Grenzen begleiten die Menschheit von Anbeginn. Schon immer galt es, Stammes- und Eigentumsgrenzen zu markieren. Frühe Hochkulturen kannten sprachliche, kulturelle und ethnische Räume, die es zu schützen galt - das ist bis heute so. Alexander Demandt nimmt uns mit auf eine spannende Reise zu den Grenzen der Welt. Ob die Mythen vom Ursprung und Ende der Welt, die biblischen Zeitgrenzen, Schutzgrenzen wie der römische Limes oder die chinesische Mauer, ob sakrale Grenzen der Tempelbezirke, natürliche Grenzen, markiert durch Flüsse, Gebirge und Meere, koloniale Willkürgrenzen oder jahrhundertelang umstrittene Machtgrenzen wie die deutsch-französische - Demandts Reise führt uns von der Antike bis zur Gegenwart, von der Philosophie über die Geografie bis zur Geopolitik.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Johan Schloemannn verneigt sich vor dem historischen und kulturellen Weltwissen des Gelehrten, lässt sich gerne von ihm durch die Zeiten und Geografien (wenngleich auch dankbar für die Karten im Anhang) führen. Grenzen gab es immer, sie sind wichtig, sie änderten sich auch immer, Reiche gingen unter usw. Alles das fasziniert den Kritiker merklich, und die Beobachtung, dass schon die Grenze des Paradieses von Cherubim bewacht war, findet er ebenso köstlich wie die Bestimmung der Grenzen des Wissens, des Alls und der Religionen. Aber dann ist es ihm auch manchmal zu viel und gar nicht gefällt ihm, wie der Historiker die Grenzöffnung durch Angela Merkel beurteilt ("verantwortungslos"). Schließlich lässt er ihm dennoch das letzte Wort angesichts nicht auflösbarer Widersprüche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 21)
Gerhard Matzig
EINE HERAUSFORDERUNG
An „die Weisheit des Alten vom Berge“ fühlt sich die eine Kritik erinnert. Eine andere Rezension vermisst die Aktualität. Herrje. Alexander Demandt ist Mitte achtzig, schon möglich, dass er alt ist. Und ja, er ist Althistoriker und kein Tweet. Trotzdem ist sein Buch voller Weltwissen über das kulturelle und territoriale Wesen der Grenze zwischen Sehnsucht und Schutzversprechen, vom Limes über die chinesische Mauer bis zu Paneuropa, eine einzigartig anregende Grenzerfahrung.
Alexander Demandt: Grenzen. Propyläen Verlag. 656 Seiten, 28 Euro.
EINE HILFE
Wir alle sind Reisende, die nicht reisen können. Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Wie die nächste Welle, die dem Fernweh entgegenbrandet. Der Architekturkritiker Wojciech Czaja hat was gegen die Stubenhockerei erfunden: ein Bilderbuch, das im Vertrauten, also in Wien, das Fremde entdeckt. Also die Welt. Es ist das Buch der Stunde.
Wojciech Czaja: Almost. Edition Korres-pondenzen. 232 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Raider ist Twix und Facebook ist Meta. Die Plattform wird ein digitales Paralleluniversum. Als Avatare machen wir alles darin: shoppen, lieben, sterben. Bitte die Prophezeiung „Snow Crash“ von Neal Stephenson aus dem Jahr 1992 erneut lesen. Durchatmen, Facebook abmelden. Meta ist eine Metastase.
Neal Stephenson: Snow Crash. Fischer Tor. 576 Seiten, 16,99 Euro.
Egbert Tholl
EIN GROSSER SPASS
Vielleicht ist „Spaß“ das falsche Wort, aber eine große Freude war es schon, als The Notwist in diesem Jahr nach sechs Jahren wieder ein Studioalbum herausbrachten. „Vertigo Days“ ist so vielschichtig wie zugänglich, ganz viele Gäste machen mit, und das Ergebnis wirkt, als hänge man in seinem Zuhause eine Kette bunter Lampions auf. Die schaukeln dann sanft vor sich hin, und während man ihnen zuschaut, wird man leicht und froh.
The Notwist: Vertigo Days. Morr Music.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses Leben kann man nicht erfinden, man muss es gelebt haben. Leopold Tyrmand wurde 1920 in eine assimilierte jüdische Familie in Warschau hineingeboren, ging 1939 in den Widerstand nach Wilna, geriet in sowjetische Gefangenschaft, floh, besorgte sich einen französischen Pass und meldete sich – im Auge des Sturms ist es am sichersten – zum „Arbeitseinsatz im Reich“. 1943 wurde er Kellner im Parkhotel in Frankfurt am Main, und diese Zeit schrieb Tyrmand auf, in seinem herrlichen Roman „Filip“, 60 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Filip, der vermeintliche Franzose, haut die Nazibonzen übers Ohr, handelt mit Lebensmittelmarken, bezirzt mit ganz viel tiefem Herzeleid die Fräuleins, strotzt vor Überlebenswillen. Filip liebt Jazz – nach dem Krieg gründete Tyrmand den ersten Jazzclub Polens. Kein Buch beschreibt Deutschland im Krieg so wie dieses, ein Aberwitz, rasant, grandios.
Leopold Tyrmand: Filip. Frankfurter
Verlagsanstalt. 632 Seiten, 24 Euro.
