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Entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, wo früher Stacheldraht und Grenztürme die Freiheit der Menschen beschnitten, erstreckt sich heute das Grüne Band. Dieses ehemalige Grenzgebiet ist inzwischen zu einer Oase für Pflanzen, Tiere und Menschen geworden. In diesem Buch erzählen 30 Zeitzeugen von ihrem Leben an und mit der früheren deutsch-deutschen Grenze. Die Geschichten bestechen durch ihre Nahbarkeit: Sie sind naturgemäß häufig erschreckend, brutal oder tragisch, mindestens so oft aber auch bewegend, detailreich und spannend, oft sogar klug…mehr

Produktbeschreibung
Entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, wo früher Stacheldraht und Grenztürme die Freiheit der Menschen beschnitten, erstreckt sich heute das Grüne Band. Dieses ehemalige Grenzgebiet ist inzwischen zu einer Oase für Pflanzen, Tiere und Menschen geworden. In diesem Buch erzählen 30 Zeitzeugen von ihrem Leben an und mit der früheren deutsch-deutschen Grenze. Die Geschichten bestechen durch ihre Nahbarkeit: Sie sind naturgemäß häufig erschreckend, brutal oder tragisch, mindestens so oft aber auch bewegend, detailreich und spannend, oft sogar klug und weise.Die Schilderungen zeigen, wie stark die deutsche Teilung in das persönliche Leben und Arbeiten der Menschen hineinwirkte. Aber auch, wie unterschiedlich die Menschen mit dieser lange als unabänderlich geltenden Grenze umgingen. Die Erinnerungen addieren sich so zu einem Kaleidoskop der Schicksale links und rechts des Eisernen Vorhangs. Sie sollen die Vorstellung nachgeborener Generationen von einer Epoche der deutschen Geschichte bereichern, die bis in die Gegenwart nachwirkt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2023

"Vom Todesstreifen zur Lebenslinie"

Die innerdeutsche Grenze teilte Deutschland einst in West und Ost. Doch zumindest in den Köpfen ist sie noch nicht überwunden, wie grün sie auch aussehen mag.

Eckhard Oborny war in den Sechziger Jahren ranghöchster Mitarbeiter im Tagebau Harbke in der DDR und wollte in den Westen fliehen. Der Tagebau war gleich an der Grenze. Also versteckte er acht Mitglieder seiner Familie in einer Bergbaulok und fuhr los. Ausgerechnet in dieser Nacht gelang es Oborny nicht, das Licht der Lok umzuschalten. Anstelle von weißem Licht leuchtete die Vorderseite des Zuges rot. Das fiel einer Stellwerkerin auf, die den Zug stoppte. Plötzlich fing Obornys kleine Tochter Kirsten an zu weinen. Da schaltete Oborny schnell den Kompressor ein und rief der Stellwerkerin zu, er müsse jetzt weiterfahren. Ob sie etwas bemerkt hatte, hat er nie erfahren. An der Kante des Tagebaus angekommen, stiegen sie aus und liefen die Böschung hinunter. Sie waren im Westen - und liefen trotzdem weiter, aus Angst, ein DDR-Grenzschützer würde auf sie schießen.

Obornys Flucht war damals ein Medienspektakel. Seine Gründe aber waren banal: Er war schlicht gelangweilt. Im starren DDR-System wurde er zwar befördert, hatte in der neuen Position aber nichts zu tun. Das Problem hatten viele der Zeitzeugen, die in dem Buch "Grenzschicksale: Als das grüne Band noch grau war" über ihr Leben an der innerdeutschen Grenze berichten. Die Texte der Autorin Ines Godazgar basieren auf Interviews, die sie überwiegend mit Zeitzeugen geführt hat, wobei sie durch Textpassagen einzelner Protagonisten ergänzt wurden.

Nicht alle Beteiligten wollten die DDR verlassen: Für Ralf Knapp etwa war sie sein Land, mehr als die Bundesrepublik es heute ist. Als er ein Kind war, beschlossen seine Eltern, den Westen zu verlassen, um den Sozialismus in der DDR so zu leben, wie er gedacht war. Auch Inge Jakobs wollte ihren Heimatort Böckwitz nicht verlassen, doch sie wurde dazu gezwungen. Ihre Familie gehörte zu den Betroffenen der sogenannten Aktion Ungeziefer, der zwangsweisen Umsiedlung von Grenzlandbewohnern, die als "politisch unzuverlässig" galten. Nach der Zwangsaussiedlung flohen Familie Jakobs in die Bundesrepublik und wohnte in Zicherie auf der westdeutschen Seite der Grenze. Von dort aus blickte Jakobs in Richtung ihrer alten Heimat. Böckwitz befand sich auf der ostdeutschen Seite, nur wenige Meter entfernt, doch durch die innerdeutsche Grenze unerreichbar.

Das Buch lebt von den vielen verschiedenen Perspektiven auf die Teilung Deutschlands und schafft durch die teilweise sehr unterschiedlichen Einschätzungen der Zeitzeugen einen vielschichtigen und differenzierten Einblick. Dabei hilft insbesondere die gelungene Dramaturgie. Durch die Anordnung der Zeitzeugnisse ergibt sich ein immer vollständigeres Bild. Im Laufe der Lektüre fallen dem Leser die Querverbindungen zwischen den einzelnen Geschichten auf, etwa die Beziehungen der Menschen untereinander oder Ereignisse, die auf eine bestimmte Art zusammenhängen. Diese Komposition der Texte führt zu regelmäßigen Aha-Momenten, man wird immer wieder mit neuen Aspekten der Teilung konfrontiert.

