Die Unterstützung älterer, pflegebedürftiger Menschen im häuslichen Bereich wird schon seit vielen Jahren unter anderem durch Frauen aus Osteuropa geleistet. Diese wohnen mit im Haushalt der Pflegebedürftigen und übernehmen dabei neben der hauswirtschaftlichen Versorgung häufig auch pflegerische Tätigkeiten wie Toilettengang, Waschen oder die Verabreichung von Medikamenten. Die unklare und teilweise ungesetzliche Struktur dieser Versorgungsform ist den Verantwortlichen im Pflegesektor bekannt. Trotzdem wird vonseiten verantwortlicher Politiker und Vertreterinnen der Sozialverbände der "Graue Pflegemarkt" billigend in Kauf genommen. Die ungeregelte Normalität dieser Versorgungsform ist jedoch aus ethischem und sozialstaatlichem Verständnis nicht dauerhaft zu akzeptieren. Dieser Problemsituation geht das Buch aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit Blick auf die Alltagspraxis nach.
Gerahmt werden die unterschiedlichen Perspektiven durch Geschichten über einzelne osteuropäische Betreuungskräfte, die von ihren Lebens- und Arbeitssituationen erzählen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Gerahmt werden die unterschiedlichen Perspektiven durch Geschichten über einzelne osteuropäische Betreuungskräfte, die von ihren Lebens- und Arbeitssituationen erzählen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2020Einblicke ins wirkliche Leben
Die Lage osteuropäischer Pflegekräfte in Deutschland
Ihre Namen sind Magda, Dorota, Katia, Maria, Dominika und Renata. Es sind nicht ihre richtigen Namen. Doch jedes Pseudonym steht für eine Geschichte, aufgeschrieben von Barbara Städtler-Mach, der Mitherausgeberin des Bands, dargestellt in jeweils einem eigenen Kapitel. Schon die Aufteilung macht deutlich, dass Städtler-Mach und Helene Ignatzi, die zweite Herausgeberin, hier keinen rein wissenschaftlichen Sammelband vorlegen wollten. Fachaufsatz und persönlicher Bericht wechseln sich stetig ab, hier die Zahlen und die Theorien, da die Geschichten - der Anspruch dieses Bands ist eben auch ein erzählerischer. Es wird denn auch rasch deutlich, warum die Herausgeberinnen, ihres Zeichens Professorinnen an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg, sich für diese Form der Darstellung entschieden haben: Das Sujet ist weit davon entfernt, als überforscht gelten zu können. Und weil so vieles im Verborgenen bleibt, ist es methodisch auch einigermaßen anspruchsvoll, überhaupt zu belastbaren Erkenntnissen zu gelangen.
Die Rede ist von der Situation osteuropäischer Betreuungskräfte, die - meist aus Polen stammend - zu Tausenden in deutschen Haushalten leben und sich, oft rund um die Uhr rufbereit, um Pflegebedürftige kümmern. "Grauer Markt Pflege", so ist der Sammelband betitelt, und das Etikett trifft recht gut, was sich schon seit Jahren im deutschen Gesundheitswesen abspielt. Neben den zwei klassischen Säulen der Versorgung, der sogenannten stationären Altenpflege im Heim und der ambulanten Pflege durch professionelle Hilfsdienste zu Hause, hat sich längst eine dritte Säule etabliert: Helferinnen aus Osteuropa, die den Senioren im Alltag zur Seite stehen und ein Ausmaß an Begleitung leisten, das die gesetzlichen Pflegekassen offenkundig nicht immer abdecken. Fachleute, dies gibt der Band wieder, gehen von 700 000 Osteuropäerinnen aus, die in etwa 250 000 Haushalten arbeiten und den Schätzungen zufolge zu 90 Prozent illegal beschäftigt sind - zu Bedingungen also, die das deutsche Recht aus guten Gründen nicht toleriert. Dieser Umstand erklärt, warum es für Wissenschaftler so schwer ist, die Situation der Arbeiterinnen zu erforschen: Wer keinen offiziellen Status hat, wird kaum bereit sein, einem Wissenschaftler die Umstände der Beschäftigung genau zu skizzieren.
Um dem Leser mehr als nur ein durch wenige Zahlen illustriertes Gefühl für die Rolle der osteuropäischen Helferinnen zu vermitteln, lässt die Mitherausgeberin also sechs Beteiligte selbst zu Wort kommen - und beschreibt sie, ihre Hintergründe, Motivationen und Erfahrungen auf diese Weise genauer, als es eine Auswertung weniger qualitativer Leitfadeninterviews je könnte. Man muss den Band daher weniger daran messen, wie weit er die Wissenschaft voranbringt - das gelingt nämlich nur begrenzt -, sondern am selbstgesteckten Ziel: öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen.