Christine Dössel
EIN LIEBESBEWEIS
Klaus Pohl war dabei, als Peter Zadek 1999 „Hamlet“ inszenierte. Er spielte den Horatio und schrieb mit, was sich während der turbulenten Proben ereignete. Saufgelage, Wutausbrüche, Eitelkeiten. Angela Winklers Fluchtversuche vor der übergroßen Titelrolle; Zadeks Anstrengungen, sie zurückzuholen. Ein Buch des real gelebten Theaterwahnsinns, vor allem aber: der Theaterliebe. Eine Hommage auch an die Kollegen (viele davon tot). In der heimlichen Hauptrolle: der süffisante Ulrich Wildgruber, besetzt als Polonius – es war seine letzte Rolle vor seinem Freitod noch im selben Jahr. Pure Lesefreude. Und wehes Leseglück.
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Galiani. 286 Seiten, 23 Euro. Und als ungekürzte Autorenlesung auf CD.
EINE HERAUSFORDERUNG
Etwas für Theater-Nerds und Fans der Berliner Volksbühne – zumindest jener Ära, als Frank Castorf dort Intendant und Carl Hegemann Dramaturg und Begleitwortmusiker war: eine Sammlung von Hegemann-Texten (Essays, Nachrufe, Kommentare, Gespräche) aus den letzten 15 Jahren, die weit über das Theater hinausführen zu einer „Dramaturgie des Daseins“. Es geht um Schiller und Hölderlin, Wagner und Schlingensief, Marx und Materialismus, aber auch um Genuss, Liebe und Tod. Hegemann ist ein geistiger Lebemann.
Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Alexander Verlag. 445 Seiten, 33 Euro.
Martina Knoben
EINE HERAUSFORDERUNG
Einen „grafischen Essay“ nennt Anke Feuchtenberger ihr großformatiges Heft „Der Spalt“. Eine Erzählung in Bildern, in der Form eines Briefs an ihr „Kindeskind“, über das Leben als Frau, Mutter und Großmutter, in Corona-Zeiten, mit einem Hund. In ihren Kohlezeichnungen wurde das Licht buchstäblich freigekratzt. Das Werk einer großen Malerin. Anke Feuchtenberger: Der Spalt. Villa Stuck. 36 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Mit „Asterix und der Greif“ hat sich Didier Conrad endgültig vom Asterix-Übervater Albert Uderzo emanzipiert. Er bleibt dessen Stil treu, aber mit starker eigener Handschrift. Conrads Zeichnungen sind actionreicher, die Porträts realistischer. Und die Schneelandschaften im neuem Band ohnehin ein großer Genuss. Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif. Egmont Ehapa. 48 Seiten, 6,90 Euro / geb. 12 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„… und plötzlich standen wir auf einem Gipfel von der Größe eines Küchentisches und klammerten uns an die aus dem Schnee ragenden Eisenstangen des Gipfelkreuzes, starr vor Angst und begeistert zugleich“. Warum Menschen auf Berge steigen, obwohl es anstrengend, öde, manchmal lebensgefährlich und fast immer vollkommen nutzlos ist, lässt sich in „Berge im Kopf“, einem Klassiker des Nature Writing von Robert Macfarlane, nachlesen.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Matthes & Seitz. 318 Seiten, 34 Euro.
Claudia Tieschky
EIN GROSSER SPASS
Manches am Sound der französischen Band La Femme erinnert an die Coolness der Zeit, als Element of Crime noch englisch sangen; dazu mischen sie kreuz und quer quietschbunte France-Gall-Aufgedrehtheit, Synthesizer, Trompeten, ungesüßte Texte. Verleitet eindeutig zu Bewegung.
La Femme: Paradigmes. Disque Pointu.
EINE HERAUSFORDERUNG
Adelheid Duvanel starb in einer Julinacht 1996 durch Unterkühlung im Wald bei Basel im Alter von sechzig Jahren. In ihrem Leben war sie von absurd vielen Katastrophen heimgesucht worden, als Teenager landete sie in der Psychiatrie, sie führte eine Ehe mit einem Maler, für den sie das eigene Malen aufgab, ihr Kind wurde drogenabhängig und aidskrank. Was sie hinterlassen hat, ist ein absolut makelloses eigenständiges Universum aus kurzen Texten: Mit präziser Sprache gemalte Szenen, heiter und manchmal ironisch erzählt, die still eskalieren, bis sich überwältigende Weltverlorenheit auftut. Das müsste abstoßen, weil man ja merkt, dass hier nichts mehr lovely wird. Aber immer überwiegt das faszinierend Unerwartete in den Geschichten der beunruhigenden Erzählerin Adelheid Duvanel, und man kann nicht genug davon bekommen. Jetzt liegen alle ihre Erzählungen in einem Band vor. Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat Verlag. 792 Seiten, 39 Euro.
Marie Schmidt
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Sechzehnjährige, ihre nur um genau 16 Jahre ältere Mutter, Konkurrenz, Liebe, Ablösung, das ganze ödipale Drama – oder wie man das nennt, wenn Männer und Väter nur als nette, hilflose Randfiguren mitspielen. Dazu die in einer schwarzen Familie aus Brooklyn auch materiell schmerzhafte Frage: Was haben wir eigentlich zu vererben? Jacqueline Woodsons „Alles glänzt“ ist ein Roman, hart wie ein Diamant, rhythmisch, berührend, nicht aus dem Kopf zu kriegen. Jacqueline Woodson: Alles glänzt. Piper. 208 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Man kann die Bücher des britischen Psychoanalytikers Adam Phillips schon auch als Ratgeber lesen. Vor allem hat er aber die ganze Weltliteratur im Rücken. Im deutschen Sprachraum gibt es eine Essayistik wie seine nicht. Dieses Jahr hat er ein Bändchen herausgebracht über ein gerade jetzt persönlich und politisch heikles Projekt: „On Wanting to Change“. Kann man sich (oder andere) überhaupt ändern? Will man? Die Fortsetzung heißt „On Getting Better“. Fürs nächste Jahr. Adam Phillips: On Wanting to Change. On Getting Better. Penguin. 160/176 S., 7,98/6,99 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Zeile des Jahres: „How you lemonade all your sadness when you openin’ up?“ So die Rapperin Noname aus Chicago über das Gefühl beim Nachrichtenlesen. Optimistisch bleiben: schwierig. Wir bleiben dran. Noname: Rainforest. Single. Noname Publishing.
