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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2012

Einer zahlt immer die Zeche

Was wären Märchen ohne Schatzsucher? Nichts. Das wussten die Brüder Grimm so gut wie mancher Autor unserer Zeit. Doch wer "Tausendundeine Nacht", den "Hobbit" oder Cornelia Funkes "Reckless"-Serie aufmerksam liest, der merkt schnell: Auch im Märchen gibt es Wunder nicht umsonst.

Von Tilman Spreckelsen

Ein Märchen der Brüder Grimm beginnt so: "Zur Winterszeit, als einmal tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil es so erfroren war, noch nicht nach Hause gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. ,Wenn der Schlüssel nur passt!', dachte er. ,Es sind gewiss kostbare Sachen in dem Kästchen.'"

Vielleicht sollte man an dieser Stelle innehalten und fragen, was der Junge da eigentlich gerade vorhat. Und ob das, was er vorhat, ihm eigentlich guttun wird. Wer aufmerksam die "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm durchliest, deren Erscheinen sich in dieser Woche zum 200. Mal jährte, der wird darin lauter gute Gründe finden, nicht einfach leichtfertig ein Schloss zu öffnen, nur weil man zufällig den Schlüssel dazu besitzt.

Da gibt es das Märchen vom "Marienkind", einem Mädchen, das gnadenhalber schon zu Lebzeiten in den Himmel kommt und dort fröhlich mit den Engeln spielt. Erzogen wird das Kind von der Jungfrau Maria, und als die einmal in dringenden Geschäften verreisen muss, vertraut sie dem Mädchen ihren Schlüsselbund an. Zwölf Türen darf sie öffnen, nicht aber die dreizehnte, und als das Mädchen das in dieser "Blaubart"-Variante natürlich doch tut, stürzt sie geradewegs ins tiefste Elend. Die wütende Himmelsjungfrau verfolgt sie bis in ihre Träume, schließlich landet das verstockt leugnende Mädchen sogar auf dem Scheiterhaufen - und das alles nur, weil sie hinter der dreizehnten Tür einen kurzen Blick auf die dort thronende Dreifaltigkeit geworfen hatte.

Oder das Märchen "Der getreue Johannes": Der Titelheld unternimmt alles, den jungen König zu schützen, schließlich hatte er es dem alten einst auf dem Totenbett geschworen. Also läuft er mit ihm durch das Königsschloss, einen riesigen Schlüsselbund in der Hand, und lotst seinen Herrn an einer bestimmten Tür so lange vorbei, bis der König misstrauisch wird, das Öffnen erzwingt und prompt in Ohnmacht fällt, weil er den Anblick eines in diesem Zimmer verborgenen Bildes nicht erträgt: Es zeigt eine wunderschöne Frau. Und natürlich fangen nun die Probleme erst an, deren Lösung den getreuen Johannes das Leben kosten wird.

Dass es jedenfalls nicht ratsam ist, irgendwelche Behältnisse einfach so zu öffnen, ist uralte Märchenweisheit und jedem Leser von "Tausendundeine Nacht" bestens vertraut - schließlich ist die Aussicht, nach dem Entkorken einer versiegelten Flaschenpost plötzlich einen wütenden Dschinn vor sich zu haben, nicht besonders erfreulich. In der arabischen Märchensammlung, die ein knappes Jahrhundert vor den "Kinder- und Hausmärchen" in französischer Übersetzung erstmals im Druck erschienen ist, wird die Unwägbarkeit im Umgang mit verschlossenen vielversprechenden Schätzen erst richtig deutlich: Hätte der Fischer ihn in den ersten zweihundert Jahren seit seiner Verbannung in die Flasche befreit, sagt der Dschinn, dann hätte er seinen Retter immerhin "reich gemacht". Nach weiteren zweihundert Jahren wollte er dem potentiellen Finder "alle Schätze der Erde öffnen". Wiederum zweihundert Jahre später wäre der Befreier sogar "zum Sultan" geworden, und der dankbare Geist hätte ihm "täglich drei Wünsche gewährt". Als aber all dies ohne Ergebnis blieb, wurde der eingeschlossene Dschinn so wütend, dass er nun beschloss, den säumigen Retter, wenn er denn endlich erschiene, sofort zu töten. Schätze, so mag man sich das auslegen, sind keineswegs statisch in ihrer Bedeutung für den Finder: Sie können ihn unermesslich reich machen oder ihm den Tod bringen, je nachdem, unter welchen Auspizien die Begegnung statt findet.

