Auf den Spuren eines der unglaublichsten Naturereignisse: die abenteuerlichen Reisen der Tiere um den Planeten. Alljährlich wiederholt sich die weltumspannende Migration der Tiere. Nicht nur Zugvögel wechseln in riesigen Schwärmen die Kontinente, auch Milliarden von Säugetieren, Fischen, sogar Insekten gehen auf Wanderschaft. Riesige Wale ziehen von der Polarregion in tropische Gewässer, Meeresschildkröten queren die Ozeane. Selbst Schmetterlinge und die winzige Wanderlibelle legen zigtausende Kilometer zurück. Wie orientieren sich die Tiere, und vor allem: Warum brechen sie zu ihren Wanderungen auf? Spannend und überaus anschaulich erzählt Buoninconti von den Überlebensstrategien dieser Wanderer und davon, wie sehr Klimawandel und Umwelteingriffe jahrtausendealte biologische Zyklen bedrohen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2021Vögel halten ihre Fristen immer ein
Zu Land, zu Wasser und in der Luft: Zwei fachlich fundierte Bücher gehen dem immer noch rätselhaften Phänomen der Tierwanderung auf den Grund.
Gerade sind sie wieder unterwegs. Allein oder Flügel an Flügel in akkurater Gruppenformation passieren sie Gebirge, Wüsten und Großstädte: Zugvögel, die auf dem Weg aus ihren südeuropäischen oder afrikanischen Überwinterungsgebieten in die Brutregionen im Norden zurückkehren. Auffälligen Schwärmen von laut rufenden Kranichen folgen unbemerkt in diesen Nächten Abermillionen Singvögel. Häufig sitzen sie im Frühling wieder in genau jenem Gebüsch, aus dem sie im Herbst zuvor verschwunden waren.
Tierwanderungen und besonders ihre sichtbarste Form, der Vogelzug, haben Menschen seit jeher fasziniert. Schon im Alten Testament wird das rätselhafte und von Mythen umwobene Phänomen erstaunlich präzise und kenntnisreich beschrieben. "Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein", heißt es bei Jeremia.
Pünktlich zur Ankunft der ersten Heimkehrer bei uns widmen sich zwei Bücher dem Phänomen der Tierwanderungen. In "Zugvögel" stellen der britische Reise- und Naturschriftsteller Mike Unwin und der Fotograf David Tipling einzelne Spezies aus verschiedenen Lebensräumen und Weltregionen vor, um sich so dem "Wunder des Vogelzugs" zu nähern. In mehr als sechzig Artporträts verwebt Unwin eigene Erlebnisse mit Wissenswertem aus dem Leben einer Vogelart und den Ergebnissen neuerer Forschung. Oft kommen dabei gelungene und stimmungsvolle Kurzreportagen heraus. Gelegentlich werden aber auch Standardinformationen im Stile eines Nachschlagewerks aneinandergereiht.
Natürlich werden die Leistungen der Rekordhalter unter den Vögeln gewürdigt: der Küstenseeschwalbe etwa, die im Jahresverlauf fast 100 000 Kilometer rund um den Globus zurücklegt und dabei auch an der deutschen Nordseeküste die Zeit findet, ihre Jungen großzuziehen. Oder der Pfuhlschnepfe, die ohne zu landen von Alaska nach Neuseeland fliegt und mit neun Tagen dabei den Rekord im Nonstop-Langstreckenflug hält. Bemerkenswert vollständig und aktuell ist die auf wenige Seiten komprimierte Zusammenfassung der über hundertjährigen wissenschaftlichen Erforschung des Vogelzugs, die Unwin den Artporträts voranstellt.