Kurt Kister
EIN GROSSER SPASS
Was Camilleris Commissario Montalbano für Sizilien ist, ist Hauptkommissar Kostas Charitos für die Athener Mordkommission. Sein Schöpfer Petros Markaris schreibt hinreißend. Mit jedem neuen Charitos-Roman versteht man das heutige Griechenland besser. Im jüngsten Fall geht es um einen toten, reichen Saudi, um linke Protestierer und um das Geld der anderen.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Diogenes Verlag. 310 Seiten, 24 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Pianist Igor Levit macht keine halben Sachen. Sein jüngstes Werk, ambitioniert, geglückt: Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson. Schostakowitsch ist sowieso heilig; Stevenson fast der helle Wahnsinn. Dreieinhalb Stunden großartigste Klaviermusik. Igor Levit: On DSCH. 3 CDs. Sony Classical.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dann Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ lesen. Jetzt gibt es noch eines, neu übersetzt. Es ist auch von Grossman und heißt „Stalingrad“. Der Name sagt alles, und das Buch sagt auf sehr vielen Seiten, manchmal pathetisch, warum diese Schlacht auf ewig mehr sein wird als nur Geschichte. 1952 ist „Stalingrad“ sehr zensiert auf Russisch erschienen; 70 Jahre später gibt es das rekonstruierte Meisterwerk auf Deutsch. Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen Verlag. 1280 Seiten, 35 Euro.
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Die Ausstellung ist mittlerweile von Aachen nach London fortgezogen, aber den Katalog gibt es noch, „Dürer war hier“, ein Pracht- und Monumentalband, der die Reise des Malers 1520/21 in die Niederlande dokumentiert. Dürer wird gefeiert, aber er ist auf der Arbeit, malt, zeichnet, schreibt und sammelt Gesichter, Haare, Mützen, Gewandfalten für die Ewigkeit. Peter van den Brink: Dürer war hier. Michael Imhof Verlag. 680 Seiten, 49,95 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Peter Jackson („Der Herr der Ringe“), hat 60 Stunden Filmmaterial der
Beatles von 1969 gesichtet und zu einer Dokumentation geschnitten. Nach 52 Jahren sind sie wieder da, unfassbar jung. Sie albern herum, zanken sich, machen begeistert Musik, obwohl es die letzten Aufnahmen sind, die vor der Trennung entstehen. Hier sind die vier wieder zusammen, die Götter des 20. Jahrhunderts. Für alle Menschen reinen Herzens: ein Geschenk.
The Beatles. Get Back. Regie: Peter Jackson. Drei Folgen, insgesamt sechs Stunden. Disney+.
Catrin Lorch
EINE HILFE
Kai Althoff gehört zu den bedeutendsten Malern überhaupt. Dass er immer noch nur in der Szene wirklich berühmt ist, wird sich so lange nicht ändern, wie er seine Gemälde und Zeichnungen in seltenen komplizierten Ausstellungsinstallationen mehr versteckt denn herzeigt. So ein Projekt war „Kai Althoff goes with Bernard Leach“ in der Londoner Whitechapel Gallery. Wobei diese Schau nicht nur zur Retrospektive gereicht hätte, sondern auch zum Trost im ersten Corona-Winter – wäre sie nicht im Lockdown verschwunden. Es ist zu hoffen, dass sich eine weitere Station findet, zum Glück ist gerade der elegante, in kupferrosa Leinen gebundene großformatige Katalog erschienen.
Kai Althoff Goes With Bernard Leach: With Forms and Templates for Effective Practice. Whitechapel Gallery. 100 Seiten, 70,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dass die amerikanische Musikerin Alice Coltrane mit einem neuen Glauben auch eine neue Musikrichtung annahm – nämlich den spirituellen Jazz –, wurde lange eher belächelt. Nun hat ihr Sohn Ravi eine Aufnahme wiederentdeckt, bei der sie in Sanskrit singt und sich selbst an der Wurlitzer-Orgel begleitet. Weswegen „Turiya Sings“ so einsam, so heilend und so eigenartig klingt, dass man am liebsten mitsummen würde, auf Sanskrit.
Alice Coltrane: Kirtan: Turiya Sings. Impulse!/Universal.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gerhard Matzig
EINE HERAUSFORDERUNG
An „die Weisheit des Alten vom Berge“ fühlt sich die eine Kritik erinnert. Eine andere Rezension vermisst die Aktualität. Herrje. Alexander Demandt ist Mitte achtzig, schon möglich, dass er alt ist. Und ja, er ist Althistoriker und kein Tweet. Trotzdem ist sein Buch voller Weltwissen über das kulturelle und territoriale Wesen der Grenze zwischen Sehnsucht und Schutzversprechen, vom Limes über die chinesische Mauer bis zu Paneuropa, eine einzigartig anregende Grenzerfahrung.
Alexander Demandt: Grenzen. Propyläen Verlag. 656 Seiten, 28 Euro.
EINE HILFE
Wir alle sind Reisende, die nicht reisen können. Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Wie die nächste Welle, die dem Fernweh entgegenbrandet. Der Architekturkritiker Wojciech Czaja hat was gegen die Stubenhockerei erfunden: ein Bilderbuch, das im Vertrauten, also in Wien, das Fremde entdeckt. Also die Welt. Es ist das Buch der Stunde.
