Nach der Wiederentdeckung der simplicianischen Werke: die einzigartige Lebensgeschichte des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen._Nicht einmal das Datum seiner Geburt in Gelnhausen kennen wir exakt (1621 oder 1622), und die ersten Lebensjahrzehnte liegen genauso wie die Ursprünge seines literarischen Schaffens im Dunkeln: Wer war dieser Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, ein Bäckersohn, der in den Dreißigjährigen Krieg geworfen und vom Musketier zum Weltautor, zum Verfasser des wohl bedeutendsten Romans in deutscher Sprache wurde?_Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich niemand mehr an eine größere Biografie dieses so modernen Barockschriftstellers gewagt._Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz sind literarische Spurensucher und leidenschaftliche Grimmelshausen-Detektive, deren immenser Kenntnis aufsehenerregende Funde von Urkunden und Chroniken, Geschichtswerken und Briefen zu verdanken sind: Wir können einen überraschend neuen Blick auf den Autor der »simplicianischen Schriften« werfen._Faktenreich, lebendig geschrieben und so profund wie noch nie erhellen Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz die geheimnisvolle Lebensgeschichte dieses Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen und verfassen zugleich die Einführung in ein Literaturwunder des 17. Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.2012Der Mann hinter den Maskeraden
Detektivarbeit: Das Leben des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen
Voller Entzücken wundert sich die literarische Welt derzeit über die raffinierten Mystifikationen von Felicitas Hoppe, die im neuen Roman "Hoppe" Licht in ihr eigenes Leben wirft, das sich als eine große Erfindung erweist (F.A.Z. vom 3. März). Unsere Verwunderung verdankt sich dem Vergessen, denn solche Verrätselungen und Scharaden sind in der redseligen Gegenwart aus der Mode gekommen. Ihr unbestrittener Meister war Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der seinen "Simplicissimus" als German Schleifheim von Sulsfort publizierte. Dies ist nur eines von insgesamt elf Pseudonymen, die sich - tüchtig geschüttelt - allesamt als Anagramme des Autorennamens erweisen. Wenn nun in "Hoppe" ein germanistisch versierter Detektiv "fh" der F. Hoppe nachforscht, dann ähnelt das der fröhlichen Jagd von Anagrammisten bei Grimmelshausen, die ein gewisser Simplicissimus nebst weiterem Romanpersonal, etwa Courage und Springinsfeld, vor sich her hetzt.
Und doch bleibt die Vita von Grimmelshausen vielfach in Dunkel gehüllt. Nach dem literaturgeschichtlichen Chefermittler Gustav Könnecke, dessen Schatzsammlung 1926 und 1928 postum erschien, haben jetzt der Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke und der Kulturredakteur Hans Sarkowicz alle verbürgten Fakten mit den raffinierten Herausgeberfiktionen, Vorredenspielen und anagrammatischen Maskeraden zu einem neuen Lebensbild verbunden. Das reichillustrierte Buch ist mehr als eine klassische Biographie: Es kombiniert Genealogie mit der Politik des Dreißigjährigen Krieges und der Kultur- und Lokalgeschichte am Geburtsort Gelnhausen sowie den vielen späteren Wirkungsstätten, meist in Hessen. Vor allem basiert es aber auf mikroskopischen Deutungen von Romanpassagen.
