Juni 1941, wenige Tage vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion. Im Dorf am Bug haben sich deutsche Besatzungssoldaten einquartiert, in der Nähe verstecken sich polnische Partisanen. Jeder hier weiß, dass Lubko, der Fährmann, gegen Geld Fliehende und Händler ans andere Ufer rudert. Doris und Maks, ein jüdisches Geschwisterpaar aus der Stadt, wollen sich vor Verfolgung retten - hinüber nach Russland, am besten bis an den Amur. Doch Lubko weigert sich. Was er tut, ist gefährlich, macht ihn erpressbar, und die Nächte in jenen Tagen sind mondlos.
Das Geschehen scheint sich aus der verträumten, nächtlichen Flusslandschaft zu entwickeln, die fremd und bedrohlich wirkt, seit Motorräder, Lastwagen und Panzer hindurch rollen und deutsche Wörter durch die Luft schwirren.
Die Lektüre schlägt sofort in Bann, auch weil Grenzfahrt eine weitere Dimension öffnet - die der Erinnerung. Zurück in jenem Dorf, am Ende des Lebens, will dem Vater des Erzählers nicht mehr einfallen, dass er hier Kind war. Wie Stasiuk diese Episoden in die atemlose Kriegserzählung hineinwebt, verleiht dem Roman seine poetische und existentielle Wucht.
Das Geschehen scheint sich aus der verträumten, nächtlichen Flusslandschaft zu entwickeln, die fremd und bedrohlich wirkt, seit Motorräder, Lastwagen und Panzer hindurch rollen und deutsche Wörter durch die Luft schwirren.
Die Lektüre schlägt sofort in Bann, auch weil Grenzfahrt eine weitere Dimension öffnet - die der Erinnerung. Zurück in jenem Dorf, am Ende des Lebens, will dem Vater des Erzählers nicht mehr einfallen, dass er hier Kind war. Wie Stasiuk diese Episoden in die atemlose Kriegserzählung hineinwebt, verleiht dem Roman seine poetische und existentielle Wucht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen überzeugenden historischen Roman über Polen im Zweiten Weltkrieg hat Andrzej Stasiuk vorgelegt, versichert Kritiker Gerhard Gnauck: Er kennt den Autor schon von verschiedenen Road novels, hier steht ein Grenzfluss im besetzten Polen 1941 im Fokus, an dem sich allerhand zwischenmenschliche Begegnungen entspannen, von Partisanen bis jüdischen Flüchtlingen. Eine zweite Ebene ist zwischengeschaltet, erzählt Gnauck, in der der Erzähler die Schauplätze von damals heute noch einmal besucht und feststellen muss, dass die letzten Zeitzeugen wegsterben. Eine lebhafte Schilderung des Vergangenen, das gar nicht so vergangen ist, von Renate Schmidgall bravourös ins Deutsche übersetzt, lobt Gnauck.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2023Rauch und Apfelernte
Andrzej Stasiuks neuer Roman "Grenzfahrt"
Andrzej Stasiuk, der seit Ende der Neunzigerjahre auch deutschen Lesern bekannt gewordene polnische Schriftsteller, hatte vor einiger Zeit seinen Plan offenbart, einen "historischen Roman" zu schreiben. Er hat Wort gehalten. Eigentlich ist man von ihm anderes gewohnt: Der Autor schrieb eine Art road novel ("Der weiße Rabe"), verarbeitete seine Zeit in einem kommunistischen Gefängnis - er war vom Militärdienst desertiert - oder das Leben in der Provinz, wo er sich bis heute wohler fühlt als in seiner Geburtsstadt Warschau. Später kamen reflektierende Reiseschilderungen hinzu ("Unterwegs nach Babadag"), Berichte über Expeditionen, die er oft gemeinsam mit seiner Frau Monika Sznajderman absolvierte, die Verlegerin nicht nur seiner Bücher ist. Die Reisen führten erst nach Südosteuropa und dann immer weiter nach Osten, bis nach China und in die Mongolei, und erinnern von den äußeren Umständen her oft an Survival-Touren.
Diesmal, im Roman "Grenzfahrt", bleibt Stasiuk im Lande, doch schreitet dafür weiter in die Geschichte zurück. Die Handlung spielt auf einer ersten Ebene im Juni 1941 im besetzten Polen, das zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt ist. Der Bug als neuer Grenzfluss und seine beiden Ufer sind Schauplatz der Begegnung von allerlei Menschen, die zumeist nicht freiwillig in diese Gegend gekommen sind. Die wichtigste Einheimische ist im Roman eine Frau, "braungebrannt oder dunkel wie eine Zigeunerin", die immer wieder begehrliche Blicke von Männern auf sich zieht. Nur vorübergehend hier sind dagegen deutsche Soldaten (wenige Tage später werden sie die Sowjetunion angreifen); ebenso ihre polnischen Gegner, die jetzt als versprengte, schwach bewaffnete Partisanen mehr abwarten als kämpfen, und zwei junge jüdische Flüchtlinge aus Warschau, Max und seine Halbschwester Doris. Diese beiden wollen über den Fluss, aus Hitlers in Stalins Reich, und so tun sie, was viele Menschen im Krieg zwangsläufig tun: Sie warten, und es entspinnen sich Gespräche, aber auch erotische Berührungen.
