Ray Boy Calabrese wird aus dem Gefangnis entlassen. Wahrend seiner Schulzeit hat er einen Jungen wegen seines Schwulseins gequalt, ihn zusammen mit Freunden geschlagen, getreten, sodass Duncan nur die Flucht blieb und er überfahren wurde. Vor Gericht nannten sie es Hate Crime, ein sexistisch moti viertes Verbrechen. Nun kommt Ray Boy Calabrese aus der Haft frei und will nur noch sterben. Duncans Bruder Conway hat Rache geschworen, lernt schie ßen und trifft nicht. Er ist neunundzwanzig, arbeitet in einem Rite Aid und wohnt bei seinem Vater Pope. Mit Ray Boys Heimkehr in sein altes Viertel reißen die nur leicht übertünchten Risse in der Familie auf, in der er aufgewachsen ist. Wahrend sein Neffe Eugene in ihm ein Idol sieht und bitter enttauscht ist, dass sein Held zu einem gebrochenen Mann geworden ist.William Boyles "Gravesend" geht der Frage nach, inwieweit wir zur Vergebung fahig sind. Andern und uns selbst gegenüber. Denn uns selbst gegenüber sind wir unerbittlich, wenn es umTraume und Hoffnungen geht.
buecher-magazin.deEin Anfang wie aus zahlreichen Krimis: Ein Mann wird aus dem Gefängnis entlassen und draußen warten bereits die Schatten seiner Vergangenheit. In "Gravesend" ist es Ray Boy Calabrese, der 16 Jahre im Gefängnis verbrachte, weil er mit zwei Freunden einen homosexuellen Jungen verprügelte und jagte, sodass der in Panik auf den Belt Parkway rannte und dort überfahren wurde. Nun ist Ray Boy wieder frei - und darauf hat Conway, der Bruder des Opfers, nur gewartet. Dennoch beginnt hier nicht eine typische Rachegeschichte, sondern Boyle ignoriert gängige Muster und nimmt den Anlass, über das Viertel ?Gravesend in Brooklyn zu erzählen. Dorthin ist die 29-jährige Schauspielerin Alessandra zurückgekehrt, nachdem sie in Hollywood keinen Erfolg hatte - und nun befürchten muss, auch sie sei eine Verliererin. Dort lebt Eugene, Teenager und Neffe von Ray Boy, der so gerne so cool wäre wie sein Onkel, dessen Rückkehr er sehnsüchtig erwartet hat. Aber auf Conway und Eugene wartet eine Enttäuschung: Denn Ray Boy sucht keine Vergebung, sondern den Tod. Boyle beweist sehr viel Empathie für seine Figuren, die in ihren Hoffnungen und Wünschen gescheitert sind - und verbindet ihre Schicksale auf beeindruckende Weise, sodass sein Roman von Verbrechen, Schuld und Versäumnissen erzählt.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2018Sie wissen nicht, was sie tun
Der Tod ist überall: William Boyles Debüt "Gravesend"
Gravesend, ein Stadtteil im Süden von Brooklyn, eine ganze Welt entfernt von Manhattan, wenngleich nur eine Fahrt mit der Subway. Als könnte der Name etwas dafür, ist dort der Rand des Grabes erreicht, an dem nur noch der Tod steht. Alles in dieser Geschichte geschieht irgendwann nach 2001, die Band Nirvana klingt in den Ohren, Kurt Cobain ist schon tot, und das Album "Nevermind" gibt den Rhythmus vor. Es ist der totale Defätismus, der die Menschen in William Boyles erstem Roman "Gravesend" bestimmt. Aber warum sie so mutlos und verzweifelt sind, das entzieht sich ihrer Reflexion, es gibt keine wirklichen Gründe für diese Stimmung. Sie ist einfach da, so gewiss wie der Tod.
Daraus macht Boyle eine harte, wilde, melancholische Parabel. Weil er von der Unausweichlichkeit des Schicksals und seinen Verflechtungen erzählt, irritierend kompromisslos und kalt - bis sich so etwas wie Rührung einstellt. Es ist nicht so, dass es keine Schulen gäbe, keine Krankenhäuser, keine wie immer schwierigen Kontakte untereinander, zumal zwischen den aus Italien stammenden Familien in Gravesend, keine funktionsfähige Infrastruktur. Es ist nur so, dass niemand die Katastrophe aufhalten kann.
Da ist Conway d'Innocenzio, Ende zwanzig, Angestellter in einem "Rite Aid", der seinen gebrechlichen Vater versorgt und seinen Bruder Duncan rächen will, es aber nicht schafft: "Conway war schon immer eine Komplettniete gewesen. Ohne Aussichten und feige war eine beschissene Kombination." Denn sein Bruder Duncan, der homosexuell war, wurde von einer Bande um Ray Boy Calabrese auf dem Highway zu Tode gehetzt. Dafür saß Ray Boy sechzehn Jahre im Gefängnis; jetzt ist er nach Gravesend zurückgekehrt.