Ist der Junge, der im Schnee den Schlüssel findet und das zugehörige Kästchen sucht, also gewarnt?

Das Märchen vom goldenen Schlüssel erzählt uns so gut wie nichts über den Entdecker von Schlüssel und Kästchen - außer dass er arm ist. Viel hat er also nicht zu verlieren, der Schlüssel ist für ihn mehr Chance als Gefahr, der Rest bleibt im Dunkeln. Diese spannungssteigernde Diskretion geht vermutlich weniger auf das Konto der Brüder Grimm als auf das der Kasseler Bürgerstochter Marie Hassenpflug (1788 bis 1856), die ihnen dieses Märchen und noch einige andere mehr erzählte: Von ihr stammen unter anderem "Brüderchen und Schwesterchen", "Dornröschen" oder "Das Mädchen ohne Hände". Im Prachtband "Es war einmal - Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte" (erschienen bei Aufbau) stellen Heinz Rölleke und Albert Schindehütte die Beiträger der Märchensammlung vor. Sie stützen sich dabei auf Notizen im Handexemplar der Brüder. "Von der Marie" steht da etwa, was auf die älteste der Hassenpflug-Schwestern und eifrige Teilnehmerin an den literarischen Zusammenkünften der Grimms hindeutet. Später, nach ihrer Hochzeit mit dem kurhessischen Offizier Friedrich von Dalwigk, lebte sie als Hofdame auf Schloss Wabern und leistete dort der psychisch labilen Herzogin Friederike von Anhalt-Bernburg Gesellschaft. Es heißt, dass sie der Fürstin abends immer Märchen erzählt habe, um ihr zum Einschlafen zu verhelfen. Man wüsste gern, welche.

Das Märchen vom "Goldenen Schlüssel" hatte Marie Hassenpflug nach einer Notiz von Wilhelm Grimm im Mai 1813 erzählt, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des ersten Teils der Sammlung. Die Brüder nahmen das Märchen gern in alle folgenden Auflagen auf, während sie viele andere Texte wieder daraus entfernten, darunter so berühmte wie "Blaubart" oder "Der gestiefelte Kater" (in beiden Fällen störte die deutlich hindurchschimmernde französische Vorlage Perraults das Bild der "ächt hessischen" Geschichten, die mit der Sammlung verbreitet werden sollten).

Warum schätzten Jacob und Wilhelm Grimm den "Goldenen Schlüssel"?

In Cornelia Funkes Romanserie "Reckless" um zwei Brüder namens Jacob und Will gibt es neben unserer noch eine Parallelwelt, in der Jacob, der ältere der beiden, regelmäßig unterwegs ist. Es ist eine Welt, die sich aus dem Inventar hauptsächlich der Märchen der Brüder Grimm speist. Jacob bekommt es mit Dornröschen und ihrer Burg zu tun, mit Einhörnern, Feen, Zwergen und Ungeheuern. Es ist eine unheimliche Welt, jederzeit lebensgefährlich und ohne Rückzugsort. Dass sich Jacob ihr aussetzt, hat viele Gründe. Einer davon ist, dass er zum professionellen Schatzsucher geworden ist, der die magischen Accessoires der Märchen aufsucht, an sich bringt und an zahlungskräftige Kunden weitergibt. Rapunzels Haar dient da als extrem dünnes und sehr belastbares Kletterseil, Tischleindeckdich und Knüppelausdemsack sind Reiseproviant und Waffe, der goldene Ball aus dem "Froschkönig" schließlich wird zu einem Kerker für zu Miniaturgröße geschrumpfte Gegner.

