Ob Stonehenge, die Tempel Babylons oder ägyptische Göttermythen: Die frühen Zivilisationen versuchten, die Geheimnisse des Himmels zu entschlüsseln. Seit dem spektakulären Fund der Himmelsscheibe von Nebra, der ältesten konkreten Darstellung des Himmels, wissen wir, dass auch in Mitteleuropa vor fast viertausend Jahren eine Kultur blühte, die nach den Sternen griff. Durch Handel reich geworden, ließen sich ihre Herrscher in gewaltigen Grabhügeln bestatten. Harald Meller und Kai Michel stellen in ihrem neuen Buch die Welt der Bronzezeit in faszinierenden Bildern vor. Sie zeigen, wie Archäologen immer neue Kontakte zwischen den Kulturen aufdecken, und präsentieren die neuesten Erkenntnisse der Forschung darüber, auf welche Weise das Wissen der Himmelsscheibe nach Nebra gelangt sein könnte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Robert Risch bekommt mit dem Buch von Harald Meller und Kai Michel ein Panorama der Bronzezeit. Eindrucksvoll findet er den mit Abbildungen und Illustrationen angereicherten Band, da die Autoren mit Mitteln der modernen Archäologie den sozialen und politischen Entwicklungen der Zeit nachgehen und die Bronzezeit mit ihren neuen Herrschaftsformen als Wegmarke in der Geschichte Europas und Asiens definieren. Die Frage, wie es möglich war, die Himmelsscheibe von Nebra als eines der herausragendsten Objekten der Bronzezeit zu konstruieren, beantworten die Autoren laut Risch auch, wenngleich auf gewagte Weise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2021Alles für die Legitimation der Eliten
Zeitmessung ist Macht: Harald Meller und Kai Michel untersuchen die soziale und politische Bedeutung der Himmelsscheibe von Nebra in der Bronzezeit.
Die Himmelsscheibe von Nebra ist nicht nur ein einzigartiges Objekt aus der Bronzezeit, sie ist auch der Auslöser einer faszinierenden Forschung, an der seit nun zwanzig Jahren die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen beteiligt sind. Nachdem Harald Meller und Kai Michel vor drei Jahren in ihrem Buch "Die Himmelsscheibe von Nebra" diese Forschung und ihre Ergebnisse einem breiten Publikum vorgestellt haben, erscheint mit "Griff nach den Sternen" ein reich illustrierter Band, der die Himmelsscheibe erstmals in das bronzezeitliche Panorama vor rund 3800 Jahren einordnet. Er stellt uns die sozialen und politischen Veränderungen einer Welt vor, die bis in unsere Gegenwart nachwirken.
Die Methoden und theoretischen Grundlagen der modernen Archäologie erlauben eine immer tiefere Reise in die Vergangenheit. Sie ermöglichen aber auch eine immer bessere Auseinandersetzung mit unserem eigenen Gesellschaftsverständnis, da sie uns vor Augen führen, dass vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, vor nicht allzu langer Zeit unter besonderen Bedingungen entstanden ist. In dieser Hinsicht gehört die Bronzezeit zu den entscheidenden Wegmarken der Geschichte Europas und Asiens, im Gegensatz zu allen anderen Kontinenten, wo es diese Periode nie gab oder sie, wie im Falle Afrikas südlich der Sahara, übersprungen wurde.
Damals bildeten sich in manchen Regionen Europas ausgeprägte soziale Hierarchien. Neue Formen von Herrschaft entstanden. Erst in diesem Kontext wird die Himmelsscheibe von Nebra verständlich. Angefertigt wurde sie in der mitteldeutschen Aunjetitz-Kultur zwischen 1800 und 1750 vor Christus mit der damals besten Schmiedetechnik, die durch Vorbilder aus der Ägäis inspiriert zu sein scheint. Das Zinn für ihre Bronze stammte aus dem englischen Cornwall, woher auch das Gold der Himmelskörper kam. Nachdem sie über mehrere Generationen verwendet und wiederholt umgestaltet wurde, vergrub man sie um 1600 vor Christus auf dem Mittelberg bei Nebra.