Wojciech Czaja: Almost. Edition Korres-pondenzen. 232 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Raider ist Twix und Facebook ist Meta. Die Plattform wird ein digitales Paralleluniversum. Als Avatare machen wir alles darin: shoppen, lieben, sterben. Bitte die Prophezeiung „Snow Crash“ von Neal Stephenson aus dem Jahr 1992 erneut lesen. Durchatmen, Facebook abmelden. Meta ist eine Metastase.
Neal Stephenson: Snow Crash. Fischer Tor. 576 Seiten, 16,99 Euro.
Egbert Tholl
EIN GROSSER SPASS
Vielleicht ist „Spaß“ das falsche Wort, aber eine große Freude war es schon, als The Notwist in diesem Jahr nach sechs Jahren wieder ein Studioalbum herausbrachten. „Vertigo Days“ ist so vielschichtig wie zugänglich, ganz viele Gäste machen mit, und das Ergebnis wirkt, als hänge man in seinem Zuhause eine Kette bunter Lampions auf. Die schaukeln dann sanft vor sich hin, und während man ihnen zuschaut, wird man leicht und froh.
The Notwist: Vertigo Days. Morr Music.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses Leben kann man nicht erfinden, man muss es gelebt haben. Leopold Tyrmand wurde 1920 in eine assimilierte jüdische Familie in Warschau hineingeboren, ging 1939 in den Widerstand nach Wilna, geriet in sowjetische Gefangenschaft, floh, besorgte sich einen französischen Pass und meldete sich – im Auge des Sturms ist es am sichersten – zum „Arbeitseinsatz im Reich“. 1943 wurde er Kellner im Parkhotel in Frankfurt am Main, und diese Zeit schrieb Tyrmand auf, in seinem herrlichen Roman „Filip“, 60 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Filip, der vermeintliche Franzose, haut die Nazibonzen übers Ohr, handelt mit Lebensmittelmarken, bezirzt mit ganz viel tiefem Herzeleid die Fräuleins, strotzt vor Überlebenswillen. Filip liebt Jazz – nach dem Krieg gründete Tyrmand den ersten Jazzclub Polens. Kein Buch beschreibt Deutschland im Krieg so wie dieses, ein Aberwitz, rasant, grandios.
Leopold Tyrmand: Filip. Frankfurter
Verlagsanstalt. 632 Seiten, 24 Euro.
Christine Dössel
EIN LIEBESBEWEIS
Klaus Pohl war dabei, als Peter Zadek 1999 „Hamlet“ inszenierte. Er spielte den Horatio und schrieb mit, was sich während der turbulenten Proben ereignete. Saufgelage, Wutausbrüche, Eitelkeiten. Angela Winklers Fluchtversuche vor der übergroßen Titelrolle; Zadeks Anstrengungen, sie zurückzuholen. Ein Buch des real gelebten Theaterwahnsinns, vor allem aber: der Theaterliebe. Eine Hommage auch an die Kollegen (viele davon tot). In der heimlichen Hauptrolle: der süffisante Ulrich Wildgruber, besetzt als Polonius – es war seine letzte Rolle vor seinem Freitod noch im selben Jahr. Pure Lesefreude. Und wehes Leseglück.
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Galiani. 286 Seiten, 23 Euro. Und als ungekürzte Autorenlesung auf CD.
EINE HERAUSFORDERUNG
Etwas für Theater-Nerds und Fans der Berliner Volksbühne – zumindest jener Ära, als Frank Castorf dort Intendant und Carl Hegemann Dramaturg und Begleitwortmusiker war: eine Sammlung von Hegemann-Texten (Essays, Nachrufe, Kommentare, Gespräche) aus den letzten 15 Jahren, die weit über das Theater hinausführen zu einer „Dramaturgie des Daseins“. Es geht um Schiller und Hölderlin, Wagner und Schlingensief, Marx und Materialismus, aber auch um Genuss, Liebe und Tod. Hegemann ist ein geistiger Lebemann.
Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Alexander Verlag. 445 Seiten, 33 Euro.
Martina Knoben
EINE HERAUSFORDERUNG
Einen „grafischen Essay“ nennt Anke Feuchtenberger ihr großformatiges Heft „Der Spalt“. Eine Erzählung in Bildern, in der Form eines Briefs an ihr „Kindeskind“, über das Leben als Frau, Mutter und Großmutter, in Corona-Zeiten, mit einem Hund. In ihren Kohlezeichnungen wurde das Licht buchstäblich freigekratzt. Das Werk einer großen Malerin. Anke Feuchtenberger: Der Spalt. Villa Stuck. 36 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Mit „Asterix und der Greif“ hat sich Didier Conrad endgültig vom Asterix-Übervater Albert Uderzo emanzipiert. Er bleibt dessen Stil treu, aber mit starker eigener Handschrift. Conrads Zeichnungen sind actionreicher, die Porträts realistischer. Und die Schneelandschaften im neuem Band ohnehin ein großer Genuss. Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif. Egmont Ehapa. 48 Seiten, 6,90 Euro / geb. 12 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„… und plötzlich standen wir auf einem Gipfel von der Größe eines Küchentisches und klammerten uns an die aus dem Schnee ragenden Eisenstangen des Gipfelkreuzes, starr vor Angst und begeistert zugleich“. Warum Menschen auf Berge steigen, obwohl es anstrengend, öde, manchmal lebensgefährlich und fast immer vollkommen nutzlos ist, lässt sich in „Berge im Kopf“, einem Klassiker des Nature Writing von Robert Macfarlane, nachlesen.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Matthes & Seitz. 318 Seiten, 34 Euro.