Umso ärgerlicher sind Fehler wie die Behauptung, der Weißstorch sei in Deutschland erst durch Wiederansiedlungsprojekte aufs Neue heimisch geworden. Auch Ungenauigkeiten bei der Übertragung der Vogelnamen und einiger ornithologischer Fachbegriffe aus dem englischen Original dürften eher auf die deutsche Bearbeitung als auf den Autor zurückgehen. Ebenfalls misslich ist die Verwendung der seit mehr als einem halben Jahrhundert überkommenen und stigmatisierenden Bezeichnung "Raubvögel" für alle Greifvögel. Kein mit naturwissenschaftlichen oder ökologischen Themen intensiv befasster Verlag würde diesen Ausdruck heute noch durchgehen lassen - von Autoren, die dem Vogelschutz verbunden sind, ganz zu schweigen.
"Zugvögel" ist eine Mischung aus Bildband und Sachbuch. Es gehört zu den schwierigeren Übungen der Fotografie, das Phänomen Vogelzug in Bilder zu bannen, die keine bloßen Massenansammlungen zeigen. Bei einigen Fotos, meist von anderen Fotografen als David Tipling, gelingt dies. Herausragend ist etwa eine auf gläsernem Meereis vor Spitzbergen treibende Küstenseeschwalbe.
Doch es sind nicht allein die Vögel, die sich regelmäßig auf Wanderschaft begeben. Auch Fische, Insekten, Amphibien und Säugetiere ziehen, um von den jeweils besten Lebensbedingungen im Laufe eines Jahres zu profitieren. Vom Gnu in Afrika bis zum Karibu in Alaska, vom schwersten Tier der Erde, dem Blauwal, bis zur weniger als federleichten Libelle: "Jeden Tag, jede Minute sind irgendwo auf der Erde wandernde Tiere zu Lande, zu Wasser oder in der Luft unterwegs", schreibt die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti in ihrem Buch "Grenzenlos".
Dabei geht sie fachlich noch mehr in die Tiefe als Unwin. Zudem spannt sie den Bogen über die Vögel hinaus, auch wenn man den Erörterungen anmerkt, dass sie von einer Ornithologin stammen. Ob Sommergoldhähnchen oder Wanderlibelle, Monarchfalter oder Aal: Die Welt, wie sie Buoninconti beschreibt, ist unablässig auf Achse, und die Autorin hat über die verschiedenen Arten fesselnde Geschichten in petto. Etwa über das "natal homing". So merkt sich die Unechte Karettschildkröte mit Hilfe des Erdmagnetfelds die Koordinaten ihres Geburtsstrandes, bevor sie sich als fünf Zentimeter kleines Tierchen in die Weiten des Ozeans stürzt, um den gesamten Nordatlantik zu durchstreifen und fünfzehn oder zwanzig Jahre später zur Ei-Ablage auf den Meter genau an die Stelle ihrer Geburt zurückzukehren. Buoninconti schreibt mit der gleichen Leichtigkeit über die physiologischen und molekulargenetischen Grundlagen der Tierwanderungen wie über blühende italienische Landschaften. Phänomene wie die Hyperphagie (der genetisch gesteuerte Heißhunger, mit dem sich Singvögel ihre Fettreserven für den Zug anfressen) bekommen bei ihr ebenso Raum wie die Beschreibung der aufgehenden Sonne an einem Sommermorgen.
Auch aktuelle naturschutzrelevante Themen wie die bedrohlichen Auswirkungen der zunehmenden Lichtverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels auf das Wanderverhalten von Tieren spart Buoninconti nicht aus. Sie präsentiert alarmierende Fakten, ohne alarmistisch zu sein. Ihr Buch ist damit auch ein Plädoyer für die hierzulande noch junge wissenschaftliche Disziplin der Naturschutzbiologie.
Der Vogelzug und die Wanderung anderer Tiere stehen für Freiheit und Grenzenlosigkeit. Zugleich sind sie aber auch der Ausdruck des Kampfes des Individuums gegen Naturgewalten und ökologische Veränderungen in einer vom Menschen umgestalteten Welt. Beide Bücher, vor allem aber Buonincontis "Grenzenlos", vermitteln Einblicke in ein Naturphänomen, das sich regelmäßig vor unseren Augen und doch allzu oft unbemerkt abspielt.