Das Buch erinnert aber auch daran, was es bedeutet, unter einem diktatorischen Herrschaftsapparat zu leben, der mit den Menschen, den er mit allen Mitteln zu halten versucht, eigentlich längst abgeschlossen hat. Es verdeutlicht das menschenverachtende Moment solcher Regime als Systeme, die ihre eigenen Bürger umbringen - und was das aus den Menschen machen kann. Der Horror zeigt sich beispielhaft an Szenen, in denen jemand gefragt wird: "Was machst du, wenn deine Mutter abhauen will?" - "Gut zielen. An der Grenze kenne ich keine Mutter."

Gleichzeitig mahnt das Buch allerdings auch vor einer zu einseitigen Geschichtsdeutung durch eine westliche Brille. Das zeigt sich im Beitrag des Historikers und Zeitzeugen Jan-Hendrik Prüße. Er ist kurz nach der Wiedervereinigung geboren, hat also die Teilung selbst nicht miterlebt. Da er allerdings nur wenige Hundert Meter entfernt auf der Westseite der ehemaligen Grenze aufwuchs, spielte sie in seiner Kindheit immer noch eine Rolle. Er kritisiert die (westliche) Erinnerungskultur, die einseitige Narrative befördere. Die Wahrnehmung - und damit in Konsequenz auch Selbstwahrnehmung - der Ostdeutschen als Deutsche zweiter Klasse sei bis heute noch präsent.

Durch die differenzierte Darstellung anstelle von simplifiziertem Schwarz-Weiß-Denken schafft das Buch es auch, die historischen Ereignisse auf die heutige gesellschaftliche Situation zu beziehen. Denn es wird deutlich, dass die Grenze zumindest in den Köpfen noch besteht. Man beginnt sich zu fragen: Warum eigentlich? Prüße erinnert sich an die Frage eines Reporters, ob er sich "Ost oder West" fühle. "Ich bin ein Wossi", antwortet er.

Wolfgang Bischoff, der 1978 als politischer Häftling vom Westen freigekauft wurde und heute wieder in seiner Geburtsstadt Magdeburg lebt, sagt: "Heute zieht sich der Todesstreifen, der einst die Menschen brachial voneinander trennte, als Grünes Band von Nord nach Süd durch unser Land. Eine schönere Transformation dieses Denkmals der Unterdrückung zu einem lebensbejahenden Symbol der Hoffnung kann ich mir nicht vorstellen!" Dabei werden die Zeitzeugnisse in dem Buch durch Bilder ergänzt. Sie illustrieren, wie es zur Zeit der Teilung an dem Todesstreifen mit seinen Zäunen und dem Stacheldraht ausgesehen hat. Vor allem zeigen sie aber das heutige Erblühen der Natur am Grünen Band und stellen somit auch die Transformation selbst dar. Das Grüne Band ist das erste gesamtdeutsche Naturschutzprojekt nach dem Fall der Berliner Mauer. Dessen Motto "Vom Todesstreifen zur Lebenslinie" wird durch die in dem Buch erzählten Schicksale umso lebendiger. Das Grüne Band ist nicht nur Erinnerungskultur, sondern auch Naturerlebnis. Es soll Touristen anlocken und zeigen, wie viel Potential in dem Nationalen Naturmonument steckt.

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung haben viele Menschen in Deutschland das Leben mit der Grenze nie kennengelernt. Für andere ist es vielleicht in den Hintergrund gerückt und wirkt aus der Entfernung nur noch blass. Viele Zeitzeugen schildern ihre erste Begegnung mit der innerdeutschen Grenze als erschütternd. Und das Entsetzen des Eisernen Vorhanges wirkt auch heute noch an einzelnen Stellen des Grünen Bandes, an denen Grenzdenkmäler zu vermitteln versuchen, was das Leben an so einer Grenze eigentlich bedeutet. Und so wie sich die Natur am Grünen Band ständig entwickelt, so ist auch die Wiedervereinigung mehr als ein punktuelles historisches Ereignis - nämlich ein gesellschaftlicher Prozess, der andauert und Arbeit erfordert. Das Buch "Grenzschicksale: Als das grüne Band noch grau war" leistet dabei einen wichtigen Beitrag und führt gleichzeitig vor Augen, dass solch eine Arbeit nicht nur notwendig, sondern auch lohnend ist. SARA TAIMOURI

Ines Godazgar: Grenzschicksale. Als das grüne Band noch grau war.

Verlag Janos Stekovics, Dößel 2023. 592 S., 32,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angeregt liest Rezensentin Sara Taimouri Ines Godazgars - teilweise im O-Ton, teilweise in literarischer Bearbeitung durch Godazgar vorliegende - Sammlung von Zeitzeugenberichten über das Leben an der innerdeutschen Grenze zu Zeiten der Teilung Deutschlands. Spektakuläre Fluchtgeschichten kommen vor, lernen wir, aber auch Erzählungen von Menschen, die die DDR gar nicht verlassen wollten, aber von familiären oder politischen Umständen dazu gezwungen wurden. Die Vielzahl der Perspektiven sowie deren dramaturgische Anordnung ist es, was den Reiz des Buchs ausmacht, findet die Rezensentin. Die Realität des Alltags in der DDR-Diktatur fällt bei all dem nicht unter den Tisch, weiß Taimouri, aber Kritiker eines einseitig westlichen Blicks auf die Geschichte kommen zu Wort. Außerdem zeigt das Buch, das gefällt der Rezensentin besonders gut, sowohl in Texten als auch in Illustrationen, wie sich der ehemalige Todesstreifen in ein "Grünes Band" verwandelt hat, das sogar zur touristischen Attraktion werden könnte. Ein schönes Buch, lautet das Fazit, das zeigt, dass die Wiedervereinigung als ein Prozess zu betrachten ist, an dem kontinuierlich weitergearbeitet werden muss.

© Perlentaucher Medien GmbH