Über den Fluss zu kommen, dazu bedarf es fachmännischer Hilfe, und hier kommt Lubko ins Spiel, Einheimischer, vermutlich Ukrainer. Er ist der Fährmann, der gegen Geld bei Nacht Menschen in seinem Kahn ans andere Ufer bringt, immer in Gefahr, im grünen Phosphorglanz einer Leuchtrakete für die Soldaten auf beiden Ufern sichtbar zu werden. Am Ende wird die Jüdin um ein Haar vergewaltigt, und es gibt Tote.
Hin und wieder ist kapitelweise eine zweite Ebene eingebaut. Darin fährt der Erzähler, den wir für Andrzej Stasiuk halten dürfen, in der Gegenwart an die Schauplätze von einst. Am Bug liegt zugleich die Heimat der Familie, er kennt sie aus seiner Kindheit; er nimmt seinen offenbar dementen Vater mit auf die Reise in der Hoffnung, ihm noch etwas über die Kriegszeit zu entlocken: "Papa, was hast du denn im Krieg gemacht?" Nach längerer Pause die Antwort: "Ich habe Schuhe geputzt." Opas Schuhe? Oder die der deutschen Soldaten? Wir werden es nicht mehr erfahren. Die letzten Zeugen jener Zeit, sie sind kaum noch ansprechbar.
Und doch ist die Vergangenheit lebendig, denn sie war von ungeheurer Wucht. "Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als den Krieg", berichtet uns der Erzähler von seinen Erkundungen. Das gilt erst recht für diese Region, die im Bannkreis der Rauchschwaden und des "schrecklichen, fettigen Gestanks" von Treblinka lebte oder noch immer lebt. Polen: "Ein Land der Angst. Ein Land der Trauer. Ein Land, vergessen von allen, und nur die Gruben und das Feuer bewirken, dass jemand daran denkt." Stasiuk versteht es wie kein anderer, in den Wunden und Komplexen seines Landes zu bohren. Die Polen sehen sich demnach "im Schlund der Geschichte", in einem "schwarzen Loch, dem schwarzen Arsch, Geiseln von Ost und West".
Nur zwei Sätze weiter erinnert sich der Erzähler an seine Kindheit: "Im Herbst sind wir immer zur Apfelernte aufgebrochen." Auch in der Apfelgroßmacht zwischen Oder und Bug geht die Geschichte weiter. Das Städtchen Drohiczyn am Bug, im Roman zu Dorohucza verfremdet, gibt es immer noch. Die Männer dort fluchen ebenso deftig und phantasievoll wie früher, was die bewährte Übersetzerin Renate Schmidgall in das fluchärmere Deutsch transponiert hat. Stasiuk hat mit "Grenzfahrt" nicht nur einen wunderbar sinnlichen Roman geschrieben, Farben, Gerüche, Stimmungen und Schicksale eingefangen. Er hat auch dem Polen des zwanzigsten Jahrhunderts, aus dem er kommt, ein Denkmal gesetzt. GERHARD GNAUCK
Andrzej Stasiuk: "Grenzfahrt". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, Berlin 2023. 355 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrzej Stasiuks neuer Roman "Grenzfahrt"
Andrzej Stasiuk, der seit Ende der Neunzigerjahre auch deutschen Lesern bekannt gewordene polnische Schriftsteller, hatte vor einiger Zeit seinen Plan offenbart, einen "historischen Roman" zu schreiben. Er hat Wort gehalten. Eigentlich ist man von ihm anderes gewohnt: Der Autor schrieb eine Art road novel ("Der weiße Rabe"), verarbeitete seine Zeit in einem kommunistischen Gefängnis - er war vom Militärdienst desertiert - oder das Leben in der Provinz, wo er sich bis heute wohler fühlt als in seiner Geburtsstadt Warschau. Später kamen reflektierende Reiseschilderungen hinzu ("Unterwegs nach Babadag"), Berichte über Expeditionen, die er oft gemeinsam mit seiner Frau Monika Sznajderman absolvierte, die Verlegerin nicht nur seiner Bücher ist. Die Reisen führten erst nach Südosteuropa und dann immer weiter nach Osten, bis nach China und in die Mongolei, und erinnern von den äußeren Umständen her oft an Survival-Touren.
