My Century by G ü nter Grass, the Nobel Prize-winning German novelist, is an historical portrait of our century in all its grandeur and its horror.
A collection of one hundred inter-linked stories celebrating the twentieth century, by Germany's most eminent contemporary writer. As the sequence of stories unfolds, a lively and rich picture emerges, an historical portrait of our century in all its grandeur and in all its horror.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
A collection of one hundred inter-linked stories celebrating the twentieth century, by Germany's most eminent contemporary writer. As the sequence of stories unfolds, a lively and rich picture emerges, an historical portrait of our century in all its grandeur and in all its horror.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.1999Icke mit Lotte
Die Jahrhundertfibel des Günter Grass · Von Hubert Spiegel
Es war in den frühen siebziger, wahrscheinlich aber noch in den sechziger Jahren, als Hans-Joachim Kulenkampff begann, die Fragen in seinen Quizsendungen in kleine Theatersketche zu kleiden. Der Fernsehunterhalter spielte damals Nero, Hamlet, Goethe, Richard Wagner, Heinrich VIII. oder Alexander den Großen und fragte zum Beispiel, was es mit dem berühmten Knoten auf sich habe, den der junge Feldherr Alexander lösen sollte. Kulenkampffs kleine Fernsehweltgeschichte machte es den Kandidaten und Zuschauern nicht übermäßig schwer. Aber man konnte manches aus ihr lernen, etwa daß der damalige Star der bürgerlichen Fernsehunterhaltung sich über den Kanon und die Bildungsbeflissenheit seiner Zuschauer gern ein wenig lustig machte.
Gäbe es Kulenkampffs Quizsendungen am Samstag abend noch heute, er fände in "Mein Jahrhundert", dem neuen Buch von Günter Grass, reichlich Material für neue Fragen und Sketche. Einhundert Episoden, Monologe und Gespräche hat Grass in diesem Band versammelt, für jedes Jahr unseres Jahrhunderts einen kurzen Text, und der Fernsehunterhalter könnte sie alle spielen: Kulenkampff als Trümmerfrau 1946 in Berlin: "Icke mit Lotte, was meine Tochter is, wir haben in Kolonne jekloppt." Kulenkampff als holzhackender Kaiser Wilhelm im holländischen Exil: "Jawohl, unter Dampf . . . Mußte handeln." Kulenkampff als Erich Maria Remarque, der mit dem Schriftstellerkollegen Ernst Jünger noch einmal über die Schlachten des Ersten Weltkriegs plaudert: "Ach was, Jünger. Sie reden daher wie ein Herrenreiter." Kulenkampff als Treuhand-Chefin Birgit Breuel, die ihre Abwicklungsraten rechtfertigt: "Nein. Mir hat keiner was geschenkt. Alles habe ich mir nehmen müssen." Und schließlich ganz zuletzt, Hans-Joachim Kulenkampff als wiederauferstandene Mutter des Schriftstellers Günter Grass: "So ist er nun mal. Denkt sich immer die unmöglichsten Sachen aus. Muß immer übertreiben. Mag man gar nicht glauben, wenn man das liest."
All dies könnte Kulenkampff wunderbar spielen, und es wäre Fernsehquiz der guten, alten Zeit. Aber "Mein Jahrhundert" verströmt auch ohne den Quizmaster den Atem der sechziger und siebziger Jahre. Man denkt bei der Lektüre an das längst verschüttete Projekt "Literatur der Arbeitswelt", an Stadtteilhistoriker und Geschichtswerkstätten. Von ferne meint man einen Ruf zu hören: "Mehr Geschichte von unten wagen."
Das Wagnis hingegen, von dem der Titel zu sprechen scheint, bleibt aus. Den besitzergreifenden, radikal subjektiven Zugriff auf das Jahrhundert hat Günter Grass nicht unternommen. Nur dreizehn der hundert Episoden gelten der Person des Schriftstellers, jenen Jahren, in denen Grass das Jahrhundert nicht präsentiert, sondern erlebt. Es sind die interessantesten Teile des Werkes. Hier, in den Marginalien einer ungeschriebenen Autobiographie, wird Günter Grass dem Anspruch seines Buches gerecht, das mit dem Wörtchen "ich" beginnt und nach hundert Episoden und 409 Seiten mit dem Adverb "überall" endet. "Ich, überall", das wäre ein Programm, ein passender Titel gewesen für die Schrift eines vorlauten Chronisten seiner selbst, der durch unser Jahrhundert eilt im Habitus des unzuverlässigen Augenzeugen und Schwadroneurs, eines Allwissenden, Allgegenwärtigen, der die Wahrheit nur deshalb so genau kennt, weil er sie selbst erfunden hat. Vielleicht hätte Günter Grass dieser Chronist sein können, gewiß hat er es nicht sein wollen.