Claudia Tieschky
EIN GROSSER SPASS
Manches am Sound der französischen Band La Femme erinnert an die Coolness der Zeit, als Element of Crime noch englisch sangen; dazu mischen sie kreuz und quer quietschbunte France-Gall-Aufgedrehtheit, Synthesizer, Trompeten, ungesüßte Texte. Verleitet eindeutig zu Bewegung.
La Femme: Paradigmes. Disque Pointu.
EINE HERAUSFORDERUNG
Adelheid Duvanel starb in einer Julinacht 1996 durch Unterkühlung im Wald bei Basel im Alter von sechzig Jahren. In ihrem Leben war sie von absurd vielen Katastrophen heimgesucht worden, als Teenager landete sie in der Psychiatrie, sie führte eine Ehe mit einem Maler, für den sie das eigene Malen aufgab, ihr Kind wurde drogenabhängig und aidskrank. Was sie hinterlassen hat, ist ein absolut makelloses eigenständiges Universum aus kurzen Texten: Mit präziser Sprache gemalte Szenen, heiter und manchmal ironisch erzählt, die still eskalieren, bis sich überwältigende Weltverlorenheit auftut. Das müsste abstoßen, weil man ja merkt, dass hier nichts mehr lovely wird. Aber immer überwiegt das faszinierend Unerwartete in den Geschichten der beunruhigenden Erzählerin Adelheid Duvanel, und man kann nicht genug davon bekommen. Jetzt liegen alle ihre Erzählungen in einem Band vor. Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat Verlag. 792 Seiten, 39 Euro.
Marie Schmidt
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Sechzehnjährige, ihre nur um genau 16 Jahre ältere Mutter, Konkurrenz, Liebe, Ablösung, das ganze ödipale Drama – oder wie man das nennt, wenn Männer und Väter nur als nette, hilflose Randfiguren mitspielen. Dazu die in einer schwarzen Familie aus Brooklyn auch materiell schmerzhafte Frage: Was haben wir eigentlich zu vererben? Jacqueline Woodsons „Alles glänzt“ ist ein Roman, hart wie ein Diamant, rhythmisch, berührend, nicht aus dem Kopf zu kriegen. Jacqueline Woodson: Alles glänzt. Piper. 208 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Man kann die Bücher des britischen Psychoanalytikers Adam Phillips schon auch als Ratgeber lesen. Vor allem hat er aber die ganze Weltliteratur im Rücken. Im deutschen Sprachraum gibt es eine Essayistik wie seine nicht. Dieses Jahr hat er ein Bändchen herausgebracht über ein gerade jetzt persönlich und politisch heikles Projekt: „On Wanting to Change“. Kann man sich (oder andere) überhaupt ändern? Will man? Die Fortsetzung heißt „On Getting Better“. Fürs nächste Jahr. Adam Phillips: On Wanting to Change. On Getting Better. Penguin. 160/176 S., 7,98/6,99 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Zeile des Jahres: „How you lemonade all your sadness when you openin’ up?“ So die Rapperin Noname aus Chicago über das Gefühl beim Nachrichtenlesen. Optimistisch bleiben: schwierig. Wir bleiben dran. Noname: Rainforest. Single. Noname Publishing.
Kurt Kister
EIN GROSSER SPASS
Was Camilleris Commissario Montalbano für Sizilien ist, ist Hauptkommissar Kostas Charitos für die Athener Mordkommission. Sein Schöpfer Petros Markaris schreibt hinreißend. Mit jedem neuen Charitos-Roman versteht man das heutige Griechenland besser. Im jüngsten Fall geht es um einen toten, reichen Saudi, um linke Protestierer und um das Geld der anderen.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Diogenes Verlag. 310 Seiten, 24 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Pianist Igor Levit macht keine halben Sachen. Sein jüngstes Werk, ambitioniert, geglückt: Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson. Schostakowitsch ist sowieso heilig; Stevenson fast der helle Wahnsinn. Dreieinhalb Stunden großartigste Klaviermusik. Igor Levit: On DSCH. 3 CDs. Sony Classical.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dann Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ lesen. Jetzt gibt es noch eines, neu übersetzt. Es ist auch von Grossman und heißt „Stalingrad“. Der Name sagt alles, und das Buch sagt auf sehr vielen Seiten, manchmal pathetisch, warum diese Schlacht auf ewig mehr sein wird als nur Geschichte. 1952 ist „Stalingrad“ sehr zensiert auf Russisch erschienen; 70 Jahre später gibt es das rekonstruierte Meisterwerk auf Deutsch. Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen Verlag. 1280 Seiten, 35 Euro.
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Die Ausstellung ist mittlerweile von Aachen nach London fortgezogen, aber den Katalog gibt es noch, „Dürer war hier“, ein Pracht- und Monumentalband, der die Reise des Malers 1520/21 in die Niederlande dokumentiert. Dürer wird gefeiert, aber er ist auf der Arbeit, malt, zeichnet, schreibt und sammelt Gesichter, Haare, Mützen, Gewandfalten für die Ewigkeit. Peter van den Brink: Dürer war hier. Michael Imhof Verlag. 680 Seiten, 49,95 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Peter Jackson („Der Herr der Ringe“), hat 60 Stunden Filmmaterial der
Beatles von 1969 gesichtet und zu einer Dokumentation geschnitten. Nach 52 Jahren sind sie wieder da, unfassbar jung. Sie albern herum, zanken sich, machen begeistert Musik, obwohl es die letzten Aufnahmen sind, die vor der Trennung entstehen. Hier sind die vier wieder zusammen, die Götter des 20. Jahrhunderts. Für alle Menschen reinen Herzens: ein Geschenk.