Diesmal, im Roman "Grenzfahrt", bleibt Stasiuk im Lande, doch schreitet dafür weiter in die Geschichte zurück. Die Handlung spielt auf einer ersten Ebene im Juni 1941 im besetzten Polen, das zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufgeteilt ist. Der Bug als neuer Grenzfluss und seine beiden Ufer sind Schauplatz der Begegnung von allerlei Menschen, die zumeist nicht freiwillig in diese Gegend gekommen sind. Die wichtigste Einheimische ist im Roman eine Frau, "braungebrannt oder dunkel wie eine Zigeunerin", die immer wieder begehrliche Blicke von Männern auf sich zieht. Nur vorübergehend hier sind dagegen deutsche Soldaten (wenige Tage später werden sie die Sowjetunion angreifen); ebenso ihre polnischen Gegner, die jetzt als versprengte, schwach bewaffnete Partisanen mehr abwarten als kämpfen, und zwei junge jüdische Flüchtlinge aus Warschau, Max und seine Halbschwester Doris. Diese beiden wollen über den Fluss, aus Hitlers in Stalins Reich, und so tun sie, was viele Menschen im Krieg zwangsläufig tun: Sie warten, und es entspinnen sich Gespräche, aber auch erotische Berührungen.
Über den Fluss zu kommen, dazu bedarf es fachmännischer Hilfe, und hier kommt Lubko ins Spiel, Einheimischer, vermutlich Ukrainer. Er ist der Fährmann, der gegen Geld bei Nacht Menschen in seinem Kahn ans andere Ufer bringt, immer in Gefahr, im grünen Phosphorglanz einer Leuchtrakete für die Soldaten auf beiden Ufern sichtbar zu werden. Am Ende wird die Jüdin um ein Haar vergewaltigt, und es gibt Tote.
Hin und wieder ist kapitelweise eine zweite Ebene eingebaut. Darin fährt der Erzähler, den wir für Andrzej Stasiuk halten dürfen, in der Gegenwart an die Schauplätze von einst. Am Bug liegt zugleich die Heimat der Familie, er kennt sie aus seiner Kindheit; er nimmt seinen offenbar dementen Vater mit auf die Reise in der Hoffnung, ihm noch etwas über die Kriegszeit zu entlocken: "Papa, was hast du denn im Krieg gemacht?" Nach längerer Pause die Antwort: "Ich habe Schuhe geputzt." Opas Schuhe? Oder die der deutschen Soldaten? Wir werden es nicht mehr erfahren. Die letzten Zeugen jener Zeit, sie sind kaum noch ansprechbar.
Und doch ist die Vergangenheit lebendig, denn sie war von ungeheurer Wucht. "Es gibt nichts Wichtigeres im Leben als den Krieg", berichtet uns der Erzähler von seinen Erkundungen. Das gilt erst recht für diese Region, die im Bannkreis der Rauchschwaden und des "schrecklichen, fettigen Gestanks" von Treblinka lebte oder noch immer lebt. Polen: "Ein Land der Angst. Ein Land der Trauer. Ein Land, vergessen von allen, und nur die Gruben und das Feuer bewirken, dass jemand daran denkt." Stasiuk versteht es wie kein anderer, in den Wunden und Komplexen seines Landes zu bohren. Die Polen sehen sich demnach "im Schlund der Geschichte", in einem "schwarzen Loch, dem schwarzen Arsch, Geiseln von Ost und West".
Nur zwei Sätze weiter erinnert sich der Erzähler an seine Kindheit: "Im Herbst sind wir immer zur Apfelernte aufgebrochen." Auch in der Apfelgroßmacht zwischen Oder und Bug geht die Geschichte weiter. Das Städtchen Drohiczyn am Bug, im Roman zu Dorohucza verfremdet, gibt es immer noch. Die Männer dort fluchen ebenso deftig und phantasievoll wie früher, was die bewährte Übersetzerin Renate Schmidgall in das fluchärmere Deutsch transponiert hat. Stasiuk hat mit "Grenzfahrt" nicht nur einen wunderbar sinnlichen Roman geschrieben, Farben, Gerüche, Stimmungen und Schicksale eingefangen. Er hat auch dem Polen des zwanzigsten Jahrhunderts, aus dem er kommt, ein Denkmal gesetzt. GERHARD GNAUCK
Andrzej Stasiuk: "Grenzfahrt". Roman.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, Berlin 2023. 355 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Stasiuk hat mit Grenzfahrt nicht nur einen wunderbar sinnlichen Roman geschrieben, Farben, Gerüche, Stimmungen und Schicksale eingefangen. Er hat auch dem Polen des zwanzigsten Jahrhunderts, aus dem er kommt, ein Denkmal gesetzt.« Gerhard Gnauck Frankfurter Allgemeine Zeitung 20231221