»Vermutlich war der Einzelne schon immer unwichtig. Es fiel nur weniger auf.«
Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit - sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.
Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models.
Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber - die fast keine Kinder mehr sind -, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.
Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit - sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.
Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models.
Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber - die fast keine Kinder mehr sind -, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2019Soziales Verhalten: unsozial
Grundlagen des Programmierens in Brainfuck: Sibylle Bergs bittere Satire "GRM" bietet apokalyptische Unterhaltung und zugleich märchenhafte Empörung über den Zustand der Welt.
Dieses Buch ist eine Entschädigung für viele langweilige und schlechte Bücher der Gegenwartsliteratur, insbesondere für die furchtbare Debütanten- und Agenturprosa, die seit einiger Zeit Verlagsprogramme dominiert. Gegen all die Familiengeschichten und mühsam fiktionalisierten Sachbuchthemen schleudert die erfahrene Autorin Sibylle Berg, die man im besten Sinne als abgebrüht bezeichnen kann, einen Blitz von einem Buch, der ihre halb so alten Kollegen locker an Gegenwärtigkeit, vor allem aber an Witz übertrifft und bei dem schon die Genrebezeichnung satirisch anmutet: "Brainfuck".
Wer nun aber nur ungeordnete Assoziationsprosa erwartet, geht fehl: Es handelt sich vielmehr um sehr durchgeformte, ja zugespitzte Literatur. ("Brainfuck" ist zudem auch der Name einer Programmiersprache, die 1993 von einem Schweizer erfunden wurde und in der sich im Roman künstliche Intelligenzen äußern.)
Schon die ersten paar Seiten, eine sarkastische Beschreibung unserer Gegenwart seit Beginn des neuen Jahrtausends, haben eine Dichte und Schärfe, die einen zutiefst zynischen Blick auf die sich zu ihrem baldigen Ende hinmurksenden Menschheit suggeriert.
Dann werden die Personen vorgestellt, ebenfalls mit sehr knappen, sarkastischen Attributen. Auftritt eines jungen Mädchens namens Don: "Gefährderpotenzial: hoch. Ethnie: Unklare Schattierung von nicht-weiß. Interessen: Grime, Karate, Süßigkeiten. Sexualität: homosexuell, vermutlich. Soziales Verhalten: unsozial. Familienverhältnisse: 1 Bruder, 1 Mutter, Vater - ab und zu, aber eher nicht."
Man merkt hier, dass Sibylle Berg auch Dramatikerin ist, alle Figuren werden auf diese Weise eingeführt, der Text ist in kleinen Blöcken strukturiert, die an Arno Schmidts "Snapshots" erinnern, und bleibt so, trotz mehr als sechshundert Seiten, bis zum Schluss sehr kurzweilig.
Wir befinden uns in einer Zukunft, in der viele schlechte Entwicklungen der Gegenwart potenziert sind. Die meisten Menschen gehören inzwischen zu einem "komplett verblödeten Schwarm", der von einer Minderheit mittels Gehirnimplantaten kontrolliert wird. Der Schwarm ist glücklich dabei, sein Leben virtuell mit digitalem Spielzeug zu verbringen, draußen in der Realität ist eh nur schlechtes Wetter, oder man wird überfallen.
"Die nicht so Intelligenten verschwinden mit allem, was sie ausmacht, auch wenn es nicht viel ist, im Netz, unfähig geworden oder immer gewesen, längere Texte zu lesen, komplexe Informationen zu verstehen. Sie leben als Überschriften, im Takt der blinkenden Eilnachrichten." Dass sie ADHS haben, merken die Jungen gar nicht mehr, die Alten kommen ihnen nur unendlich langsam vor. Die wenigen intelligenten Menschen orientieren sich weiter nach oben: Sie sehen ein, dass "künstliche Intelligenz der menschlichen so unglaublich überlegen ist, dass es dem Programmierer leichter fallen würde, sich in einen Deep-Learning-Rechner zu verlieben". Und für den kleinen Rest, der noch etwas anderes vom Leben will als einen Überwachungsstaat, sieht es leider nicht so rosig aus. Das "eine Prozent Gefährder der Demokratie" sitzt in Einzelhaft, weggesperrt für immer.