Das Vorwort zu seinem neuen Buch ist in zahlreichen Interviews und Fernsehauftritten schon Wochen vor der Veröffentlichung bestritten worden. Auch dieser "neue Grass" ist ein Medienereignis. Ein literarisches Ereignis ist "Mein Jahrhundert" nicht. Mit der "Blechtrommel" hat Günter Grass einen der bedeutendsten deutschen Romane des Jahrhunderts geschrieben, mit "Mein Jahrhundert" legt er nun das brave Panorama eines Säkulums vor, in dem, und darin liegt die größte Überraschung dieses Buches, die Literatur so gut wie keine Rolle spielt.
Nehmen wir das Jahr 1929. Damals hat Herr Forssmann den Herzkatheter entwickelt und Herr Byrd den Südpol überflogen. Leo Trotzki mußte die Sowjetunion verlassen. In New York kam es zum größten Börsenkrach aller Zeiten. In Deutschland erschien in jenem Jahr der Roman "Berlin Alexanderplatz", das wichtigste Buch des einzigen Schriftstellers unseres Jahrhunderts, den Grass als seinen Lehrmeister akzeptiert hat. Aber von Döblin keine Zeile, in jenem Jahr nicht und nicht im ganzen Buch. Statt dessen läßt Grass einen Arbeiter der Opel-Werke zu Wort kommen, der sich rückblickend an den "Laubfrosch" erinnert, das Erfolgsmodell jenes Jahres, in dem der Opel-Erbe das Unternehmen an die Amerikaner verkaufte: "Und uff einmol warn wir all Amerikaner." Damit ist er ganz zufrieden, brachten die neuen Besitzverhältnisse im Zweiten Weltkrieg doch Schutz vor alliierten Bomben und später vor der drohenden Demontage mit sich: "Han Glück gehabt, gell?"
Wie der Opel-Arbeiter sprechen viele der Erzähler in diesem Buch Dialekt: Berliner, Ostpreußen, Schlesier, Ruhrpottler. Die Berücksichtigung der Tonfälle und Sprachfarben in Deutschland, könnte man meinen, folgt einem nicht aufzuschlüsselnden landsmannschaftlichen Proporz. Es ist das ganze Deutschland, um das es hier geht, mit all seinen Verwerfungen und Grenzverschiebungen: Kaiserzeit und Weimarer Republik, Drittes Reich, Teilung und natürlich die Erbsünde der Berliner Republik, die Wiedervereinigung. Das ganze Deutschland und nichts von der Welt. Grass' Perspektive bleibt stets deutsch, über die Grenze geht es nur zu Zwecken des Krieges oder in seiner Folge, etwa wenn ein Luftschiff, die LZ 126, als Teil der Reparationszahlungen nach Amerika überführt werden muß.
Der Schriftsteller gefällt sich als Stimmenimitator, der für jede seiner Figuren nach einer individuellen Ausdrucksweise sucht. Auf den zwei bis vier Seiten, die er jedem Jahr zugeteilt hat, verteilt er persönliche Merkmale, skizziert familiäre Verhältnisse, eine Biographie. Es nutzt nicht viel, die meisten Figuren sprechen wie Günter Grass. Selbst in der Maske eines "mittleren KPD-Funktionärs", der die Olympischen Spiele von 1936 als Insasse eines Arbeitslagers erlebt, verrät noch der Satzrhythmus den Autor der "Hundejahre".