THOMAS KRUMENACKER
Mike Unwin und
David Tipling: "Zugvögel". Reisewege und
Überlebensstrategien.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Dumont Verlag, Köln 2021. 288 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Francesca Buoninconti: "Grenzenlos". Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere. Aus dem Italienischen von Werner Menapace.
Folio Verlag, Wien 2021. 220 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu Land, zu Wasser und in der Luft: Zwei fachlich fundierte Bücher gehen dem immer noch rätselhaften Phänomen der Tierwanderung auf den Grund.
Gerade sind sie wieder unterwegs. Allein oder Flügel an Flügel in akkurater Gruppenformation passieren sie Gebirge, Wüsten und Großstädte: Zugvögel, die auf dem Weg aus ihren südeuropäischen oder afrikanischen Überwinterungsgebieten in die Brutregionen im Norden zurückkehren. Auffälligen Schwärmen von laut rufenden Kranichen folgen unbemerkt in diesen Nächten Abermillionen Singvögel. Häufig sitzen sie im Frühling wieder in genau jenem Gebüsch, aus dem sie im Herbst zuvor verschwunden waren.
Tierwanderungen und besonders ihre sichtbarste Form, der Vogelzug, haben Menschen seit jeher fasziniert. Schon im Alten Testament wird das rätselhafte und von Mythen umwobene Phänomen erstaunlich präzise und kenntnisreich beschrieben. "Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein", heißt es bei Jeremia.
Pünktlich zur Ankunft der ersten Heimkehrer bei uns widmen sich zwei Bücher dem Phänomen der Tierwanderungen. In "Zugvögel" stellen der britische Reise- und Naturschriftsteller Mike Unwin und der Fotograf David Tipling einzelne Spezies aus verschiedenen Lebensräumen und Weltregionen vor, um sich so dem "Wunder des Vogelzugs" zu nähern. In mehr als sechzig Artporträts verwebt Unwin eigene Erlebnisse mit Wissenswertem aus dem Leben einer Vogelart und den Ergebnissen neuerer Forschung. Oft kommen dabei gelungene und stimmungsvolle Kurzreportagen heraus. Gelegentlich werden aber auch Standardinformationen im Stile eines Nachschlagewerks aneinandergereiht.
Natürlich werden die Leistungen der Rekordhalter unter den Vögeln gewürdigt: der Küstenseeschwalbe etwa, die im Jahresverlauf fast 100 000 Kilometer rund um den Globus zurücklegt und dabei auch an der deutschen Nordseeküste die Zeit findet, ihre Jungen großzuziehen. Oder der Pfuhlschnepfe, die ohne zu landen von Alaska nach Neuseeland fliegt und mit neun Tagen dabei den Rekord im Nonstop-Langstreckenflug hält. Bemerkenswert vollständig und aktuell ist die auf wenige Seiten komprimierte Zusammenfassung der über hundertjährigen wissenschaftlichen Erforschung des Vogelzugs, die Unwin den Artporträts voranstellt.
Umso ärgerlicher sind Fehler wie die Behauptung, der Weißstorch sei in Deutschland erst durch Wiederansiedlungsprojekte aufs Neue heimisch geworden. Auch Ungenauigkeiten bei der Übertragung der Vogelnamen und einiger ornithologischer Fachbegriffe aus dem englischen Original dürften eher auf die deutsche Bearbeitung als auf den Autor zurückgehen. Ebenfalls misslich ist die Verwendung der seit mehr als einem halben Jahrhundert überkommenen und stigmatisierenden Bezeichnung "Raubvögel" für alle Greifvögel. Kein mit naturwissenschaftlichen oder ökologischen Themen intensiv befasster Verlag würde diesen Ausdruck heute noch durchgehen lassen - von Autoren, die dem Vogelschutz verbunden sind, ganz zu schweigen.