The Beatles. Get Back. Regie: Peter Jackson. Drei Folgen, insgesamt sechs Stunden. Disney+.
Catrin Lorch
EINE HILFE
Kai Althoff gehört zu den bedeutendsten Malern überhaupt. Dass er immer noch nur in der Szene wirklich berühmt ist, wird sich so lange nicht ändern, wie er seine Gemälde und Zeichnungen in seltenen komplizierten Ausstellungsinstallationen mehr versteckt denn herzeigt. So ein Projekt war „Kai Althoff goes with Bernard Leach“ in der Londoner Whitechapel Gallery. Wobei diese Schau nicht nur zur Retrospektive gereicht hätte, sondern auch zum Trost im ersten Corona-Winter – wäre sie nicht im Lockdown verschwunden. Es ist zu hoffen, dass sich eine weitere Station findet, zum Glück ist gerade der elegante, in kupferrosa Leinen gebundene großformatige Katalog erschienen.
Kai Althoff Goes With Bernard Leach: With Forms and Templates for Effective Practice. Whitechapel Gallery. 100 Seiten, 70,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dass die amerikanische Musikerin Alice Coltrane mit einem neuen Glauben auch eine neue Musikrichtung annahm – nämlich den spirituellen Jazz –, wurde lange eher belächelt. Nun hat ihr Sohn Ravi eine Aufnahme wiederentdeckt, bei der sie in Sanskrit singt und sich selbst an der Wurlitzer-Orgel begleitet. Weswegen „Turiya Sings“ so einsam, so heilend und so eigenartig klingt, dass man am liebsten mitsummen würde, auf Sanskrit.
Alice Coltrane: Kirtan: Turiya Sings. Impulse!/Universal.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2020Unterschiedenes ist gut
Reiches Wissen, Common Sense und auch Sarkasmen: Alexander Demandt nimmt sich Grenzen aller Art vor
"Buntschriftsteller" werden antike Autoren genannt, die allerlei Wissenswertes zusammentrugen, um es zwecks Instruktion und Unterhaltung auszubreiten. Einer komponierte etwa in langen "Attischen Nächten" eine Art fortlaufendes Lektüreprotokoll, scheinbar zufällig, wie ihm Wissenswertes und Kurioses gerade unterkamen, auf dass seine Kinder "in den Freistunden, wenn sie sich von ihren Arbeiten geistig ausruhen und ihrem eigenen Vergnügen nachhängen können, auch sofort eine angemessene Erholungslektüre vorfinden sollten". Soziale Überlegenheit manifestierte sich bereits hier in Bildung, freilich kombiniert mit einem Habitus des Unangestrengten.
Auch Alexander Demandt breitet in seinen Büchern Schätze eines stupenden Gedächtnisses und prall mit Fakten, Erklärungen, Geschichten gefüllter Zettelkästen aus, angereichert durch Selbsterlebtes aus Tagebüchern, Briefen und Erinnertem. Listig bringt er damit zwei einst selbstverständliche Säulen der Orientierung in der Welt zu Ehren: Wissen und Arbeit. Dabei pflegt er eine additive Ordnung: Der Stoff wird nach verschiedenen Achsen sortiert und dann wie Perlen auf Schnüre gezogen. Diese Bildung ist Instrument bürgerlicher Weltbewältigung.
Nach der Zeit (F.A.Z. vom 10. Oktober 2015) hat sich Demandt nun in dieser Manier die Grenzen vorgenommen - abermals einen wahrhaft universalen Gegenstand! Ausführlich bestimmt er zunächst Grenze als Grundkategorie menschlicher wie sozialer Existenz, im Raum, in der Zeit, im Kosmos und in der sachlichen Systematik von Feldern wie Politik, Recht oder Wirtschaft. Wer Grenzen für obsolet, ja böse hält, sieht sich belehrt: Alle Erscheinungen gewinnen Individualität und Identität erst durch Abgrenzung; jeder Gegenstand, den wir erkennen, zeigt sich in seinen Konturen, erst Begrenzung ermöglicht, zu unterscheiden und damit Formen und Gestalten zu erkennen. Der Autor erinnert an elementare erkenntnistheoretische Tatsachen, die auch in aktuellen Diskurskämpfen zur Geltung kommen: Wem Grenzen zwischen Staaten oder Geschlechtern als hinderlich, gar schädlich erscheinen, wird sich zugleich mit Verve gegen "rechts" abschotten. Grenzen und Grenzvorstellungen sedimentieren oder sind veränderlich; für beide Phänomene bietet das Buch Hekatomben von Beispielen. Ein listiger Trost, denn angesichts der schier unendlichen Fülle des hier über das Thema durch die Jahrtausende Gewussten werden die Abgrenzungskonflikte des Tages zu Wimpernschlägen. Argumente, um bestimmte Scheidungen festzuschreiben, finden sich hier eher nicht, dafür anthropologische Gemeinplätze: Der Mensch vertrage weder die generelle Entgrenzung noch die universelle Eingrenzung.
Die chronologische Darstellung folgt den üblichen Großepochen, wobei der Alte Orient (China eingeschlossen), die Griechen und die Römer breiten Raum erhalten, während "Germanen und Mittelalter" eher knapp abgemacht werden. Das lange Kapitel zur Neuzeit ist nach Großregionen gegliedert und behandelt vorwiegend die Staatengrenzen. Ergänzend treten in gleicher Anlage gut sechzig Seiten über Kriegs- und Nachkriegszeit hinzu - die Einteilung spiegelt die Generationenerfahrung des 1937 geborenen Verfassers.