Unablässig schlüpft Grass in fremde Kleider, wechselt Geschlecht und Herkunft, Bildungsgrad und Sprachfarbe. Gemäß seinem Motto, "Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen", berichtet er als Kriegsfreiwilliger vom sogenannten Boxeraufstand in China und als Bauleiter von der "dräuenden Masse" des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Als Frauenrätin von Prenzlauer Berg weist er die Dolchstoß-Legende zurück, als Ilse Lepinski ist er Peter Panter alias Kurt Tucholsky erbötig, in "Walterchens Shimmydiele" Nachhilfestunden im Charleston zu erteilen. Aber die Kostüme der literarischen Strömungen und Moden dieses Jahrhunderts bleiben am Kleiderhaken. Welchen Stil- und Formenreichtum allein der ersten drei Jahrzehnte hätte der Schriftsteller hier aufrufen können: Naturalismus, Expressionismus, die Futuristen, Dada, Neue Sachlichkeit. Nichts von alldem bei Grass. Es gibt Literaten in seinem Jahrhundert, Jünger, Remarque, Brecht und Benn, Else Lasker-Schüler und auch den im Haveleis einbrechenden Heym, aber es gibt keine Literatur. Jedenfalls nicht, wenn ihr Autor nicht Grass heißt.
Die eigenen Bücher, "Die Blechtrommel", "Der Butt", "Zunge zeigen" und "Totes Holz", sind dem Chronisten Einträge wert, und die Episode für das Jahr 1959, als Grass auf der Frankfurter Buchmesse im Schwindel des sich ankündigenden Erfolgs der "Blechtrommel" mit seiner Frau tanzt, gehört zu den eindrücklichsten des Bandes. Auch wenn Grass immer wieder überraschende Perspektiven findet, etwa wenn er eine ehemalige VW-Arbeiterin von "drüben" aus ihren Anspruch auf einen Käfer geltend machen läßt, die gelungensten Vignetten bleiben doch jene aus dem Leben des Autors: die Schelte für den im Westen angekommenen Wolf Biermann, die Abende vor dem Mauerfall in Ost-Berlin mit Hans-Joachim Schädlich und Sarah Kirsch, der Osterausflug des fast Siebzigjährigen mit den drei Töchtern nach Italien.
Schon bevor das Buch erschien, war das Wort von der "Geschichte von unten" gefallen. Es scheint dem Autor, der sich gern als "Spätaufklärer" bezeichnet, zu gefallen. Grass bevorzugt die Perspektive der Hausfrau und des Arbeiters, seine Gewährsleute heißen Hildchen oder Kurtchen, zufällige Zaungäste eines historischen Geschehens. Die Mächtigen sind nahezu unsichtbar, den Intellektuellen gilt nicht die Feindschaft, aber doch unübersehbar das Mißtrauen des Chronisten. Auch hierin, im gespaltenen Verhältnis zur Intelligenz, zeigt sich noch einmal die Tradition, in der diese sozialdemokratische Jahrhundertfibel steht. Es ist die einer paternalistischen Volksaufklärung.
"Mein Jahrhundert" ist ein Buch zum Vorlesen, Rollenprosa, Monologe, aufgeteilt in kleine Häppchen. Jede Seite zeugt von der Lust des Autors an der gesprochenen Sprache. Aber allzuoft ist es die Sprache des Schulfunks. Nicht zufällig bringt der Verlag zwei Ausgaben zugleich auf den Markt, das "Lesebuch", die Schul- und Volksausgabe also, und das "großformatige Buch" für den Liebhaber, ausgestattet mit zahlreichen Aquarellen, Zeichnungen von prangender Symbolik und naiv-kindlichem Gestus, die den Gedanken ans Kinder- und Jugendbuch noch verstärken: Alles ist vermittelt, in beruhigende Distanz gerückt.
Die Masse, die unser Jahrhundert das Fürchten gelehrt hat, kommt bei Grass nicht vor. Er löst sie auf, bis nur noch ihr kleinster Bestandteil zu sehen ist, der einzelne. Indem Grass ihm eine Stimme gibt, verleiht er seinem Jahrhundert ein Gesicht. Es ist das des kleinen Mannes, der noch einmal davongekommen ist. Vielleicht liegt es daran, an all den sympathischen Hildchens, Kurtchens, Walterchens, daß unser Jahrhundert, wenn man es mit den Augen von Günter Grass gesehen hat, auf so beklemmende Weise gemütlich wirkt.