Natürlich ist die Konstellation von Jacob und Will Reckless eine Reminiszenz an die Brüder Grimm, und ebenso evident ist die Hommage an die rührigen Märchensammler durch Jacobs Schatzsucherprofession. Indem Cornelia Funke aber dieses Element so in den Vordergrund stellt, macht sie auf etwas Drittes aufmerksam: Schätze prägen auf unterschiedliche Weise auch die Märchen der Brüder Grimm erheblich. Kaum jemand, der in höchste Not gerät und davonkommt, rettet dabei nur sein Leben. Auch Reichtum stellt sich zuverlässig ein, sei es durch einen gefundenen oder erworbenen Hort, sei es durch die Hochzeit mit der schönen Prinzessin, deren Vater den Schwiegersohn dann mit dem halben Königreich beschenkt. Und die vom Flaschengeist bekannte wandelbare Konsistenz des Schatzes setzt sich ganz unmittelbar in Märchen fort, in denen ein Mensch für den Dienst bei übernatürlichen Wesen einen Lohn erhält, den er für Kohlenstücke, Tannenzapfen oder gar Kot hält und zornig wegwirft. Nur um am nächsten Morgen in einer Falte seines Rucksacks ein Goldstück zu entdecken, aufgeregt zurückzulaufen und festzustellen, dass sein Lohn verschwunden ist.

Fortsetzung auf der folgenden Seite.

In der Parallelwelt, in der sich Funkes Helden bewegen, verstricken sie sich nur allzu schnell in einem Netz von dringenden Aufgaben, die sich oft nur erledigen lassen, indem weitere, noch kompliziertere akzeptiert werden: Hier einen Schatz erstreiten, heißt dort einem Unhold Hilfe bei einem mühseligen Unterfangen versprechen; hier ein Leben retten, verlangt, sich dort in dreifache Lebensgefahr zu begeben. Das eherne, von allen akzeptierte Gesetz lautet: In dieser Märchenwelt gibt es nichts umsonst. Für jedes Wunder zahlt irgendjemand die Zeche.

Sucht man nach den Grundlagen für dieses Gesetz in den Märchen der Brüder Grimm oder anderer Autoren, dann wird man überraschend schnell fündig. Zum Beispiel im schwedischen Volksmärchen "Lasse, mein Knecht", publiziert 1883 in Stockholm. Dort ist von einem jungen Lebenskünstler die Rede, der alles ererbte Geld durchgebracht hat. Ein Zufall spielt ihm einen Zettel in die Hand, "Lasse mein Knecht" steht darauf, und bald entdeckt er, dass er, liest er die drei Worte laut vor, zur Antwort bekommt: "Was befiehlt der Herr?"

Der Tunichtgut befiehlt eine Menge - ein Schloss, neue Kleider, eine Kutsche, rauschende Feste -, bis er den Zettel verliert und damit all sein Glück. Als er schon am Galgen baumelt, kommen auf einmal sieben Wagen angefahren, alle voller zerrissener Schuhe, und auf dem letzten hockt ein Zwerg, entsetzlich müde und abgemagert, aber sichtlich erleichtert und sogar mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. "Ja, dort hängst du nun", sagt er zu dem Tunichtgut, "und hier fahre ich mit allen den Schuhen, die ich für dein dummes Zeug zerrissen habe."

Schätze, das lehrt dieses Märchenkleinod, wollen erarbeitet werden, sie fallen nicht vom Himmel, und wenn sie es doch tun, bezahlt man auf andere Weise. In Richard Volkmann-Leanders Kunstmärchen "Der Wunschring" (aus seinen "Träumereien an französischen Kaminen" von 1871) kommt ein junger Mann zufällig an einen Ring, von dem es heißt, er könne einen Wunsch erfüllen - einen einzigen, dann ist seine Macht dahin. Er verplappert sich gegenüber einem Goldschmied, der vertauscht heimlich den Ring gegen einen ganz ähnlichen, und der junge Mann zieht seines Weges.

Der Dieb stellt sich in seine Stube und sagt "Ich will gleich hunderttausend Taler haben." Die fallen dann auf ihn herab, ein Goldstück nach dem anderen, so viele, dass der Dielenboden bricht. "Zuletzt lag der Goldschmied tot im Keller und auf ihm das viele Geld." Und der Betrogene? Der geht nach Hause, heiratet und ist oft in Versuchung, den Wunschring zu benutzen. Aber jedes Mal entscheidet er sich dazu, das Gewünschte lieber zu erarbeiten und den Wunsch aufzusparen. So hält er es bis an sein Lebensende.