Dass in diesen Wochen mehr als sonst über polnische Pflegehelferinnen öffentlich gesprochen wird, steht außer Frage. Das hat aber weniger etwas mit dem kürzlich erschienenen Band zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Corona-Krise und die damit verbundene vorübergehende Schließung der innereuropäischen Grenzen zwischenzeitlich dazu geführt hat, dass das in Rede stehende Versorgungsmodell zusammenbrach - weil die Helferinnen oft im Schichtbetrieb arbeiten und nach einigen Wochen abgelöst werden und dieser Austausch durch Corona unmöglich geworden ist. Der Band ging auf ein Symposion an der Evangelischen Hochschule Nürnberg zurück, an dessen Anschluss einige Wissenschaftler ein Forschungsnetzwerk gegründet haben.
Dass sich der Band an ein breiteres Publikum richtet als lediglich an einige wenige Soziologen, Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, zeigt auch die Herangehensweise der Fachbeiträge. Die Juristin Christine Haberstumpf-Münchow stellt - einem Einführungsvortrag gleich - die drei gängigen Beschäftigungsmodelle vor: die Entsendung durch eine Agentur, die in der Praxis einige Probleme mit sich bringt, die aufwendig herzustellende Rolle von Angehörigen als regulären Arbeitgebern sowie die Selbständigkeit der Helferin, die in der Praxis jedoch häufig eine Scheinselbständigkeit sei. Die Juristin konstatiert einen rechtlichen Neuregelungsbedarf, da die bestehende Rechtslage für alle Beteiligten "nicht zufriedenstellend" sei.
Wie schwer es ist, sich den Helferinnen mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung zu nähern, zeigt der Beitrag zweier Wissenschaftlerinnen der Katholischen Hochschule Freiburg, Jasmin Kiekert und Nausikaa Schirilla, die Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste befragt haben - diese sind per Gesetz verpflichtet, die zusätzliche Versorgung durch Laienhelferinnen regelmäßig zu überprüfen. Für diesen Aspekt standen den Forscherinnen zehn Leitfadeninterviews zur Verfügung, aus denen zwar hervorging, dass die professionellen Dienste in den Helferinnen meist keine Konkurrenz sehen, aber eben auch nicht allzu viel über sie wissen.
Mit den größten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in dem Band bietet der Aufsatz dreier Wissenschaftler von der Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland sowie der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Arne Petermann, Giorgio Jolly und Katharina Schrader. Sie haben die Daten von 255 befragten Helfern ausgewertet, fast alle waren weiblich, die meisten konnten einigermaßen Deutsch. Die Befragung zeigt die Schlagseiten des Beschäftigungsmodells der sogenannten 24-Stunden-Hilfen: Viele hatten ein hohes Bedürfnis an Autonomie, aber längst nicht alle finden das in ihrem Alltag wieder. Gleichwohl fühlt sich eine Mehrheit fair behandelt. Dies, folgern die Autoren, stehe im Widerspruch zu den Kritikern, die von "menschenunwürdigen Zuständen sprechen und die Arbeitsverhältnisse teils grundsätzlich und undifferenziert als unfair einstufen".
KIM BJÖRN BECKER
Barbara Städtler-Mach/ Helene Ignatzi (Hrsg.): "Grauer Markt Pflege". 24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020. 190 S., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Lage osteuropäischer Pflegekräfte in Deutschland
Ihre Namen sind Magda, Dorota, Katia, Maria, Dominika und Renata. Es sind nicht ihre richtigen Namen. Doch jedes Pseudonym steht für eine Geschichte, aufgeschrieben von Barbara Städtler-Mach, der Mitherausgeberin des Bands, dargestellt in jeweils einem eigenen Kapitel. Schon die Aufteilung macht deutlich, dass Städtler-Mach und Helene Ignatzi, die zweite Herausgeberin, hier keinen rein wissenschaftlichen Sammelband vorlegen wollten. Fachaufsatz und persönlicher Bericht wechseln sich stetig ab, hier die Zahlen und die Theorien, da die Geschichten - der Anspruch dieses Bands ist eben auch ein erzählerischer. Es wird denn auch rasch deutlich, warum die Herausgeberinnen, ihres Zeichens Professorinnen an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg, sich für diese Form der Darstellung entschieden haben: Das Sujet ist weit davon entfernt, als überforscht gelten zu können. Und weil so vieles im Verborgenen bleibt, ist es methodisch auch einigermaßen anspruchsvoll, überhaupt zu belastbaren Erkenntnissen zu gelangen.