Die Himmelsscheibe ist das älteste bekannte Instrument der Menschheit, um einen Kalender zu erstellen und somit Zeit exakt in Jahren zu messen. Die dafür angewandte Methode, die auf der Bronzescheibe festgehalten worden ist, war damals wahrscheinlich nur in Mesopotamien bekannt. In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, denen wir intensive Forschungen zur Himmelsscheibe und zur wirtschaftlichen Kraft, sozialen und politischen Struktur sowie Ideologie ihrer Kultur verdanken: In welcher Art von Gesellschaft wird die verlässliche Zählung der Jahre, und eben nicht nur die für die Landwirtschaft wichtige Bestimmung von Jahreszeiten, so bedeutsam, dass man sie auf gut zwei Kilogramm Bronze und rund dreißig Gramm Gold kodiert? Und: Wie kam man im Herzen Mitteleuropas an das notwendige astronomische und mathematische Wissen aus Mesopotamien?
Neue Forschungsergebnisse erlauben es Meller und Michel, auf beide Fragen gewagte Antworten zu geben. Nur in einer Staatsgesellschaft entstünden Macht- und Reichtumsverhältnisse, in denen komplexes Wissen zur Zeitmessung und -vorhersage für die Legitimation der Eliten sinnvoll und für die Organisation von auf Abgaben beruhenden Sozialstrukturen notwendig wird. Dieses Wissen sei nicht langsam über mehrere Zwischenstationen in das Herz Europas gekommen, sondern durch Angehörige der Eliten, die direkt in den Vorderen Orient reisten.
Diese Thesen mögen zuerst Skepsis hervorrufen, verdeutlichen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Archäologie. Er wurde nicht zuletzt ausgelöst durch die genetische Erforschung der Beziehung zwischen Menschen - und damit auch ihrer Mobilität. Hinzu kamen immer verfeinertere archäometrische Methoden zur Bestimmung der Herkunft und Zirkulation von Rohstoffen wie Gold oder Zinn in den vergangenen Jahren.
"Griff nach den Sternen" stellt also nicht nur den Hort von Nebra und die Aunjetitz-Kultur vor, sondern geht allen möglichen Verbindungen nach, die sich aus der Archäologie Mitteldeutschlands ergeben. Das geschieht sehr kundig, da Harald Meller als Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt seit zwanzig Jahren diese Forschungen leitet. Die Reise der Autoren führt von Stonehenge und der reichen Bronzezeit Skandinaviens über die Städte und Paläste von El Argar in Südspanien, den befestigten Siedlungen Süditaliens und das mykenische und minoische Griechenland bis nach Assur, Babylon und sogar Ägypten ins Niltal. Mögliche Kontakte und Beziehungen zwischen den Menschen der damaligen Zeit werden anhand der Zirkulation von Objekten und Rohmaterialien aufgezeigt, aber auch anhand der Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Praktiken, Wissen und Ideologien in vielen Gebieten, begleitet von den neuesten Ergebnissen der Archäogenetik.
Damit bietet der Band einen aktuellen, von Nebra ausgehenden Überblick der Bronzezeit Europas und des Vorderen Orients, insbesondere über die Zeit zwischen 2200 bis 1200 vor Christus. Über zweihundert Abbildungen der materiellen Hinterlassenschaften erlauben es, die aufgestellten Hypothesen zu überprüfen. Illustrationen entwerfen ein mögliches Bild der damaligen Verhältnisse. So entsteht ein eindrucksvolles Panorama der Bronzezeit. Das Buch kann jedoch auch in Hinblick auf die Frage gelesen werden, was die Entstehung von Staaten und Ausübung von Herrschaft in der Geschichte bedeuten und welche Folgen sie für die Menschheit bis heute haben. Wie konnten sich, nach einer über 100 000 Jahre langen Menschheitsgeschichte, in der kooperative und kollektive Organisationsformen eher die Regel als die Ausnahme waren, in bestimmten Gebieten Herrschaftsklassen herausbilden, die den Rest der Gesellschaft zur Leistung von Diensten und Steuerabgaben zwangen? Die von Meller und Michel vorgestellten Gesellschaften Europas und des Vorderen Orients und Ägyptens zeigen, wie langsam und instabil dieser Prozess war, der den bestimmenden Umbruch der Bronzezeit darstellt, weil er gegen teils massive Widerstände durchgesetzt werden musste.