"Zugvögel" ist eine Mischung aus Bildband und Sachbuch. Es gehört zu den schwierigeren Übungen der Fotografie, das Phänomen Vogelzug in Bilder zu bannen, die keine bloßen Massenansammlungen zeigen. Bei einigen Fotos, meist von anderen Fotografen als David Tipling, gelingt dies. Herausragend ist etwa eine auf gläsernem Meereis vor Spitzbergen treibende Küstenseeschwalbe.
Doch es sind nicht allein die Vögel, die sich regelmäßig auf Wanderschaft begeben. Auch Fische, Insekten, Amphibien und Säugetiere ziehen, um von den jeweils besten Lebensbedingungen im Laufe eines Jahres zu profitieren. Vom Gnu in Afrika bis zum Karibu in Alaska, vom schwersten Tier der Erde, dem Blauwal, bis zur weniger als federleichten Libelle: "Jeden Tag, jede Minute sind irgendwo auf der Erde wandernde Tiere zu Lande, zu Wasser oder in der Luft unterwegs", schreibt die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti in ihrem Buch "Grenzenlos".
Dabei geht sie fachlich noch mehr in die Tiefe als Unwin. Zudem spannt sie den Bogen über die Vögel hinaus, auch wenn man den Erörterungen anmerkt, dass sie von einer Ornithologin stammen. Ob Sommergoldhähnchen oder Wanderlibelle, Monarchfalter oder Aal: Die Welt, wie sie Buoninconti beschreibt, ist unablässig auf Achse, und die Autorin hat über die verschiedenen Arten fesselnde Geschichten in petto. Etwa über das "natal homing". So merkt sich die Unechte Karettschildkröte mit Hilfe des Erdmagnetfelds die Koordinaten ihres Geburtsstrandes, bevor sie sich als fünf Zentimeter kleines Tierchen in die Weiten des Ozeans stürzt, um den gesamten Nordatlantik zu durchstreifen und fünfzehn oder zwanzig Jahre später zur Ei-Ablage auf den Meter genau an die Stelle ihrer Geburt zurückzukehren. Buoninconti schreibt mit der gleichen Leichtigkeit über die physiologischen und molekulargenetischen Grundlagen der Tierwanderungen wie über blühende italienische Landschaften. Phänomene wie die Hyperphagie (der genetisch gesteuerte Heißhunger, mit dem sich Singvögel ihre Fettreserven für den Zug anfressen) bekommen bei ihr ebenso Raum wie die Beschreibung der aufgehenden Sonne an einem Sommermorgen.
Auch aktuelle naturschutzrelevante Themen wie die bedrohlichen Auswirkungen der zunehmenden Lichtverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels auf das Wanderverhalten von Tieren spart Buoninconti nicht aus. Sie präsentiert alarmierende Fakten, ohne alarmistisch zu sein. Ihr Buch ist damit auch ein Plädoyer für die hierzulande noch junge wissenschaftliche Disziplin der Naturschutzbiologie.
Der Vogelzug und die Wanderung anderer Tiere stehen für Freiheit und Grenzenlosigkeit. Zugleich sind sie aber auch der Ausdruck des Kampfes des Individuums gegen Naturgewalten und ökologische Veränderungen in einer vom Menschen umgestalteten Welt. Beide Bücher, vor allem aber Buonincontis "Grenzenlos", vermitteln Einblicke in ein Naturphänomen, das sich regelmäßig vor unseren Augen und doch allzu oft unbemerkt abspielt.
THOMAS KRUMENACKER
Mike Unwin und
David Tipling: "Zugvögel". Reisewege und
Überlebensstrategien.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Dumont Verlag, Köln 2021. 288 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Francesca Buoninconti: "Grenzenlos". Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere. Aus dem Italienischen von Werner Menapace.