Dass Schätze eine Gefahr gerade für denjenigen darstellen, der sie besitzt, ist vielen Märchen eingeschrieben - und auch Texten, die erheblich durch Märchenelemente strukturiert sind, ohne selbst eindeutig der Gattung anzugehören. Dabei kommt zu dem Risiko, um des Schatzes willen attackiert oder sogar ums Leben gebracht zu werden, noch ein zweites, literarisch weit ergiebigeres: Wer glaubt, einen Schatz zu besitzen, muss damit rechnen, dass sich irgendwann die Verhältnisse umkehren und er unter das Joch seines Besitzes gerät. In seinen Romanen "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe" führt Tolkien dies am kläglichen Gollum vor, der sein ganzes Dasein auf seinen "Schatzzz" abgestimmt hat, einen magischen Ring, um dessentwillen er sich in eine unterirdische Höhle zurückgezogen hat. Sein Gegenüber ist der Hobbit Bilbo Beutlin, der in den Besitz des Ringes gelangt und sich gerade noch rechtzeitig von ihm trennt, bevor auch bei ihm die Verwandlung einsetzt und der Schatz ihn zum Ungeheuer macht.

"So viel ist sicher: Wo ein Ungeheuer ist, ist auch ein Schatz", schreibt Felicitas Hoppe in ihren Augsburger Vorlesungen, die 2009 unter dem Titel "Sieben Schätze" erschienen sind und sich unter anderem der Frage nach dem Eigenleben der Schätze im Märchen widmen. Wo aber dies zur Gefahr wird, und das wird es fast immer, wird man denjenigen umso glücklicher nennen, der sich die Entscheidung darüber vorbehält, was für ihn Schatz ist und was nicht.

Wie das geht, zeigt eines der berühmtesten Märchen der Brüder Grimm. Da dient ein gewisser Hans sieben Jahre lang und erhält als Lohn einen kopfgroßen Goldklumpen. Er macht sich auf den Heimweg zu seiner Mutter, ist aber durch den Fußweg im gleißenden Sonnenschein so ermattet, dass er bei der ersten Gelegenheit sein Gold gegen ein Pferd eintauscht.

"Hans war seelenfroh, als er auf dem Pferde saß und so frank und frei dahinritt", heißt es nun, und jeder einzelne Tausch, der ihn nacheinander zum Besitzer einer Kuh, eines Schweins, einer Gans und eines Wetzsteins macht, wird von ihm lauthals gepriesen. Immer ist es eine Wende zum Besseren, wenigstens für ihn, der nicht abstrakt den Geldwert berechnet, sondern den augenblicklichen Nutzen, den er jeweils aus den Tieren oder schließlich dem Wetzstein zieht. Als ihn der am Ende drückt und durch einen Zufall in einen Brunnen fällt, kniet Hans nieder und dankt "Gott mit Tränen in den Augen". Dann fallen die seither vielzitierten Worte: "So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne." Damit könnte er sogar recht haben.

Als Marie Hassenpflug 1813 in Kassel das Märchen vom "Goldenen Schlüssel" erzählte, arbeitete Johann Wolfgang von Goethe bereits seit einigen Jahren an der ersten Fassung seines Romans "Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden", die 1821 als Fragment erscheinen sollte - erst 1829 wurde der vollständige Roman publiziert. Zu Beginn, im vierten Kapitel des ersten Teils, findet Wilhelm Meisters Sohn Felix in einem verlassenen Schloss in den Bergen "ein Kästchen, nicht größer als ein kleiner Oktavband, von prächtigem altem Ansehn, es scheint von Gold zu sein, mit Schmelz geziert". Allerdings fehlt der Schlüssel. Lange Zeit später, der Roman steuert schon auf sein Ende zu, erreicht Wilhelm und Felix dann die Nachricht, der Schlüssel sei andernorts gefunden worden. Schließlich kommt es zur Zusammenführung von Kasten und Schlüssel. Da sich aber die Ereignisse überstürzen, gerät die Sache halb in Vergessenheit: Niemand steckt den Schlüssel ins Schloss, und der Leser kann die zentrale Forderung des Romans an seine Protagonisten, die Entsagung, nun selbst praktizieren: Er muss akzeptieren, niemals eine Antwort auf die Frage zu erhalten, was in dem ominösen Kästchen sei.

In Marie Hassenpflugs Märchen sieht die Sache etwas anders aus. Sie hält den Leser in andauernder Erwartung. Bei ihr heißt es über den Jungen im Wald: "Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen."

Seit "Der goldene Schlüssel" in die "Kinder- und Hausmärchen" aufgenommen wurde, steht dieses Märchen in allen Ausgaben an letzter Stelle. Aus gutem Grund: Besser, verheißungsvoller kann eine Märchensammlung nicht enden.

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