Da ist Ray Boys halbstarker Neffe Eugene, der schlimm hinkt und bei seiner Mutter aufwächst, der seine Frustration mit Ladendiebstählen wettmacht und mit Aufsässigkeit in der Schule - bis er schließlich abhaut. Er schmiedet den Plan für den Überfall auf eine Pokerrunde in Gravesend, um mit dem erbeuteten Geld nach Nova Scotia zu gelangen, seinem Traumland. Eugenes Rollenmodell sind die "Sopranos", die Kult gewordene amerikanische Fernsehserie über eine italoamerikanische Mafiafamilie, die allerdings in New Jersey angesiedelt war.
Eugene ist nur einer von denen in Gravesend, die der Wirklichkeit abhandengekommen sind - und die sich dennoch nicht aus ihren Fängen befreien können. Die Realität lastet dafür auf der vor sich hin vegetierenden Elterngeneration, der jedoch jede Möglichkeit des Verstehens verschlossen ist.
Da ist die attraktive Alessandra Biagini, auch Ende zwanzig, die nach dem Tod ihrer Mutter aus Los Angeles zurückkehrt zu ihrem Vater, nachdem alle Hoffnungen einer Filmkarriere in Hollywood gescheitert sind. Alessandra trifft in Gravesend ihre Klassenkameradin Stephanie Dirello wieder, vielleicht das bedauernswerteste Geschöpf in Boyles Geschichte. Stephanie sieht nicht schön aus, sie lebt bei ihrer bigotten Mutter, arbeitet im selben Laden wie Conway, in den sie unglücklich verliebt ist. Aber es gibt auch für sie keine Chance, nicht einmal für dieses Paar zweier im Leben Zukurzgekommener.
Die Verstrickung der Handelnden nimmt unweigerlich ihren Lauf: Eugene hat bei seinem Plan auf seinen Onkel Ray Boy gesetzt, den er verherrlicht. Doch auch Ray Boy ist eine gebrochene Existenz. Er hat zwar erkannt, dass er an Duncans Tod schuldig ist, ist aber weder imstande, sein Handeln zu bereuen noch sich selbst zu verzeihen, um sich zu befreien - und vielleicht die anderen mit ihm, die in diesem Milieu verkommen.
",Ich will mich nicht entschuldigen', sagte Ray Boy. ,Mit meiner Erziehung oder diesem Scheiß. Ich war einfach, was weiß ich . . . ich war einfach, wie ich war.'" Ray Boy, der Spitzname ist die Fratze seines Charakters, kann kein Erlöser sein. Er will nur eines - seinen eigenen Tod; dafür wird er sorgen. Während die anderen sich verzweifelt abstrampeln in ihren je eigenen Jammertälern, verfolgt er sein Ziel, ohne Gnade für sich und die anderen. Ray Boy ist eine ungeheuerliche, gefährliche Gestalt.
William Boyle, selbst in der Nachbarschaft von Gravesend aufgewachsen, beschreibt seine Figuren allwissend, eine klassische Erzählhaltung ist das. Der Autor hat Verständnis für diese traurigen Gestalten, denen tatsächlich sogar Tragik zuzuerkennen ist; denn sie wissen nicht, was sie getan haben und tun - und vor allem nicht, warum sie so handeln müssen. "Gravesend" nimmt, großartig berechnend, das Muster der antiken Tragödie auf.
ROSE-MARIA GROPP
William Boyle:
"Gravesend".
Kriminalroman.
Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf.
Polar Verlag, Hamburg 2018. 300 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Tod ist überall: William Boyles Debüt "Gravesend"
Gravesend, ein Stadtteil im Süden von Brooklyn, eine ganze Welt entfernt von Manhattan, wenngleich nur eine Fahrt mit der Subway. Als könnte der Name etwas dafür, ist dort der Rand des Grabes erreicht, an dem nur noch der Tod steht. Alles in dieser Geschichte geschieht irgendwann nach 2001, die Band Nirvana klingt in den Ohren, Kurt Cobain ist schon tot, und das Album "Nevermind" gibt den Rhythmus vor. Es ist der totale Defätismus, der die Menschen in William Boyles erstem Roman "Gravesend" bestimmt. Aber warum sie so mutlos und verzweifelt sind, das entzieht sich ihrer Reflexion, es gibt keine wirklichen Gründe für diese Stimmung. Sie ist einfach da, so gewiss wie der Tod.
Daraus macht Boyle eine harte, wilde, melancholische Parabel. Weil er von der Unausweichlichkeit des Schicksals und seinen Verflechtungen erzählt, irritierend kompromisslos und kalt - bis sich so etwas wie Rührung einstellt. Es ist nicht so, dass es keine Schulen gäbe, keine Krankenhäuser, keine wie immer schwierigen Kontakte untereinander, zumal zwischen den aus Italien stammenden Familien in Gravesend, keine funktionsfähige Infrastruktur. Es ist nur so, dass niemand die Katastrophe aufhalten kann.