ROBERT RISCH
Harald Meller, Kai Michel: "Griff nach den Sternen". Nebra - Stonehenge -
Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe. Propyläen Verlag, Berlin 2021. 272 S., Abb., geb.,39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeitmessung ist Macht: Harald Meller und Kai Michel untersuchen die soziale und politische Bedeutung der Himmelsscheibe von Nebra in der Bronzezeit.
Die Himmelsscheibe von Nebra ist nicht nur ein einzigartiges Objekt aus der Bronzezeit, sie ist auch der Auslöser einer faszinierenden Forschung, an der seit nun zwanzig Jahren die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen beteiligt sind. Nachdem Harald Meller und Kai Michel vor drei Jahren in ihrem Buch "Die Himmelsscheibe von Nebra" diese Forschung und ihre Ergebnisse einem breiten Publikum vorgestellt haben, erscheint mit "Griff nach den Sternen" ein reich illustrierter Band, der die Himmelsscheibe erstmals in das bronzezeitliche Panorama vor rund 3800 Jahren einordnet. Er stellt uns die sozialen und politischen Veränderungen einer Welt vor, die bis in unsere Gegenwart nachwirken.
Die Methoden und theoretischen Grundlagen der modernen Archäologie erlauben eine immer tiefere Reise in die Vergangenheit. Sie ermöglichen aber auch eine immer bessere Auseinandersetzung mit unserem eigenen Gesellschaftsverständnis, da sie uns vor Augen führen, dass vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, vor nicht allzu langer Zeit unter besonderen Bedingungen entstanden ist. In dieser Hinsicht gehört die Bronzezeit zu den entscheidenden Wegmarken der Geschichte Europas und Asiens, im Gegensatz zu allen anderen Kontinenten, wo es diese Periode nie gab oder sie, wie im Falle Afrikas südlich der Sahara, übersprungen wurde.
Damals bildeten sich in manchen Regionen Europas ausgeprägte soziale Hierarchien. Neue Formen von Herrschaft entstanden. Erst in diesem Kontext wird die Himmelsscheibe von Nebra verständlich. Angefertigt wurde sie in der mitteldeutschen Aunjetitz-Kultur zwischen 1800 und 1750 vor Christus mit der damals besten Schmiedetechnik, die durch Vorbilder aus der Ägäis inspiriert zu sein scheint. Das Zinn für ihre Bronze stammte aus dem englischen Cornwall, woher auch das Gold der Himmelskörper kam. Nachdem sie über mehrere Generationen verwendet und wiederholt umgestaltet wurde, vergrub man sie um 1600 vor Christus auf dem Mittelberg bei Nebra.
Die Himmelsscheibe ist das älteste bekannte Instrument der Menschheit, um einen Kalender zu erstellen und somit Zeit exakt in Jahren zu messen. Die dafür angewandte Methode, die auf der Bronzescheibe festgehalten worden ist, war damals wahrscheinlich nur in Mesopotamien bekannt. In diesem Kontext stellen sich zwei Fragen, denen wir intensive Forschungen zur Himmelsscheibe und zur wirtschaftlichen Kraft, sozialen und politischen Struktur sowie Ideologie ihrer Kultur verdanken: In welcher Art von Gesellschaft wird die verlässliche Zählung der Jahre, und eben nicht nur die für die Landwirtschaft wichtige Bestimmung von Jahreszeiten, so bedeutsam, dass man sie auf gut zwei Kilogramm Bronze und rund dreißig Gramm Gold kodiert? Und: Wie kam man im Herzen Mitteleuropas an das notwendige astronomische und mathematische Wissen aus Mesopotamien?
