Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2001

Prosa der Verhältnisse
Schmetterlingsmetz: Raul Zelik sucht den Beat der Literatur

Manche Leute fühlen sich schon ungeheuer gut und solidarisch, wenn sie Kaffee ohne anhaftendes Sklavenblut aus dem Dritte-Welt-Laden beziehen. Raul Zelik ließ es dabei nicht bewenden. Schon als Jugendlicher ging er nach Nicaragua, um die Sandinisten zu unterstützen. Seither engagiert sich der inzwischen zweiunddreißigjährige gebürtige Bayer in radikalen Berliner Gruppierungen gegen Ausländerhaß in deutschen Großstädten oder den Staatsterror in Kolumbien. Davon handeln auch seine Bücher, etwa die Berliner Geschichte "Friß oder stirb trotzdem" vom Untertauchen türkischer Antifaschisten nach dem Tod eines durch sie attackierten Nazikaders.

"Grenzgängerbeatz" enthält elf neue Texte, die allesamt gefunden und nicht erfunden sind. Die Prosa der Verhältnisse interessiert Zelik mehr als die Poesie des Lebens. Die soziographische Berliner "Spielzone" seiner Altersgenossin Tanja Dückers scheint hier zur internationalen Kampfzone ausgeweitet - allerdings mit noch empfindlicheren, wenn nicht gänzlichen Verlusten an literarischem Niveau. Den bunten und recht harmlosen multikulturellen Kiez bei Dückers ersetzt Zelik durch die Großstadtghettos, in denen türkische Gangs und deutsche Politaktivisten den Ton angeben.

Hier sind es die Sozialarbeiter, die einen fortwährenden Terror mit dem Wort "D-I-F-F-E-R-E-N-Z-I-E-R-E-N" ausüben. Der Leser soll lernen, daß etwa eine türkische Familie eigentlich nur Liebe und nicht Blutrache sucht, wenn sie überall nach ihrer zwangsverheirateten und deshalb flüchtigen Tochter fahndet. Andere Geschichten spielen in Lateinamerika, in der Westsahara oder im Baskenland. Auch mit ihnen will der weltläufige Grenzgänger Zelik die deutsche Provinz politisch und kulturell aufklären. Zugegeben, statt mit dem ideologischen Holzhammer geschieht das mit postkolonialer Korrektheit. In einer Reisereportage oder im politischen Sachbuch wäre sie am Platze. Doch die Botschaft macht noch keine Literatur. Bemüht und wenig elegant kommt sie daher. Wo steckt nur der "richtig witzige Witz" der Subversion, den Zelik in einem Interview kürzlich für sich beanspruchte? Sollte er sich in den Gags der Szenesprache verbergen, die so locker und cool zu sein versuchen? Die Realität Kreuzbergs kennt bessere Pointen - bis hin zu Romanen wie "Herr Lehmann" von Sven Regener. Zeliks unzählige Wortschöpfungen machen die Sache um nichts besser. Einen Sprachkurs nennt er "PommfritzLessingGoetheSchillerOléOléBVB-Assimilation", ein Klappmesser wird zum ",Schmetterlings-ich-zeig-dir-was-ein-wirklich-cooler-Typ-ist'-Teil". Bei vielen Lektoren, die das Manuskript ablehnten, kam diese Art Witz nicht an. Ignorante, humorlose Verlagswelt eben.

ALEXANDER KOSENINA

Raul Zelik: "Grenzgängerbeatz". Libertaere Assoziation, Berlin 2001. 200 S., geb., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit seinen elf neuen in dem Band "Grenzgängerbeatz" versammelten Texten versucht Paul Zelik, zwar in Bayern geboren, aber in "radikalen Berliner Gruppierungen" aktiv, eine "Prosa der Verhältnisse" zu schreiben, behauptet Rezensent Alexander Kosenina. Was hat man darunter zu verstehen? Der Autor beabsichtige, mit seinen Geschichten einen differenzierten Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse zu werfen, so zum Beispiel, wenn er die Suche einer türkischen Familie nach ihrer flüchtigen, weil zwangsverheirateten Tochter schildert und ihre eigentliche Motivation in der Liebe, nicht in der Blutrache ausmacht, erläutert der Rezensent. Bedauerlicherweise habe das Buch im Vergleich zu vorangegangenen Werken an Niveau verloren, die Botschaft wirke bemüht und auch Neologismen wie "Schmetterlings-ich-zeig-dir-was-ein-cooler-Typ-ist-Teil" (Klappmesser) seien nicht eines jeden Lektors Sache. Besonders dann, wenn dieser keinen Humor habe. Zelik will mit seinen Geschichten aus der Großstadt die Provinz politisch und kulturell aufklären - leider kennt die Realität "bessere Pointen", meint der enttäuschte Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH