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Die wachsende Aufmerksamkeit der Mediziner für die Artikulation der Irren führte im 19. Jahrhundert nicht nur zur Geburt der modernen Psychiatrie, sondern ließ auch eine große Anzahl an »wahnsinnigen« Texten entstehen. Einige werden hier in Auszügen vorgestellt, so der 'Nothschrei eines magnetisch Vergifteten' von 1852 oder die Aufzeichnungen des Hungerkünstlers Succi in L. Lucianis 'Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen' von 1890. Der zweite Teil des Bandes diskutiert, wie Wissenschaft und Wahnsinn sich im Rahmen der Psychiatrie gegenseitig zur Sprache verhalfen. Mit Beiträgen von…mehr

Produktbeschreibung
Die wachsende Aufmerksamkeit der Mediziner für die Artikulation der Irren führte im 19. Jahrhundert nicht nur zur Geburt der modernen Psychiatrie, sondern ließ auch eine große Anzahl an »wahnsinnigen« Texten entstehen. Einige werden hier in Auszügen vorgestellt, so der 'Nothschrei eines magnetisch Vergifteten' von 1852 oder die Aufzeichnungen des Hungerkünstlers Succi in L. Lucianis 'Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen' von 1890. Der zweite Teil des Bandes diskutiert, wie Wissenschaft und Wahnsinn sich im Rahmen der Psychiatrie gegenseitig zur Sprache verhalfen. Mit Beiträgen von Michel Foucault, Sander L. Gilman, Wolfgang Hagen, Torsten Hahn, Albert Kümmel, Jutta Person, Nicolas Pethes, Stefan Rieger, Bernhard Siegert, Martin Stingelin und Christine Wunnicke.Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 2002
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Torsten Hahn ist wissenschaftlicher Assistent an der Universität zu Köln. Jutta Person Promoviert dort im Fachbereich Neuere deutsche Literatur. Nicolas Pethes ist im Rahmen des Emmy-Noether-Programms der DFG als Visiting Scholar an der Stanford University.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.05.2003

Meuchelmolche!
Wahrheit und Wahnsinn in
Zeiten der Experimentalkultur
„Doch zur Sache selbst! Man hat mich magnetisch vergiftet”, schrieb ein Ungenannter im Jahre 1831. Er beklagte sich über die schrecklichen Zoten und Flüche, die er seit zwanzig Jahren im Ohr habe, und vermutete: „Vorzüglich über dem Essen ward von der Rotte auf mein Gehirn so operirt”. Dietrich Georg Gieser, Facharzt für Psychiatrie, diagnostizierte eine „Melancholia occulta”. Gieser glaubte, dass Magnetismus Geistererscheinungen hervorrufen kann (was man heute anders sieht), vor allem aber, dass sich Okkultismus und Wissenschaft nicht spinnefeind sind, sondern gegenseitig erhellen. Damit lag er im Trend, wie der Band „Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen” zeigt.
Die Herausgeber charakterisieren die Zeitspanne von der Etablierung der Psychiatrie in Deutschland (etwa 1850) bis zum Aufkommen der Psychoanalyse als vermeintlich universeller Theorie der Geisteskrankheiten (1910) als jene Epoche, „in der das Wissen über den Wahn noch an das Wissen des Wahns gebunden ist”. Aufschlussreich sind vor allem Schriften von Kranken, in denen die sich entfaltende Experimentalkultur des 19. Jahrhunderts „weder als Zufall noch als Anbiederei, sondern vielmehr als epistemologische Struktur der Texte” erscheint. Die Theoriebildungen des Wahnsinns werden praktisch als das Unbewusste der Wissenschaft lesbar.
Deshalb beginnt der Band mit vier irren Schriften oder Dokumentationen irrer Schriften, die seit dem ersten Erscheinen so nicht mehr veröffentlicht worden sind, darunter der spektakuläre „Nothschrei eines Magnetisch- Vergifteten” von Friedrich Krauß, der sich wortgewaltig über die „niederträchtigen Giftmolche” beklagt, die ihn fertig machen, und Ludwig Staudenmeiser abgedrehter „Versuch zur Begründung einer wissenschaftlichen Experimentalmagie”. Angeführt von einer Neuübersetzung von Foucaults „Die psychiatrische Macht”, folgen elf Aufsätze, die neue Zugänge zum Komplex von Psychiatrie und Spiritismus bieten. Allem voran steht der schöne Essay „Bücher von Geisteskranken” von Walter Benjamin.Der bewundernswert vielschichtige Band führt und entführt in eine Welt, deren Phantasmen noch nicht von Biotechnik und Digitalismus, sondern von Elektrizität, Galvanismus und Magnetismus gesteuert wurden. Er gehört in jede „pathologische Bibliothek” (Benjamin).
ARNO ORZESSEK
TORSTEN HAHN, JUTTA PERSON, NICOLAS PETHES (Hrsg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2002. 332 Seiten, 35,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Der Wahn, das zeigen die Beiträge dieses Bandes, ist von dieser Welt und bedient sich gerne wissenschaftlicher Erkenntnisse. Vier Fallbeispiele werden vorgeführt, etwa das von Friedrich Krauß, der 1815 unter Wahnvorstellungen leidet, deren "Logik" Magnetismus, Mesmerismus und Äther-Theorie voraussetzt, also zeitgenössischer Wissenschaft. Krauß hielt sich für eine weltweit ferngelenkte "Drahtpuppe", ganz wie - so der Rezensent Niels Werber - ein "Cyber warrior der Zukunft", oder auch: ein Mann auf Radio-Empfang, vor Erfindung des Radios. Was der Band belegt, auch an den drei anderen Beispielen, ist die enge Verdrahtung von "Wahnsystem" und "Medienlandschaft". Der Rezensent zeigt sich fasziniert und hält das Buch für "ausgezeichnet".

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