Grimmelshausens und Simplicissimus' Leben verlaufen über weite Strecken parallel, weichen an entscheidenden Stellen aber voneinander ab. Häufig überführen die Verfasser den einen als ungenauen Chronisten und den anderen als unzuverlässigen "Autobiographen". Die angebotenen Entschlüsselungen sind dann oft so raffiniert wie etwa die rätselhaften Andeutungen, die Simplicissimus im Laufe der Zeit über seine verborgene Herkunft erhält und die sich zuletzt völlig auflösen. Besonders aufschlussreich sind in dem Buch die Nachweise von zahlreichen Bildungseinflüssen und Lektüren, die den alten Mythos vom ungelehrten Bauerndichter zerstreuen. Grimmelshausen hat ihn oft selbstironisch genährt, etwa im "Satyrischen Pilgram": "Man weiß ja wohl daß Er selbst nichts studirt, gelernet noch erfahren: sondern so bald er kaum das ABC begriffen hatt / in Krieg kommen / im zehnjährigen Alter ein rotziger Musquedirer worden." In Wirklichkeit sind die Texte aber so übervoll an Anspielungen und kryptischen Zitaten, dass sie fast unwillkürlich an enzyklopädische "Schauplätze" des Wissens erinnern - jene Bücher des Barock also, die wie auf einer Bühne Fachkenntnisse aller Art ausbreiten.
Boehnckes und Sarkowicz' Grimmelshausen liegt im Feldlager in der Ecke und liest, was immer er in die Finger bekommt. Später sammelt er als Verwalter und Wirt in Gaisbach Erfahrungen in allen Bereichen des praktischen Lebens und entwickelt sich als Skribent unterschiedlichster Tonlagen zum sprachlich und dialektal versierten Schriftsteller. Statt als kampflustiger Lügenprahler erscheint er als scharfsinniger Beobachter der Wirklichkeit, die er nach Belieben verkehrt und in der er nur zum Schein den arglosen Schelm gibt. "Des Abenteuerlichen Simplicii Verkehrte Welt" enthält einen Kupferstich, der die Oberen warnt, es nicht zu toll zu treiben, und die Unteren hoffen lässt, es könne einmal auch ganz anders kommen. Grimmelshausen, der sich hier anagrammatisch Simon Leugfrisch von Hartenfels nennt, scheint sich in Vexierbildern dieser Art zu spiegeln.
ALEXANDER KOSENINA.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: "Grimmelshausen". Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011. 500 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Detektivarbeit: Das Leben des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen
Voller Entzücken wundert sich die literarische Welt derzeit über die raffinierten Mystifikationen von Felicitas Hoppe, die im neuen Roman "Hoppe" Licht in ihr eigenes Leben wirft, das sich als eine große Erfindung erweist (F.A.Z. vom 3. März). Unsere Verwunderung verdankt sich dem Vergessen, denn solche Verrätselungen und Scharaden sind in der redseligen Gegenwart aus der Mode gekommen. Ihr unbestrittener Meister war Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, der seinen "Simplicissimus" als German Schleifheim von Sulsfort publizierte. Dies ist nur eines von insgesamt elf Pseudonymen, die sich - tüchtig geschüttelt - allesamt als Anagramme des Autorennamens erweisen. Wenn nun in "Hoppe" ein germanistisch versierter Detektiv "fh" der F. Hoppe nachforscht, dann ähnelt das der fröhlichen Jagd von Anagrammisten bei Grimmelshausen, die ein gewisser Simplicissimus nebst weiterem Romanpersonal, etwa Courage und Springinsfeld, vor sich her hetzt.
Und doch bleibt die Vita von Grimmelshausen vielfach in Dunkel gehüllt. Nach dem literaturgeschichtlichen Chefermittler Gustav Könnecke, dessen Schatzsammlung 1926 und 1928 postum erschien, haben jetzt der Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke und der Kulturredakteur Hans Sarkowicz alle verbürgten Fakten mit den raffinierten Herausgeberfiktionen, Vorredenspielen und anagrammatischen Maskeraden zu einem neuen Lebensbild verbunden. Das reichillustrierte Buch ist mehr als eine klassische Biographie: Es kombiniert Genealogie mit der Politik des Dreißigjährigen Krieges und der Kultur- und Lokalgeschichte am Geburtsort Gelnhausen sowie den vielen späteren Wirkungsstätten, meist in Hessen. Vor allem basiert es aber auf mikroskopischen Deutungen von Romanpassagen.
Grimmelshausens und Simplicissimus' Leben verlaufen über weite Strecken parallel, weichen an entscheidenden Stellen aber voneinander ab. Häufig überführen die Verfasser den einen als ungenauen Chronisten und den anderen als unzuverlässigen "Autobiographen". Die angebotenen Entschlüsselungen sind dann oft so raffiniert wie etwa die rätselhaften Andeutungen, die Simplicissimus im Laufe der Zeit über seine verborgene Herkunft erhält und die sich zuletzt völlig auflösen. Besonders aufschlussreich sind in dem Buch die Nachweise von zahlreichen Bildungseinflüssen und Lektüren, die den alten Mythos vom ungelehrten Bauerndichter zerstreuen. Grimmelshausen hat ihn oft selbstironisch genährt, etwa im "Satyrischen Pilgram": "Man weiß ja wohl daß Er selbst nichts studirt, gelernet noch erfahren: sondern so bald er kaum das ABC begriffen hatt / in Krieg kommen / im zehnjährigen Alter ein rotziger Musquedirer worden." In Wirklichkeit sind die Texte aber so übervoll an Anspielungen und kryptischen Zitaten, dass sie fast unwillkürlich an enzyklopädische "Schauplätze" des Wissens erinnern - jene Bücher des Barock also, die wie auf einer Bühne Fachkenntnisse aller Art ausbreiten.
Boehnckes und Sarkowicz' Grimmelshausen liegt im Feldlager in der Ecke und liest, was immer er in die Finger bekommt. Später sammelt er als Verwalter und Wirt in Gaisbach Erfahrungen in allen Bereichen des praktischen Lebens und entwickelt sich als Skribent unterschiedlichster Tonlagen zum sprachlich und dialektal versierten Schriftsteller. Statt als kampflustiger Lügenprahler erscheint er als scharfsinniger Beobachter der Wirklichkeit, die er nach Belieben verkehrt und in der er nur zum Schein den arglosen Schelm gibt. "Des Abenteuerlichen Simplicii Verkehrte Welt" enthält einen Kupferstich, der die Oberen warnt, es nicht zu toll zu treiben, und die Unteren hoffen lässt, es könne einmal auch ganz anders kommen. Grimmelshausen, der sich hier anagrammatisch Simon Leugfrisch von Hartenfels nennt, scheint sich in Vexierbildern dieser Art zu spiegeln.
ALEXANDER KOSENINA.
Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: "Grimmelshausen". Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011. 500 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Der Satiriker Grimmelshausen entstammt einer Zeit, die "keine materiellen, keine mentalen" Sicherheiten kannte, entnimmt Rezensent Christian Thomas dieser neuen Biografie. Darin erfährt er manches Neue: So verkünden die Autoren, dass einiges aus Grimmelshausens Feder auf bereits in jungen Jahren als Musketier abgefassten Skizzen fuße. Mit Interesse liest Thomas außerdem die Studien über Grimmelshausens Heimatstadt, in der Gewalt und Aberglaube alltäglich und für den jungen Grimmselshausen sicherlich auch im Hinblick auf sein Werk prägend waren. Nicht zuletzt lobt der Rezensent die "biografische Bescheidenheit", mit der die beiden Biografen ihre Detailerkenntnisse an die, wegen teils schwieriger Quellenlage, stets "mühselige" Grimmelshausenforschung anknüpfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Grimmelshausens Werke entstanden in der kurzen Zeitspanne von zehn Jahren, und man wundert sich, dass die Autorschaft dieses einstigen Musketiers bisher noch nicht angezweifelt worden ist. (...) Dieses Rätsel versuchen Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz in ihrer Biografie "Grimmelshausen. Vom Musketier zum Weltautor" zu lösen, die jetzt ebenfalls als Extradruck der Anderen Bibliothek vorliegt. Darin zeichnen sie den Lebensweg des Dichters anhand der wenigen Dokumente und der vielen Bücher, die über ihn verfasst worden sind, auf ebenso spannende wie kenntnisreiche Weise nach." Holger Teschke Neues Deutschland 20180523