Günter Grass: "Mein Jahrhundert". Lesebuch. Steidl Verlag, Göttingen 1999. 348 S., geb., 48,- DM.
Eine großformatige, mit Aquarellen von Günter Grass ausgestattete Ausgabe kostet 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Jahrhundertfibel des Günter Grass · Von Hubert Spiegel
Es war in den frühen siebziger, wahrscheinlich aber noch in den sechziger Jahren, als Hans-Joachim Kulenkampff begann, die Fragen in seinen Quizsendungen in kleine Theatersketche zu kleiden. Der Fernsehunterhalter spielte damals Nero, Hamlet, Goethe, Richard Wagner, Heinrich VIII. oder Alexander den Großen und fragte zum Beispiel, was es mit dem berühmten Knoten auf sich habe, den der junge Feldherr Alexander lösen sollte. Kulenkampffs kleine Fernsehweltgeschichte machte es den Kandidaten und Zuschauern nicht übermäßig schwer. Aber man konnte manches aus ihr lernen, etwa daß der damalige Star der bürgerlichen Fernsehunterhaltung sich über den Kanon und die Bildungsbeflissenheit seiner Zuschauer gern ein wenig lustig machte.
Gäbe es Kulenkampffs Quizsendungen am Samstag abend noch heute, er fände in "Mein Jahrhundert", dem neuen Buch von Günter Grass, reichlich Material für neue Fragen und Sketche. Einhundert Episoden, Monologe und Gespräche hat Grass in diesem Band versammelt, für jedes Jahr unseres Jahrhunderts einen kurzen Text, und der Fernsehunterhalter könnte sie alle spielen: Kulenkampff als Trümmerfrau 1946 in Berlin: "Icke mit Lotte, was meine Tochter is, wir haben in Kolonne jekloppt." Kulenkampff als holzhackender Kaiser Wilhelm im holländischen Exil: "Jawohl, unter Dampf . . . Mußte handeln." Kulenkampff als Erich Maria Remarque, der mit dem Schriftstellerkollegen Ernst Jünger noch einmal über die Schlachten des Ersten Weltkriegs plaudert: "Ach was, Jünger. Sie reden daher wie ein Herrenreiter." Kulenkampff als Treuhand-Chefin Birgit Breuel, die ihre Abwicklungsraten rechtfertigt: "Nein. Mir hat keiner was geschenkt. Alles habe ich mir nehmen müssen." Und schließlich ganz zuletzt, Hans-Joachim Kulenkampff als wiederauferstandene Mutter des Schriftstellers Günter Grass: "So ist er nun mal. Denkt sich immer die unmöglichsten Sachen aus. Muß immer übertreiben. Mag man gar nicht glauben, wenn man das liest."
All dies könnte Kulenkampff wunderbar spielen, und es wäre Fernsehquiz der guten, alten Zeit. Aber "Mein Jahrhundert" verströmt auch ohne den Quizmaster den Atem der sechziger und siebziger Jahre. Man denkt bei der Lektüre an das längst verschüttete Projekt "Literatur der Arbeitswelt", an Stadtteilhistoriker und Geschichtswerkstätten. Von ferne meint man einen Ruf zu hören: "Mehr Geschichte von unten wagen."
Das Wagnis hingegen, von dem der Titel zu sprechen scheint, bleibt aus. Den besitzergreifenden, radikal subjektiven Zugriff auf das Jahrhundert hat Günter Grass nicht unternommen. Nur dreizehn der hundert Episoden gelten der Person des Schriftstellers, jenen Jahren, in denen Grass das Jahrhundert nicht präsentiert, sondern erlebt. Es sind die interessantesten Teile des Werkes. Hier, in den Marginalien einer ungeschriebenen Autobiographie, wird Günter Grass dem Anspruch seines Buches gerecht, das mit dem Wörtchen "ich" beginnt und nach hundert Episoden und 409 Seiten mit dem Adverb "überall" endet. "Ich, überall", das wäre ein Programm, ein passender Titel gewesen für die Schrift eines vorlauten Chronisten seiner selbst, der durch unser Jahrhundert eilt im Habitus des unzuverlässigen Augenzeugen und Schwadroneurs, eines Allwissenden, Allgegenwärtigen, der die Wahrheit nur deshalb so genau kennt, weil er sie selbst erfunden hat. Vielleicht hätte Günter Grass dieser Chronist sein können, gewiß hat er es nicht sein wollen.
