konnte, dann musste sie mehr als Literatur sein: Bericht von wirklichen Erfahrungen, Verkündigung von Zielen, Anleitung zum richtigen Leben. Auch Whitman akzeptierte diese Vorgaben und übersetzte sie in Gedichte, deren stürmischer Rhythmus dem Optimismus eines unfertigen, scheinbar grenzenlos offenen Landes die Weihe der Poesie verleiht. Erst nach Whitmans Tod begriff Amerika, dass er sein Dichter war.
Ein Freund nannte Whitman den „im 19. Jahrhundert wiedergeborenen Adam”. „Children of Adam” heißt eine Abteilung seiner Gedichte, als hätten die Einwanderer auf dem amerikanischen Kontinent den paradiesischen Zustand angetroffen, in den einst Adam von Gott versetzt worden war und den die Zivilisation in Europa längst vergessen hatte. Es war die Aufgabe der amerikanischen Malerei im 19. Jahrhundert, diese Idee einer unberührten Landschaft von göttlicher Schönheit ins Bild zu verwandeln: Es zeigt die Wälder, Gebirge, Weiden, Seen Amerikas wie am ersten Tag der Schöpfung. „Am Anfang war alle Welt Amerika”, so hatte zweihundert Jahre zuvor der englische Philosoph John Locke die Berichte über die Besiedlung der Neuen Welt interpretiert. Aus diesem schmeichelhaften Vergleich folgerten amerikanische Schriftsteller, mit dem größten Enthusiasmus Thoreau und Whitman, dass den Amerikanern das weltgeschichtliche Glück zugefallen sei, wieder an einem Anfang vor aller Kultur zu stehen. Der American way of life sollte so verlaufen, wie es Gottes ursprünglicher Absicht war und wie er den natürlichen Bedürfnissen der Menschen entspricht. Durch kindliche Unschuld, die noch nicht zwischen Gut und Böse unterscheidet, und kindliches Staunen über die Vielfalt der sichtbaren Welt versetzen Whitmans Gedichte den Leser an diesen adamitischen Anfang zurück. Ihr Ton ist so unbeschwert, als habe es vor ihnen keine Poesie gegeben, als habe allein der amerikanische Dichter, wie vor ihm nur Adam, den Auftrag erhalten, die ihm begegnenden Dinge zum ersten Mal und für immer zu benennen.
Lyrische Dichter, von Horaz bis Stefan George, verstehen sich gerne als vornehme, von der Masse nicht verstandene Ausnahmeerscheinungen. Von dieser europäischen Tradition elitärer Bildung kehrt sich Whitman ab, und in seinem Gefolge tut es fast die gesamte amerikanische Literatur bis heute. Whitman stellt seine „Leaves of Grass” in den Dienst der Demokratie. Der Dichter will die Massen besingen und zugleich ein Teil von ihnen sein: „Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson,/ Doch spreche das Wort demokratisch, das Wort en-masse.” Die Demokratie wird erhaben. Whitman nennt sie „athletisch”. Dieses Adjektiv dient ihm als Brücke, um vom erwünschten Lob einer kraftvollen Demokratie zum anstößigen Lob des männlichen Körpers zu gelangen und an den homosexuellen „Mitternachtsorgien der jungen Männer” („wenn du mich besteigst”), wenigstens in der Phantasie, teilzunehmen. Nichts darf von Whitmans lyrischer Demokratie ausgeschlossen sein.
„Athletisch”, „energisch”, „elektrisch” ist auch Whitmans lyrische Sprache. Reim und Metrum, die der Sprache eine strenge, sich wiederholende Ordnung auferlegen, würden die freie Bewegung der Gedanken, den Strom der Bilder und Worte nur einengen. Deshalb dichtet Whitman in freien Rhythmen, wie sie der deutsche Leser von Klopstock, dem jungen Goethe und Hölderlin kennt. Doch anders als deren schwierige, oft dunkle Lyrik sollen Whitmans ungebundene Verse trotz allen Pathos schlicht klingen, damit jedermann den „Gesang für eine Neue Welt” verstehen kann. Muss der Dichter nicht mehr Silben zählen, so hat er die Freiheit, neue Begriffe wie „Wissenschaft” oder „Evolution” und Fachausdrücke wie „Pfahlramme, Ladebaum, Ziegelofen” ins Gedicht aufzunehmen. Kein anderer Dichter hat den Wortschatz der Lyrik, der Jahrhunderte lang in den engsten Grenzen geblieben war, so erweitert. Um die Ahnung zu verscheuchen, die moderne Zivilisation könnte gut auch ohne das Gedicht auskommen, verzaubert Whitman ihr Wörterbuch in die Sprache der Poesie.