Folio Verlag, Wien 2021. 220 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Krumenacker folgt gern den Wanderungen der Tiere, von denen die italienischen Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti in ihrem Buch "Grenzenlos" erzählt. Die Welt ist auf Achse, lernt Krumenacker hier, afrikanische Gnus, kanadische Karibus, Bauwale, Libelle. Was Buoninconti zu berichten hat, findet der Rezensent fesselnd: Zum Beispiel das die Unechte Karettschildschildkröte mit Hilfe des Erdmagnetfelds ihren Geburtsstrand widerfindet, nachdem sie fünfzehn oder zwanzig Jahre lang die Ozeane durchgequert hat. Sehr gut gefällt ihm auch, dass die Autorin über die Physiologie der Tiere mit derselben Leichtigkeit schreibt wie über italienische Landschaften.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Vögel halten ihre Fristen immer ein
Zu Land, zu Wasser und in der Luft: Zwei fachlich fundierte Bücher gehen dem immer noch rätselhaften Phänomen der Tierwanderung auf den Grund.
Gerade sind sie wieder unterwegs. Allein oder Flügel an Flügel in akkurater Gruppenformation passieren sie Gebirge, Wüsten und Großstädte: Zugvögel, die auf dem Weg aus ihren südeuropäischen oder afrikanischen Überwinterungsgebieten in die Brutregionen im Norden zurückkehren. Auffälligen Schwärmen von laut rufenden Kranichen folgen unbemerkt in diesen Nächten Abermillionen Singvögel. Häufig sitzen sie im Frühling wieder in genau jenem Gebüsch, aus dem sie im Herbst zuvor verschwunden waren.
Tierwanderungen und besonders ihre sichtbarste Form, der Vogelzug, haben Menschen seit jeher fasziniert. Schon im Alten Testament wird das rätselhafte und von Mythen umwobene Phänomen erstaunlich präzise und kenntnisreich beschrieben. "Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein", heißt es bei Jeremia.
Pünktlich zur Ankunft der ersten Heimkehrer bei uns widmen sich zwei Bücher dem Phänomen der Tierwanderungen. In "Zugvögel" stellen der britische Reise- und Naturschriftsteller Mike Unwin und der Fotograf David Tipling einzelne Spezies aus verschiedenen Lebensräumen und Weltregionen vor, um sich so dem "Wunder des Vogelzugs" zu nähern. In mehr als sechzig Artporträts verwebt Unwin eigene Erlebnisse mit Wissenswertem aus dem Leben einer Vogelart und den Ergebnissen neuerer Forschung. Oft kommen dabei gelungene und stimmungsvolle Kurzreportagen heraus. Gelegentlich werden aber auch Standardinformationen im Stile eines Nachschlagewerks aneinandergereiht.
Natürlich werden die Leistungen der Rekordhalter unter den Vögeln gewürdigt: der Küstenseeschwalbe etwa, die im Jahresverlauf fast 100 000 Kilometer rund um den Globus zurücklegt und dabei auch an der deutschen Nordseeküste die Zeit findet, ihre Jungen großzuziehen. Oder der Pfuhlschnepfe, die ohne zu landen von Alaska nach Neuseeland fliegt und mit neun Tagen dabei den Rekord im Nonstop-Langstreckenflug hält. Bemerkenswert vollständig und aktuell ist die auf wenige Seiten komprimierte Zusammenfassung der über hundertjährigen wissenschaftlichen Erforschung des Vogelzugs, die Unwin den Artporträts voranstellt.