Die Rede ist von der Situation osteuropäischer Betreuungskräfte, die - meist aus Polen stammend - zu Tausenden in deutschen Haushalten leben und sich, oft rund um die Uhr rufbereit, um Pflegebedürftige kümmern. "Grauer Markt Pflege", so ist der Sammelband betitelt, und das Etikett trifft recht gut, was sich schon seit Jahren im deutschen Gesundheitswesen abspielt. Neben den zwei klassischen Säulen der Versorgung, der sogenannten stationären Altenpflege im Heim und der ambulanten Pflege durch professionelle Hilfsdienste zu Hause, hat sich längst eine dritte Säule etabliert: Helferinnen aus Osteuropa, die den Senioren im Alltag zur Seite stehen und ein Ausmaß an Begleitung leisten, das die gesetzlichen Pflegekassen offenkundig nicht immer abdecken. Fachleute, dies gibt der Band wieder, gehen von 700 000 Osteuropäerinnen aus, die in etwa 250 000 Haushalten arbeiten und den Schätzungen zufolge zu 90 Prozent illegal beschäftigt sind - zu Bedingungen also, die das deutsche Recht aus guten Gründen nicht toleriert. Dieser Umstand erklärt, warum es für Wissenschaftler so schwer ist, die Situation der Arbeiterinnen zu erforschen: Wer keinen offiziellen Status hat, wird kaum bereit sein, einem Wissenschaftler die Umstände der Beschäftigung genau zu skizzieren.
Um dem Leser mehr als nur ein durch wenige Zahlen illustriertes Gefühl für die Rolle der osteuropäischen Helferinnen zu vermitteln, lässt die Mitherausgeberin also sechs Beteiligte selbst zu Wort kommen - und beschreibt sie, ihre Hintergründe, Motivationen und Erfahrungen auf diese Weise genauer, als es eine Auswertung weniger qualitativer Leitfadeninterviews je könnte. Man muss den Band daher weniger daran messen, wie weit er die Wissenschaft voranbringt - das gelingt nämlich nur begrenzt -, sondern am selbstgesteckten Ziel: öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen.
Dass in diesen Wochen mehr als sonst über polnische Pflegehelferinnen öffentlich gesprochen wird, steht außer Frage. Das hat aber weniger etwas mit dem kürzlich erschienenen Band zu tun, sondern vielmehr damit, dass die Corona-Krise und die damit verbundene vorübergehende Schließung der innereuropäischen Grenzen zwischenzeitlich dazu geführt hat, dass das in Rede stehende Versorgungsmodell zusammenbrach - weil die Helferinnen oft im Schichtbetrieb arbeiten und nach einigen Wochen abgelöst werden und dieser Austausch durch Corona unmöglich geworden ist. Der Band ging auf ein Symposion an der Evangelischen Hochschule Nürnberg zurück, an dessen Anschluss einige Wissenschaftler ein Forschungsnetzwerk gegründet haben.
Dass sich der Band an ein breiteres Publikum richtet als lediglich an einige wenige Soziologen, Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, zeigt auch die Herangehensweise der Fachbeiträge. Die Juristin Christine Haberstumpf-Münchow stellt - einem Einführungsvortrag gleich - die drei gängigen Beschäftigungsmodelle vor: die Entsendung durch eine Agentur, die in der Praxis einige Probleme mit sich bringt, die aufwendig herzustellende Rolle von Angehörigen als regulären Arbeitgebern sowie die Selbständigkeit der Helferin, die in der Praxis jedoch häufig eine Scheinselbständigkeit sei. Die Juristin konstatiert einen rechtlichen Neuregelungsbedarf, da die bestehende Rechtslage für alle Beteiligten "nicht zufriedenstellend" sei.
Wie schwer es ist, sich den Helferinnen mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung zu nähern, zeigt der Beitrag zweier Wissenschaftlerinnen der Katholischen Hochschule Freiburg, Jasmin Kiekert und Nausikaa Schirilla, die Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste befragt haben - diese sind per Gesetz verpflichtet, die zusätzliche Versorgung durch Laienhelferinnen regelmäßig zu überprüfen. Für diesen Aspekt standen den Forscherinnen zehn Leitfadeninterviews zur Verfügung, aus denen zwar hervorging, dass die professionellen Dienste in den Helferinnen meist keine Konkurrenz sehen, aber eben auch nicht allzu viel über sie wissen.
Mit den größten wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in dem Band bietet der Aufsatz dreier Wissenschaftler von der Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland sowie der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Arne Petermann, Giorgio Jolly und Katharina Schrader. Sie haben die Daten von 255 befragten Helfern ausgewertet, fast alle waren weiblich, die meisten konnten einigermaßen Deutsch. Die Befragung zeigt die Schlagseiten des Beschäftigungsmodells der sogenannten 24-Stunden-Hilfen: Viele hatten ein hohes Bedürfnis an Autonomie, aber längst nicht alle finden das in ihrem Alltag wieder. Gleichwohl fühlt sich eine Mehrheit fair behandelt. Dies, folgern die Autoren, stehe im Widerspruch zu den Kritikern, die von "menschenunwürdigen Zuständen sprechen und die Arbeitsverhältnisse teils grundsätzlich und undifferenziert als unfair einstufen".
KIM BJÖRN BECKER
Barbara Städtler-Mach/ Helene Ignatzi (Hrsg.): "Grauer Markt Pflege". 24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020. 190 S., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main