Vor hundert Jahren war Whitmans Dichtung im literarischen Deutschland präsenter, als sie es heute ist. Bereits 1868 übersetzte Ferdinand Freiligrath einige Gedichte, angetan von deren liberaler, republikanischer Gesinnung. Was in den Vereinigten Staaten poetische Enthüllung ihrer Grundlagen war, diente in Deutschland der Opposition gegen den
„Athletisch”, „energisch”, „elektrisch” ist Whitmans poetische Sprache
Fortsetzung Seite 2
Mit dem Optimismus eines unfertigen, grenzenlosen Landes: Walt Whitman in einer (digital kolorierten) Aufnahme von Thomas Eakins, 1891. Foto: akg
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Walt Whitmans lyrische Demokratie: Alles ist gleich und in gleichem Maße heilig. Die „Grasblätter”, das Urbuch einer Nation in deutscher Übersetzung Von Heinz Schlaffer
Schnell fällt ein Dichter bei seinen Zeitgenossen in Ungnade, wenn er mit ihnen ungnädig umgeht, satirische Verse verfasst und hässliche Sitten hässlich nennt. Ungewöhnlich hingegen ist der Fall des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman (1819-1892), dessen Gedichte alles auf der Welt überschwänglich loben, besonders Amerika und seine Landsleute, aber dennoch deren Gunst zunächst nicht gewinnen konnten. Den verstörten Lesern ging das schrankenlose Lob zu weit: Es galt nicht allein der Demokratie, dem Fortschritt, der Arbeit, dem Meer, dem Wind, sondern mit gleicher Großzügigkeit dem Verbrecher, dem Landstreicher, der Prostituierten und – empörend im prüden 19. Jahrhundert – dem Geschlechtsakt, ohne die daran beteiligten Körperteile auszusparen: „Manneseier und Manneswurzel ... Brustwarzen, Nippel”. Kein Wunder, dass Whitman, der heute als einer der Begründer der modernen Lyrik gilt, zu seiner Zeit nur von einer kleinen Gruppe von Intellektuellen (unter ihnen Abraham Lincoln) als revolutionärer Dichter erkannt und anerkannt wurde.
Whitmans Hymnen auf alles, was ist, sein „Song of the Universal”, vertraut dem Urteil Gottes über seine Schöpfung, in der „alles gut” geraten sei. Also kann es auch in dem, was die Geschöpfe des Schöpfers tun, nichts Schlechtes geben. Mag auch Gott der absolute Monarch sein, sein Blick auf die Welt ist demokratisch: Alles ist gleich und in gleichem Maße heilig. Diesem Blick folgt der Demokrat Whitman, um in den irdischen Erscheinungen die Spur der göttlichen Idee zu entdecken: „O Ernte in meinen Ländern – O grenzenloser Sommerwuchs,/ O üppige braune kreißende Erde – O unendlicher fruchtbarer Schoß,/ Ein Gesang zu deiner Schilderung.” Aufzählung genügt, um sich des Reichtums dieser herrlichen Erfindung „Erde” zu versichern: „Die Hitze, die Regenschauer, die unermesslichen Weidegründe,/ Die Szenerie des Schnees, das freie Orchester des Windes,/ Das ausgedehnte leichthängende Wolkendach, die klaren tiefblauen und die silberigen Säume.” Der Dichter spricht, als habe Gott ihn an seine Seite geholt, um ihm von oben die Größe und Schönheit der Welt zum ersten Mal zu zeigen.