Umso ärgerlicher sind Fehler wie die Behauptung, der Weißstorch sei in Deutschland erst durch Wiederansiedlungsprojekte aufs Neue heimisch geworden. Auch Ungenauigkeiten bei der Übertragung der Vogelnamen und einiger ornithologischer Fachbegriffe aus dem englischen Original dürften eher auf die deutsche Bearbeitung als auf den Autor zurückgehen. Ebenfalls misslich ist die Verwendung der seit mehr als einem halben Jahrhundert überkommenen und stigmatisierenden Bezeichnung "Raubvögel" für alle Greifvögel. Kein mit naturwissenschaftlichen oder ökologischen Themen intensiv befasster Verlag würde diesen Ausdruck heute noch durchgehen lassen - von Autoren, die dem Vogelschutz verbunden sind, ganz zu schweigen.
"Zugvögel" ist eine Mischung aus Bildband und Sachbuch. Es gehört zu den schwierigeren Übungen der Fotografie, das Phänomen Vogelzug in Bilder zu bannen, die keine bloßen Massenansammlungen zeigen. Bei einigen Fotos, meist von anderen Fotografen als David Tipling, gelingt dies. Herausragend ist etwa eine auf gläsernem Meereis vor Spitzbergen treibende Küstenseeschwalbe.
Doch es sind nicht allein die Vögel, die sich regelmäßig auf Wanderschaft begeben. Auch Fische, Insekten, Amphibien und Säugetiere ziehen, um von den jeweils besten Lebensbedingungen im Laufe eines Jahres zu profitieren. Vom Gnu in Afrika bis zum Karibu in Alaska, vom schwersten Tier der Erde, dem Blauwal, bis zur weniger als federleichten Libelle: "Jeden Tag, jede Minute sind irgendwo auf der Erde wandernde Tiere zu Lande, zu Wasser oder in der Luft unterwegs", schreibt die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti in ihrem Buch "Grenzenlos".
Dabei geht sie fachlich noch mehr in die Tiefe als Unwin. Zudem spannt sie den Bogen über die Vögel hinaus, auch wenn man den Erörterungen anmerkt, dass sie von einer Ornithologin stammen. Ob Sommergoldhähnchen oder Wanderlibelle, Monarchfalter oder Aal: Die Welt, wie sie Buoninconti beschreibt, ist unablässig auf Achse, und die Autorin hat über die verschiedenen Arten fesselnde Geschichten in petto. Etwa über das "natal homing". So merkt sich die Unechte Karettschildkröte mit Hilfe des Erdmagnetfelds die Koordinaten ihres Geburtsstrandes, bevor sie sich als fünf Zentimeter kleines Tierchen in die Weiten des Ozeans stürzt, um den gesamten Nordatlantik zu durchstreifen und fünfzehn oder zwanzig Jahre später zur Ei-Ablage auf den Meter genau an die Stelle ihrer Geburt zurückzukehren. Buoninconti schreibt mit der gleichen Leichtigkeit über die physiologischen und molekulargenetischen Grundlagen der Tierwanderungen wie über blühende italienische Landschaften. Phänomene wie die Hyperphagie (der genetisch gesteuerte Heißhunger, mit dem sich Singvögel ihre Fettreserven für den Zug anfressen) bekommen bei ihr ebenso Raum wie die Beschreibung der aufgehenden Sonne an einem Sommermorgen.
Auch aktuelle naturschutzrelevante Themen wie die bedrohlichen Auswirkungen der zunehmenden Lichtverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels auf das Wanderverhalten von Tieren spart Buoninconti nicht aus. Sie präsentiert alarmierende Fakten, ohne alarmistisch zu sein. Ihr Buch ist damit auch ein Plädoyer für die hierzulande noch junge wissenschaftliche Disziplin der Naturschutzbiologie.
Der Vogelzug und die Wanderung anderer Tiere stehen für Freiheit und Grenzenlosigkeit. Zugleich sind sie aber auch der Ausdruck des Kampfes des Individuums gegen Naturgewalten und ökologische Veränderungen in einer vom Menschen umgestalteten Welt. Beide Bücher, vor allem aber Buonincontis "Grenzenlos", vermitteln Einblicke in ein Naturphänomen, das sich regelmäßig vor unseren Augen und doch allzu oft unbemerkt abspielt.