Da ist Conway d'Innocenzio, Ende zwanzig, Angestellter in einem "Rite Aid", der seinen gebrechlichen Vater versorgt und seinen Bruder Duncan rächen will, es aber nicht schafft: "Conway war schon immer eine Komplettniete gewesen. Ohne Aussichten und feige war eine beschissene Kombination." Denn sein Bruder Duncan, der homosexuell war, wurde von einer Bande um Ray Boy Calabrese auf dem Highway zu Tode gehetzt. Dafür saß Ray Boy sechzehn Jahre im Gefängnis; jetzt ist er nach Gravesend zurückgekehrt.
Da ist Ray Boys halbstarker Neffe Eugene, der schlimm hinkt und bei seiner Mutter aufwächst, der seine Frustration mit Ladendiebstählen wettmacht und mit Aufsässigkeit in der Schule - bis er schließlich abhaut. Er schmiedet den Plan für den Überfall auf eine Pokerrunde in Gravesend, um mit dem erbeuteten Geld nach Nova Scotia zu gelangen, seinem Traumland. Eugenes Rollenmodell sind die "Sopranos", die Kult gewordene amerikanische Fernsehserie über eine italoamerikanische Mafiafamilie, die allerdings in New Jersey angesiedelt war.
Eugene ist nur einer von denen in Gravesend, die der Wirklichkeit abhandengekommen sind - und die sich dennoch nicht aus ihren Fängen befreien können. Die Realität lastet dafür auf der vor sich hin vegetierenden Elterngeneration, der jedoch jede Möglichkeit des Verstehens verschlossen ist.
Da ist die attraktive Alessandra Biagini, auch Ende zwanzig, die nach dem Tod ihrer Mutter aus Los Angeles zurückkehrt zu ihrem Vater, nachdem alle Hoffnungen einer Filmkarriere in Hollywood gescheitert sind. Alessandra trifft in Gravesend ihre Klassenkameradin Stephanie Dirello wieder, vielleicht das bedauernswerteste Geschöpf in Boyles Geschichte. Stephanie sieht nicht schön aus, sie lebt bei ihrer bigotten Mutter, arbeitet im selben Laden wie Conway, in den sie unglücklich verliebt ist. Aber es gibt auch für sie keine Chance, nicht einmal für dieses Paar zweier im Leben Zukurzgekommener.
Die Verstrickung der Handelnden nimmt unweigerlich ihren Lauf: Eugene hat bei seinem Plan auf seinen Onkel Ray Boy gesetzt, den er verherrlicht. Doch auch Ray Boy ist eine gebrochene Existenz. Er hat zwar erkannt, dass er an Duncans Tod schuldig ist, ist aber weder imstande, sein Handeln zu bereuen noch sich selbst zu verzeihen, um sich zu befreien - und vielleicht die anderen mit ihm, die in diesem Milieu verkommen.
",Ich will mich nicht entschuldigen', sagte Ray Boy. ,Mit meiner Erziehung oder diesem Scheiß. Ich war einfach, was weiß ich . . . ich war einfach, wie ich war.'" Ray Boy, der Spitzname ist die Fratze seines Charakters, kann kein Erlöser sein. Er will nur eines - seinen eigenen Tod; dafür wird er sorgen. Während die anderen sich verzweifelt abstrampeln in ihren je eigenen Jammertälern, verfolgt er sein Ziel, ohne Gnade für sich und die anderen. Ray Boy ist eine ungeheuerliche, gefährliche Gestalt.
William Boyle, selbst in der Nachbarschaft von Gravesend aufgewachsen, beschreibt seine Figuren allwissend, eine klassische Erzählhaltung ist das. Der Autor hat Verständnis für diese traurigen Gestalten, denen tatsächlich sogar Tragik zuzuerkennen ist; denn sie wissen nicht, was sie getan haben und tun - und vor allem nicht, warum sie so handeln müssen. "Gravesend" nimmt, großartig berechnend, das Muster der antiken Tragödie auf.
ROSE-MARIA GROPP
William Boyle:
"Gravesend".
Kriminalroman.
Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf.
Polar Verlag, Hamburg 2018. 300 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der "totale Defätismus" schlägt Rezensentin Rose-Maria Gropp aus William Boyles Krimidebüt "Gravesend" entgegen. Der Roman erzählt von einer Handvoll bedauernswerter Existenzen am Rande Brooklyns, die weder Hoffnung auf ein gutes Leben haben noch eine Vorstellung davon. Der eine ist eine Niete, der andere ein Totschläger, der nächste ohne Bezug zur Realität. Gnadenlose Gestalten erlebt Gropp hier auch, gefährliche. Was als "harte, wilde, melancholische Parabel" beginnt, steigert sich in den Augen der Kritikerin zu einer Tragödie antiken Ausmaßes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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