Den Duktus des Buches mag als Beispiel der Absatz über die Landenge von Perekop zwischen der Ukraine und der Krim erhellen. Diese werde im Osten durch ein Sumpfgebiet gesperrt, im Westen gebe es seit alters einen Grenzgraben, daher der griechische Stadtname Taphros. Die Tabula Peutingeriana notiere: "Graben gemacht durch die Sklaven der Skythen." Dieser wurde dann "im 15. Jahrhundert vom Khan der Krimtataren auf der Südseite durch eine Mauer verstärkt, die von den Russen bis zur Annexion der zuvor türkischen Krim 1783 mehrfach genommen wurde. 1944 deportierte Stalin die Krimtataren und ersetzte sie durch Russen. Die Krimrussen gehörten seit 1954 zur Ukraine, bis sie sich 2014 durch ,unzulässigen' Volksentscheid an Rußland anschlossen." Um die Krim wiederum gegen die Ukraine abzuschließen, "zog Rußland 2018 in alter Tradition einen 60 Kilometer langen Zaun über den Hals der Halbinsel. Eine zweite Geländegrenze schützte die Landzunge, die sich von Theodosia ostwärts nach Pantikapaion-Kertsch erstreckt. Hier baute um 40 v. Chr. der bosporanische König Asandros gegen die Krimskythen eine Nord-Süd-Mauer vom Asowschen zum Schwarzen Meer, verstärkt durch zehn Türme im Abstand eines Stadions zu 180 Metern."
Merkformeln und Aphorismen sollen wohl Orientierung im Meer der Fakten bieten. Beispiele von religiös oder ideologisch geprägten Grenzregimen etwa werden mit der Bemerkung beschlossen, muslimischer Fundamentalismus und westlicher Liberalismus wechselten im Nahen Osten "mit den Generationen. Mal so, mal anders. Optimisten deuten das als Übergangserscheinung, Realisten als orientalische Normalität." Als Weisheit eines Alten vom Berge mag das durchgehen. Eine Seite weiter sieht sich der Leser ebenso reizend wie erhellend über die Funktion des Rahmens für ein Gemälde belehrt. Und "schmuckvoll gestaltete Kragen sind Amts- und Rangabzeichen für Richter, Pfarrer und Offiziere, nobilitieren den Kopf".
Sucht man in dieser Ausschüttung nützlichen Wissens - kaum eine Buchseite bietet weniger als zwanzig distinkte Informationen - einen roten Faden, so wäre dies wohl ein robuster Common Sense, gepaart mit mancherlei Sarkasmen. Vor Jahrzehnten hat Demandt einen schönen Aufsatz über Politik in den Fabeln Aesops publiziert, und sein Bild des Verhältnisses von Macht und Recht bewegt sich in der Fluchtlinie der resignierten Klugheit der Schwachen in diesen Texten. Besonders das Völkerrecht und die UN nimmt er gern aufs Korn, seien doch die Resolutionen und Charten letzterer, "um mit Mao zu sprechen - Papiertiger". Recht erwachse aus der Angst vor dem Unrecht, das ein Schwacher fürchten, ein Starker nicht scheuen müsse, so der Prophet Habakuk und der Dichter Horaz. Lehnte nicht Romulus feste Landesgrenzen ab, weil sie einen dynamischen Staat entweder fesselten oder ins Unrecht setzten? Erst sein Nachfolger Numa, so erfahren wir via Demandt von Plutarch, fixierte Staatsgrenzen und erkannte damit fremdes Recht an. Rom jedoch haben Grenzen auch danach nie an der Expansion gehindert.
UWE WALTER
Alexander Demandt: "Grenzen". Geschichte und Gegenwart.
Propyläen Verlag, Berlin 2020. 656 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiches Wissen, Common Sense und auch Sarkasmen: Alexander Demandt nimmt sich Grenzen aller Art vor
"Buntschriftsteller" werden antike Autoren genannt, die allerlei Wissenswertes zusammentrugen, um es zwecks Instruktion und Unterhaltung auszubreiten. Einer komponierte etwa in langen "Attischen Nächten" eine Art fortlaufendes Lektüreprotokoll, scheinbar zufällig, wie ihm Wissenswertes und Kurioses gerade unterkamen, auf dass seine Kinder "in den Freistunden, wenn sie sich von ihren Arbeiten geistig ausruhen und ihrem eigenen Vergnügen nachhängen können, auch sofort eine angemessene Erholungslektüre vorfinden sollten". Soziale Überlegenheit manifestierte sich bereits hier in Bildung, freilich kombiniert mit einem Habitus des Unangestrengten.
Auch Alexander Demandt breitet in seinen Büchern Schätze eines stupenden Gedächtnisses und prall mit Fakten, Erklärungen, Geschichten gefüllter Zettelkästen aus, angereichert durch Selbsterlebtes aus Tagebüchern, Briefen und Erinnertem. Listig bringt er damit zwei einst selbstverständliche Säulen der Orientierung in der Welt zu Ehren: Wissen und Arbeit. Dabei pflegt er eine additive Ordnung: Der Stoff wird nach verschiedenen Achsen sortiert und dann wie Perlen auf Schnüre gezogen. Diese Bildung ist Instrument bürgerlicher Weltbewältigung.