Die Kolonisierung der Neuen Welt, die Befreiung von englischer Vorherrschaft, die Gründung der Vereinigten Staaten, der Bürgerkrieg, die Expansion nach Westen, der materielle Erfolg, der technische Fortschritt hatte die Amerikaner so beschäftigt, dass sie keine Zeit an den sündhaften Luxus der Poesie verschwenden wollten. Wenn im 19. Jahrhundert eine amerikanische Literatur entstehen und sogar Anerkennung finden konnte, dann musste sie mehr als Literatur sein: Bericht von wirklichen Erfahrungen, Verkündigung von Zielen, Anleitung zum richtigen Leben. Auch Whitman akzeptierte diese Vorgaben und übersetzte sie in Gedichte, deren stürmischer Rhythmus dem Optimismus eines unfertigen, scheinbar grenzenlos offenen Landes die Weihe der Poesie verleiht. Erst nach Whitmans Tod begriff Amerika, dass er sein Dichter war.
Ein Freund nannte Whitman den „im 19. Jahrhundert wiedergeborenen Adam”. „Children of Adam” heißt eine Abteilung seiner Gedichte, als hätten die Einwanderer auf dem amerikanischen Kontinent den paradiesischen Zustand angetroffen, in den einst Adam von Gott versetzt worden war und den die Zivilisation in Europa längst vergessen hatte. Es war die Aufgabe der amerikanischen Malerei im 19. Jahrhundert, diese Idee einer unberührten Landschaft von göttlicher Schönheit ins Bild zu verwandeln: Es zeigt die Wälder, Gebirge, Weiden, Seen Amerikas wie am ersten Tag der Schöpfung. „Am Anfang war alle Welt Amerika”, so hatte zweihundert Jahre zuvor der englische Philosoph John Locke die Berichte über die Besiedlung der Neuen Welt interpretiert. Aus diesem schmeichelhaften Vergleich folgerten amerikanische Schriftsteller, mit dem größten Enthusiasmus Thoreau und Whitman, dass den Amerikanern das weltgeschichtliche Glück zugefallen sei, wieder an einem Anfang vor aller Kultur zu stehen. Der American way of life sollte so verlaufen, wie es Gottes ursprünglicher Absicht war und wie er den natürlichen Bedürfnissen der Menschen entspricht. Durch kindliche Unschuld, die noch nicht zwischen Gut und Böse unterscheidet, und kindliches Staunen über die Vielfalt der sichtbaren Welt versetzen Whitmans Gedichte den Leser an diesen adamitischen Anfang zurück. Ihr Ton ist so unbeschwert, als habe es vor ihnen keine Poesie gegeben, als habe allein der amerikanische Dichter, wie vor ihm nur Adam, den Auftrag erhalten, die ihm begegnenden Dinge zum ersten Mal und für immer zu benennen.
Lyrische Dichter, von Horaz bis Stefan George, verstehen sich gerne als vornehme, von der Masse nicht verstandene Ausnahmeerscheinungen. Von dieser europäischen Tradition elitärer Bildung kehrt sich Whitman ab, und in seinem Gefolge tut es fast die gesamte amerikanische Literatur bis heute. Whitman stellt seine „Leaves of Grass” in den Dienst der Demokratie. Der Dichter will die Massen besingen und zugleich ein Teil von ihnen sein: „Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson,/ Doch spreche das Wort demokratisch, das Wort en-masse.” Die Demokratie wird erhaben. Whitman nennt sie „athletisch”. Dieses Adjektiv dient ihm als Brücke, um vom erwünschten Lob einer kraftvollen Demokratie zum anstößigen Lob des männlichen Körpers zu gelangen und an den homosexuellen „Mitternachtsorgien der jungen Männer” („wenn du mich besteigst”), wenigstens in der Phantasie, teilzunehmen. Nichts darf von Whitmans lyrischer Demokratie ausgeschlossen sein.