THOMAS KRUMENACKER
Mike Unwin und
David Tipling: "Zugvögel". Reisewege und
Überlebensstrategien.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Dumont Verlag, Köln 2021. 288 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Francesca Buoninconti: "Grenzenlos". Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere. Aus dem Italienischen von Werner Menapace.
Folio Verlag, Wien 2021. 220 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu Land, zu Wasser und in der Luft: Zwei fachlich fundierte Bücher gehen dem immer noch rätselhaften Phänomen der Tierwanderung auf den Grund.
Gerade sind sie wieder unterwegs. Allein oder Flügel an Flügel in akkurater Gruppenformation passieren sie Gebirge, Wüsten und Großstädte: Zugvögel, die auf dem Weg aus ihren südeuropäischen oder afrikanischen Überwinterungsgebieten in die Brutregionen im Norden zurückkehren. Auffälligen Schwärmen von laut rufenden Kranichen folgen unbemerkt in diesen Nächten Abermillionen Singvögel. Häufig sitzen sie im Frühling wieder in genau jenem Gebüsch, aus dem sie im Herbst zuvor verschwunden waren.
Tierwanderungen und besonders ihre sichtbarste Form, der Vogelzug, haben Menschen seit jeher fasziniert. Schon im Alten Testament wird das rätselhafte und von Mythen umwobene Phänomen erstaunlich präzise und kenntnisreich beschrieben. "Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein", heißt es bei Jeremia.
Pünktlich zur Ankunft der ersten Heimkehrer bei uns widmen sich zwei Bücher dem Phänomen der Tierwanderungen. In "Zugvögel" stellen der britische Reise- und Naturschriftsteller Mike Unwin und der Fotograf David Tipling einzelne Spezies aus verschiedenen Lebensräumen und Weltregionen vor, um sich so dem "Wunder des Vogelzugs" zu nähern. In mehr als sechzig Artporträts verwebt Unwin eigene Erlebnisse mit Wissenswertem aus dem Leben einer Vogelart und den Ergebnissen neuerer Forschung. Oft kommen dabei gelungene und stimmungsvolle Kurzreportagen heraus. Gelegentlich werden aber auch Standardinformationen im Stile eines Nachschlagewerks aneinandergereiht.
Natürlich werden die Leistungen der Rekordhalter unter den Vögeln gewürdigt: der Küstenseeschwalbe etwa, die im Jahresverlauf fast 100 000 Kilometer rund um den Globus zurücklegt und dabei auch an der deutschen Nordseeküste die Zeit findet, ihre Jungen großzuziehen. Oder der Pfuhlschnepfe, die ohne zu landen von Alaska nach Neuseeland fliegt und mit neun Tagen dabei den Rekord im Nonstop-Langstreckenflug hält. Bemerkenswert vollständig und aktuell ist die auf wenige Seiten komprimierte Zusammenfassung der über hundertjährigen wissenschaftlichen Erforschung des Vogelzugs, die Unwin den Artporträts voranstellt.
Umso ärgerlicher sind Fehler wie die Behauptung, der Weißstorch sei in Deutschland erst durch Wiederansiedlungsprojekte aufs Neue heimisch geworden. Auch Ungenauigkeiten bei der Übertragung der Vogelnamen und einiger ornithologischer Fachbegriffe aus dem englischen Original dürften eher auf die deutsche Bearbeitung als auf den Autor zurückgehen. Ebenfalls misslich ist die Verwendung der seit mehr als einem halben Jahrhundert überkommenen und stigmatisierenden Bezeichnung "Raubvögel" für alle Greifvögel. Kein mit naturwissenschaftlichen oder ökologischen Themen intensiv befasster Verlag würde diesen Ausdruck heute noch durchgehen lassen - von Autoren, die dem Vogelschutz verbunden sind, ganz zu schweigen.