Nach der Zeit (F.A.Z. vom 10. Oktober 2015) hat sich Demandt nun in dieser Manier die Grenzen vorgenommen - abermals einen wahrhaft universalen Gegenstand! Ausführlich bestimmt er zunächst Grenze als Grundkategorie menschlicher wie sozialer Existenz, im Raum, in der Zeit, im Kosmos und in der sachlichen Systematik von Feldern wie Politik, Recht oder Wirtschaft. Wer Grenzen für obsolet, ja böse hält, sieht sich belehrt: Alle Erscheinungen gewinnen Individualität und Identität erst durch Abgrenzung; jeder Gegenstand, den wir erkennen, zeigt sich in seinen Konturen, erst Begrenzung ermöglicht, zu unterscheiden und damit Formen und Gestalten zu erkennen. Der Autor erinnert an elementare erkenntnistheoretische Tatsachen, die auch in aktuellen Diskurskämpfen zur Geltung kommen: Wem Grenzen zwischen Staaten oder Geschlechtern als hinderlich, gar schädlich erscheinen, wird sich zugleich mit Verve gegen "rechts" abschotten. Grenzen und Grenzvorstellungen sedimentieren oder sind veränderlich; für beide Phänomene bietet das Buch Hekatomben von Beispielen. Ein listiger Trost, denn angesichts der schier unendlichen Fülle des hier über das Thema durch die Jahrtausende Gewussten werden die Abgrenzungskonflikte des Tages zu Wimpernschlägen. Argumente, um bestimmte Scheidungen festzuschreiben, finden sich hier eher nicht, dafür anthropologische Gemeinplätze: Der Mensch vertrage weder die generelle Entgrenzung noch die universelle Eingrenzung.
Die chronologische Darstellung folgt den üblichen Großepochen, wobei der Alte Orient (China eingeschlossen), die Griechen und die Römer breiten Raum erhalten, während "Germanen und Mittelalter" eher knapp abgemacht werden. Das lange Kapitel zur Neuzeit ist nach Großregionen gegliedert und behandelt vorwiegend die Staatengrenzen. Ergänzend treten in gleicher Anlage gut sechzig Seiten über Kriegs- und Nachkriegszeit hinzu - die Einteilung spiegelt die Generationenerfahrung des 1937 geborenen Verfassers.
Den Duktus des Buches mag als Beispiel der Absatz über die Landenge von Perekop zwischen der Ukraine und der Krim erhellen. Diese werde im Osten durch ein Sumpfgebiet gesperrt, im Westen gebe es seit alters einen Grenzgraben, daher der griechische Stadtname Taphros. Die Tabula Peutingeriana notiere: "Graben gemacht durch die Sklaven der Skythen." Dieser wurde dann "im 15. Jahrhundert vom Khan der Krimtataren auf der Südseite durch eine Mauer verstärkt, die von den Russen bis zur Annexion der zuvor türkischen Krim 1783 mehrfach genommen wurde. 1944 deportierte Stalin die Krimtataren und ersetzte sie durch Russen. Die Krimrussen gehörten seit 1954 zur Ukraine, bis sie sich 2014 durch ,unzulässigen' Volksentscheid an Rußland anschlossen." Um die Krim wiederum gegen die Ukraine abzuschließen, "zog Rußland 2018 in alter Tradition einen 60 Kilometer langen Zaun über den Hals der Halbinsel. Eine zweite Geländegrenze schützte die Landzunge, die sich von Theodosia ostwärts nach Pantikapaion-Kertsch erstreckt. Hier baute um 40 v. Chr. der bosporanische König Asandros gegen die Krimskythen eine Nord-Süd-Mauer vom Asowschen zum Schwarzen Meer, verstärkt durch zehn Türme im Abstand eines Stadions zu 180 Metern."
Merkformeln und Aphorismen sollen wohl Orientierung im Meer der Fakten bieten. Beispiele von religiös oder ideologisch geprägten Grenzregimen etwa werden mit der Bemerkung beschlossen, muslimischer Fundamentalismus und westlicher Liberalismus wechselten im Nahen Osten "mit den Generationen. Mal so, mal anders. Optimisten deuten das als Übergangserscheinung, Realisten als orientalische Normalität." Als Weisheit eines Alten vom Berge mag das durchgehen. Eine Seite weiter sieht sich der Leser ebenso reizend wie erhellend über die Funktion des Rahmens für ein Gemälde belehrt. Und "schmuckvoll gestaltete Kragen sind Amts- und Rangabzeichen für Richter, Pfarrer und Offiziere, nobilitieren den Kopf".
Sucht man in dieser Ausschüttung nützlichen Wissens - kaum eine Buchseite bietet weniger als zwanzig distinkte Informationen - einen roten Faden, so wäre dies wohl ein robuster Common Sense, gepaart mit mancherlei Sarkasmen. Vor Jahrzehnten hat Demandt einen schönen Aufsatz über Politik in den Fabeln Aesops publiziert, und sein Bild des Verhältnisses von Macht und Recht bewegt sich in der Fluchtlinie der resignierten Klugheit der Schwachen in diesen Texten. Besonders das Völkerrecht und die UN nimmt er gern aufs Korn, seien doch die Resolutionen und Charten letzterer, "um mit Mao zu sprechen - Papiertiger". Recht erwachse aus der Angst vor dem Unrecht, das ein Schwacher fürchten, ein Starker nicht scheuen müsse, so der Prophet Habakuk und der Dichter Horaz. Lehnte nicht Romulus feste Landesgrenzen ab, weil sie einen dynamischen Staat entweder fesselten oder ins Unrecht setzten? Erst sein Nachfolger Numa, so erfahren wir via Demandt von Plutarch, fixierte Staatsgrenzen und erkannte damit fremdes Recht an. Rom jedoch haben Grenzen auch danach nie an der Expansion gehindert.
UWE WALTER
Alexander Demandt: "Grenzen". Geschichte und Gegenwart.
Propyläen Verlag, Berlin 2020. 656 S., geb., 28,- [Euro].
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