Das Vorwort zu seinem neuen Buch ist in zahlreichen Interviews und Fernsehauftritten schon Wochen vor der Veröffentlichung bestritten worden. Auch dieser "neue Grass" ist ein Medienereignis. Ein literarisches Ereignis ist "Mein Jahrhundert" nicht. Mit der "Blechtrommel" hat Günter Grass einen der bedeutendsten deutschen Romane des Jahrhunderts geschrieben, mit "Mein Jahrhundert" legt er nun das brave Panorama eines Säkulums vor, in dem, und darin liegt die größte Überraschung dieses Buches, die Literatur so gut wie keine Rolle spielt.
Nehmen wir das Jahr 1929. Damals hat Herr Forssmann den Herzkatheter entwickelt und Herr Byrd den Südpol überflogen. Leo Trotzki mußte die Sowjetunion verlassen. In New York kam es zum größten Börsenkrach aller Zeiten. In Deutschland erschien in jenem Jahr der Roman "Berlin Alexanderplatz", das wichtigste Buch des einzigen Schriftstellers unseres Jahrhunderts, den Grass als seinen Lehrmeister akzeptiert hat. Aber von Döblin keine Zeile, in jenem Jahr nicht und nicht im ganzen Buch. Statt dessen läßt Grass einen Arbeiter der Opel-Werke zu Wort kommen, der sich rückblickend an den "Laubfrosch" erinnert, das Erfolgsmodell jenes Jahres, in dem der Opel-Erbe das Unternehmen an die Amerikaner verkaufte: "Und uff einmol warn wir all Amerikaner." Damit ist er ganz zufrieden, brachten die neuen Besitzverhältnisse im Zweiten Weltkrieg doch Schutz vor alliierten Bomben und später vor der drohenden Demontage mit sich: "Han Glück gehabt, gell?"
Wie der Opel-Arbeiter sprechen viele der Erzähler in diesem Buch Dialekt: Berliner, Ostpreußen, Schlesier, Ruhrpottler. Die Berücksichtigung der Tonfälle und Sprachfarben in Deutschland, könnte man meinen, folgt einem nicht aufzuschlüsselnden landsmannschaftlichen Proporz. Es ist das ganze Deutschland, um das es hier geht, mit all seinen Verwerfungen und Grenzverschiebungen: Kaiserzeit und Weimarer Republik, Drittes Reich, Teilung und natürlich die Erbsünde der Berliner Republik, die Wiedervereinigung. Das ganze Deutschland und nichts von der Welt. Grass' Perspektive bleibt stets deutsch, über die Grenze geht es nur zu Zwecken des Krieges oder in seiner Folge, etwa wenn ein Luftschiff, die LZ 126, als Teil der Reparationszahlungen nach Amerika überführt werden muß.
Der Schriftsteller gefällt sich als Stimmenimitator, der für jede seiner Figuren nach einer individuellen Ausdrucksweise sucht. Auf den zwei bis vier Seiten, die er jedem Jahr zugeteilt hat, verteilt er persönliche Merkmale, skizziert familiäre Verhältnisse, eine Biographie. Es nutzt nicht viel, die meisten Figuren sprechen wie Günter Grass. Selbst in der Maske eines "mittleren KPD-Funktionärs", der die Olympischen Spiele von 1936 als Insasse eines Arbeitslagers erlebt, verrät noch der Satzrhythmus den Autor der "Hundejahre".