Neue Forschungsergebnisse erlauben es Meller und Michel, auf beide Fragen gewagte Antworten zu geben. Nur in einer Staatsgesellschaft entstünden Macht- und Reichtumsverhältnisse, in denen komplexes Wissen zur Zeitmessung und -vorhersage für die Legitimation der Eliten sinnvoll und für die Organisation von auf Abgaben beruhenden Sozialstrukturen notwendig wird. Dieses Wissen sei nicht langsam über mehrere Zwischenstationen in das Herz Europas gekommen, sondern durch Angehörige der Eliten, die direkt in den Vorderen Orient reisten.
Diese Thesen mögen zuerst Skepsis hervorrufen, verdeutlichen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Archäologie. Er wurde nicht zuletzt ausgelöst durch die genetische Erforschung der Beziehung zwischen Menschen - und damit auch ihrer Mobilität. Hinzu kamen immer verfeinertere archäometrische Methoden zur Bestimmung der Herkunft und Zirkulation von Rohstoffen wie Gold oder Zinn in den vergangenen Jahren.
"Griff nach den Sternen" stellt also nicht nur den Hort von Nebra und die Aunjetitz-Kultur vor, sondern geht allen möglichen Verbindungen nach, die sich aus der Archäologie Mitteldeutschlands ergeben. Das geschieht sehr kundig, da Harald Meller als Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt seit zwanzig Jahren diese Forschungen leitet. Die Reise der Autoren führt von Stonehenge und der reichen Bronzezeit Skandinaviens über die Städte und Paläste von El Argar in Südspanien, den befestigten Siedlungen Süditaliens und das mykenische und minoische Griechenland bis nach Assur, Babylon und sogar Ägypten ins Niltal. Mögliche Kontakte und Beziehungen zwischen den Menschen der damaligen Zeit werden anhand der Zirkulation von Objekten und Rohmaterialien aufgezeigt, aber auch anhand der Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Praktiken, Wissen und Ideologien in vielen Gebieten, begleitet von den neuesten Ergebnissen der Archäogenetik.
Damit bietet der Band einen aktuellen, von Nebra ausgehenden Überblick der Bronzezeit Europas und des Vorderen Orients, insbesondere über die Zeit zwischen 2200 bis 1200 vor Christus. Über zweihundert Abbildungen der materiellen Hinterlassenschaften erlauben es, die aufgestellten Hypothesen zu überprüfen. Illustrationen entwerfen ein mögliches Bild der damaligen Verhältnisse. So entsteht ein eindrucksvolles Panorama der Bronzezeit. Das Buch kann jedoch auch in Hinblick auf die Frage gelesen werden, was die Entstehung von Staaten und Ausübung von Herrschaft in der Geschichte bedeuten und welche Folgen sie für die Menschheit bis heute haben. Wie konnten sich, nach einer über 100 000 Jahre langen Menschheitsgeschichte, in der kooperative und kollektive Organisationsformen eher die Regel als die Ausnahme waren, in bestimmten Gebieten Herrschaftsklassen herausbilden, die den Rest der Gesellschaft zur Leistung von Diensten und Steuerabgaben zwangen? Die von Meller und Michel vorgestellten Gesellschaften Europas und des Vorderen Orients und Ägyptens zeigen, wie langsam und instabil dieser Prozess war, der den bestimmenden Umbruch der Bronzezeit darstellt, weil er gegen teils massive Widerstände durchgesetzt werden musste.
ROBERT RISCH
Harald Meller, Kai Michel: "Griff nach den Sternen". Nebra - Stonehenge -
Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe. Propyläen Verlag, Berlin 2021. 272 S., Abb., geb.,39,- [Euro].
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"ein bildgewaltiges und gut lesbares Buch auf Grundlage jahrelanger Forschungen und neuer Entdeckungen" Guido Kleinhubbert Der Spiegel 20210724