„Athletisch”, „energisch”, „elektrisch” ist auch Whitmans lyrische Sprache. Reim und Metrum, die der Sprache eine strenge, sich wiederholende Ordnung auferlegen, würden die freie Bewegung der Gedanken, den Strom der Bilder und Worte nur einengen. Deshalb dichtet Whitman in freien Rhythmen, wie sie der deutsche Leser von Klopstock, dem jungen Goethe und Hölderlin kennt. Doch anders als deren schwierige, oft dunkle Lyrik sollen Whitmans ungebundene Verse trotz allen Pathos schlicht klingen, damit jedermann den „Gesang für eine Neue Welt” verstehen kann. Muss der Dichter nicht mehr Silben zählen, so hat er die Freiheit, neue Begriffe wie „Wissenschaft” oder „Evolution” und Fachausdrücke wie „Pfahlramme, Ladebaum, Ziegelofen” ins Gedicht aufzunehmen. Kein anderer Dichter hat den Wortschatz der Lyrik, der Jahrhunderte lang in den engsten Grenzen geblieben war, so erweitert. Um die Ahnung zu verscheuchen, die moderne Zivilisation könnte gut auch ohne das Gedicht auskommen, verzaubert Whitman ihr Wörterbuch in die Sprache der Poesie.
Vor hundert Jahren war Whitmans Dichtung im literarischen Deutschland präsenter, als sie es heute ist. Bereits 1868 übersetzte Ferdinand Freiligrath einige Gedichte, angetan von deren liberaler, republikanischer Gesinnung. Was in den Vereinigten Staaten poetische Enthüllung ihrer Grundlagen war, diente in Deutschland der Opposition gegen den
„Athletisch”, „energisch”, „elektrisch” ist Whitmans poetische Sprache
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Mit dem Optimismus eines unfertigen, grenzenlosen Landes: Walt Whitman in einer (digital kolorierten) Aufnahme von Thomas Eakins, 1891. Foto: akg
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Autor und Dichter Mirko Bonne ist hingerissen von dieser neuen und erstmals die gesamte "Deathbed Edition" von Walt Whitmans "Grasblätter" umfassenden Übersetzung durch Jürgen Brocan. Den Einfluss der zwischen Prosa und Lyrik changierenden Textsammlung auf amerikanische Autoren - von Cummings und Eliot bis Pound und Williams - hält er für immens. Großartig erscheint ihm Brocans empathischer, die verschiedenen bei Whitman zusammenkommenden sprachlichen Formen (Arie, Gebet, Glosse, Hymne usw) nachvollziehender Zugang, der in Bonnes Vergleich mit früheren Übertragungen deutlich gewinnt. Außerdem freut sich Bonne über einen "profunden" Anmerkungsapparat. Dass die Originaltexte bei jetzt schon 860 Seiten keinen Platz fanden, kann er verstehen. Weniger allerdings das Fehlen eines alphabetischen Anfangszeilenverzeichnisses.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Wenn Sie Amerikaner sind, dann ist Walt Whitman etwas wie Vater und Mutter für Sie, auch wenn Sie, wie ich, keinen einzigen Vers geschrieben haben. Gemeinsam mit Melvilles Moby Dick und Mark Twains Huckleberry Finn bilden seine Grasblätter das literarische Herz der Vereinigten Staaten." Harold Bloom
"Jürgen Brôcan präsentiert eine neue, hervorragende Übertragung, die Whitmans Aufbruchpathos, aber auch seine moderne Nüchternheit und seine bewusste Verwendung von Alltagsausdrücken bewahrt." Ralph Dutli, Neue Zürcher Zeitung, 25.10.09
"Es wäre schön, diesen kalifornischen Gesang nun, da er übersetzt ist, zur deutschen Literatur zählen zu dürfen." Hannelore Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 08.12.09
"Jürgen Brôcan präsentiert eine neue, hervorragende Übertragung, die Whitmans Aufbruchpathos, aber auch seine moderne Nüchternheit und seine bewusste Verwendung von Alltagsausdrücken bewahrt." Ralph Dutli, Neue Zürcher Zeitung, 25.10.09
"Es wäre schön, diesen kalifornischen Gesang nun, da er übersetzt ist, zur deutschen Literatur zählen zu dürfen." Hannelore Schlaffer, Süddeutsche Zeitung, 08.12.09