Unablässig schlüpft Grass in fremde Kleider, wechselt Geschlecht und Herkunft, Bildungsgrad und Sprachfarbe. Gemäß seinem Motto, "Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen", berichtet er als Kriegsfreiwilliger vom sogenannten Boxeraufstand in China und als Bauleiter von der "dräuenden Masse" des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Als Frauenrätin von Prenzlauer Berg weist er die Dolchstoß-Legende zurück, als Ilse Lepinski ist er Peter Panter alias Kurt Tucholsky erbötig, in "Walterchens Shimmydiele" Nachhilfestunden im Charleston zu erteilen. Aber die Kostüme der literarischen Strömungen und Moden dieses Jahrhunderts bleiben am Kleiderhaken. Welchen Stil- und Formenreichtum allein der ersten drei Jahrzehnte hätte der Schriftsteller hier aufrufen können: Naturalismus, Expressionismus, die Futuristen, Dada, Neue Sachlichkeit. Nichts von alldem bei Grass. Es gibt Literaten in seinem Jahrhundert, Jünger, Remarque, Brecht und Benn, Else Lasker-Schüler und auch den im Haveleis einbrechenden Heym, aber es gibt keine Literatur. Jedenfalls nicht, wenn ihr Autor nicht Grass heißt.
Die eigenen Bücher, "Die Blechtrommel", "Der Butt", "Zunge zeigen" und "Totes Holz", sind dem Chronisten Einträge wert, und die Episode für das Jahr 1959, als Grass auf der Frankfurter Buchmesse im Schwindel des sich ankündigenden Erfolgs der "Blechtrommel" mit seiner Frau tanzt, gehört zu den eindrücklichsten des Bandes. Auch wenn Grass immer wieder überraschende Perspektiven findet, etwa wenn er eine ehemalige VW-Arbeiterin von "drüben" aus ihren Anspruch auf einen Käfer geltend machen läßt, die gelungensten Vignetten bleiben doch jene aus dem Leben des Autors: die Schelte für den im Westen angekommenen Wolf Biermann, die Abende vor dem Mauerfall in Ost-Berlin mit Hans-Joachim Schädlich und Sarah Kirsch, der Osterausflug des fast Siebzigjährigen mit den drei Töchtern nach Italien.
Schon bevor das Buch erschien, war das Wort von der "Geschichte von unten" gefallen. Es scheint dem Autor, der sich gern als "Spätaufklärer" bezeichnet, zu gefallen. Grass bevorzugt die Perspektive der Hausfrau und des Arbeiters, seine Gewährsleute heißen Hildchen oder Kurtchen, zufällige Zaungäste eines historischen Geschehens. Die Mächtigen sind nahezu unsichtbar, den Intellektuellen gilt nicht die Feindschaft, aber doch unübersehbar das Mißtrauen des Chronisten. Auch hierin, im gespaltenen Verhältnis zur Intelligenz, zeigt sich noch einmal die Tradition, in der diese sozialdemokratische Jahrhundertfibel steht. Es ist die einer paternalistischen Volksaufklärung.
"Mein Jahrhundert" ist ein Buch zum Vorlesen, Rollenprosa, Monologe, aufgeteilt in kleine Häppchen. Jede Seite zeugt von der Lust des Autors an der gesprochenen Sprache. Aber allzuoft ist es die Sprache des Schulfunks. Nicht zufällig bringt der Verlag zwei Ausgaben zugleich auf den Markt, das "Lesebuch", die Schul- und Volksausgabe also, und das "großformatige Buch" für den Liebhaber, ausgestattet mit zahlreichen Aquarellen, Zeichnungen von prangender Symbolik und naiv-kindlichem Gestus, die den Gedanken ans Kinder- und Jugendbuch noch verstärken: Alles ist vermittelt, in beruhigende Distanz gerückt.
Die Masse, die unser Jahrhundert das Fürchten gelehrt hat, kommt bei Grass nicht vor. Er löst sie auf, bis nur noch ihr kleinster Bestandteil zu sehen ist, der einzelne. Indem Grass ihm eine Stimme gibt, verleiht er seinem Jahrhundert ein Gesicht. Es ist das des kleinen Mannes, der noch einmal davongekommen ist. Vielleicht liegt es daran, an all den sympathischen Hildchens, Kurtchens, Walterchens, daß unser Jahrhundert, wenn man es mit den Augen von Günter Grass gesehen hat, auf so beklemmende Weise gemütlich wirkt.
Günter Grass: "Mein Jahrhundert". Lesebuch. Steidl Verlag, Göttingen 1999. 348 S., geb., 48,- DM.
Eine großformatige, mit Aquarellen von Günter Grass ausgestattete Ausgabe kostet 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main