"Zugvögel" ist eine Mischung aus Bildband und Sachbuch. Es gehört zu den schwierigeren Übungen der Fotografie, das Phänomen Vogelzug in Bilder zu bannen, die keine bloßen Massenansammlungen zeigen. Bei einigen Fotos, meist von anderen Fotografen als David Tipling, gelingt dies. Herausragend ist etwa eine auf gläsernem Meereis vor Spitzbergen treibende Küstenseeschwalbe.
Doch es sind nicht allein die Vögel, die sich regelmäßig auf Wanderschaft begeben. Auch Fische, Insekten, Amphibien und Säugetiere ziehen, um von den jeweils besten Lebensbedingungen im Laufe eines Jahres zu profitieren. Vom Gnu in Afrika bis zum Karibu in Alaska, vom schwersten Tier der Erde, dem Blauwal, bis zur weniger als federleichten Libelle: "Jeden Tag, jede Minute sind irgendwo auf der Erde wandernde Tiere zu Lande, zu Wasser oder in der Luft unterwegs", schreibt die italienische Wissenschaftsjournalistin Francesca Buoninconti in ihrem Buch "Grenzenlos".
Dabei geht sie fachlich noch mehr in die Tiefe als Unwin. Zudem spannt sie den Bogen über die Vögel hinaus, auch wenn man den Erörterungen anmerkt, dass sie von einer Ornithologin stammen. Ob Sommergoldhähnchen oder Wanderlibelle, Monarchfalter oder Aal: Die Welt, wie sie Buoninconti beschreibt, ist unablässig auf Achse, und die Autorin hat über die verschiedenen Arten fesselnde Geschichten in petto. Etwa über das "natal homing". So merkt sich die Unechte Karettschildkröte mit Hilfe des Erdmagnetfelds die Koordinaten ihres Geburtsstrandes, bevor sie sich als fünf Zentimeter kleines Tierchen in die Weiten des Ozeans stürzt, um den gesamten Nordatlantik zu durchstreifen und fünfzehn oder zwanzig Jahre später zur Ei-Ablage auf den Meter genau an die Stelle ihrer Geburt zurückzukehren. Buoninconti schreibt mit der gleichen Leichtigkeit über die physiologischen und molekulargenetischen Grundlagen der Tierwanderungen wie über blühende italienische Landschaften. Phänomene wie die Hyperphagie (der genetisch gesteuerte Heißhunger, mit dem sich Singvögel ihre Fettreserven für den Zug anfressen) bekommen bei ihr ebenso Raum wie die Beschreibung der aufgehenden Sonne an einem Sommermorgen.
Auch aktuelle naturschutzrelevante Themen wie die bedrohlichen Auswirkungen der zunehmenden Lichtverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels auf das Wanderverhalten von Tieren spart Buoninconti nicht aus. Sie präsentiert alarmierende Fakten, ohne alarmistisch zu sein. Ihr Buch ist damit auch ein Plädoyer für die hierzulande noch junge wissenschaftliche Disziplin der Naturschutzbiologie.
Der Vogelzug und die Wanderung anderer Tiere stehen für Freiheit und Grenzenlosigkeit. Zugleich sind sie aber auch der Ausdruck des Kampfes des Individuums gegen Naturgewalten und ökologische Veränderungen in einer vom Menschen umgestalteten Welt. Beide Bücher, vor allem aber Buonincontis "Grenzenlos", vermitteln Einblicke in ein Naturphänomen, das sich regelmäßig vor unseren Augen und doch allzu oft unbemerkt abspielt.
THOMAS KRUMENACKER
Mike Unwin und
David Tipling: "Zugvögel". Reisewege und
Überlebensstrategien.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel.
Dumont Verlag, Köln 2021. 288 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
Francesca Buoninconti: "Grenzenlos". Die erstaunlichen Wanderungen der Tiere. Aus dem Italienischen von Werner Menapace.
Folio Verlag, Wien 2021. 220 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main