Zwischen diese satirischen Spitzen, die das Buch auch sehr unterhaltsam machen, mischt Sibylle Berg dann allerdings Wirklichkeitsmaterial, das gar nicht zum Lachen ist. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche, im Grunde noch Kinder, die bereits das Furchtbarste erfahren haben, die misshandelt und vernachlässigt werden. So gibt es im Text etwa eine Figur namens "achtjährige Nutte". Sie steht in einer bis in den letzten Winkel kameraüberwachten Wohnung alten Männern zu Diensten und "hat keine Ahnung, wie ein Leben beschaffen sein kann, das nicht hier in diesem Gefängnis stattfindet".
Aber auch die Schicksale der etwas älteren Protagonisten haben alle, wenn nicht mit grober Verletzung, so doch "mit fehlender Zuneigung" zu tun. Das ist ein Lebens- und Werkthema Sibylle Bergs: der auf sich allein gestellte Jugendliche in einer grausamen Welt, der sich durchschlagen muss. Sie hat es schon in ganz verschiedener Form behandelt, sogar als Märchen - hier begegnet es uns mit schonungsloser, ja pornographischer Härte. "Für Don war die Pubertät nichts Romantisches, Zärtliches. Es ging um Zerstörung, und sie wusste nur noch nicht, wessen", heißt es etwa.
Die Härte wird gespiegelt in einem Soundtrack, der dem Buch seinen Titel gibt: Grime, kurz "GRM", ist eine Mischung aus Hip-Hop und Electronica mit bösen Texten, oder wie es hier heißt: "wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben". Also genau das Richtige für Don und ihre Freunde in einem Vorort von Manchester, der als "Fucking Rochdale" apostrophiert wird. Auch damit nimmt das Buch Realität auf: Rochdale kam vor einigen Jahren in die Schlagzeilen aufgrund einer Gang pakistanischstämmiger Jugendlicher, die dort systematisch minderjährige Mädchen missbraucht hatte. Die von Männern ausgehende Gewalt ist eines der Hauptthemen des Buches, sie wird gezielt so dargestellt, dass dies auch Wut erzeugt.
Don ist in gewisser Weise eine Nachfahrin des Waisenknaben Oliver Twist, sie fragt nach mehr. Und weigert sich, "ihren vorgesehenen Platz als Abschaum einzunehmen". Mit ihren Freunden Peter, Hannah und Karen entdeckt sie die Kraft der Solidarität ("Sie hatten sich gefunden und waren nicht mehr alleine") und zieht nach London, um mit einer Gruppe von Aussteigern und Rebellen die Welt zu verändern. Das gelingt schließlich mittels eines bioterroristischen Attentats, das die männliche Libido auslöschen wird.
Die Vorzüge des Buches liegen aber weniger im Plot des überdrehten oder karikierten Entwicklungsromans, sondern vielmehr in seiner umfassenden Gesellschaftsdarstellung, bei der die Erzählinstanz munter von Kopf zu Kopf springt, sei es der eines machistischen Politikers, eines roboterhaften Geheimdienstmitarbeiters, eines idealistischen Hackers, eines Matratzenhändlers oder einer "Frau mit dünnen Haaren", die in einer Tierkörperbeseitigungsanlage arbeitet: Sie habe "in den neunziger Jahren Literaturwissenschaft studiert", dann später was mit Journalismus gemacht, erfährt man.
Die geballte Ladung menschlicher Misere, die einem in "GRM" auf beinahe jeder Seite entgegenschlägt, lässt fragen, ob womöglich der Text selbst von einer empathielosen Erzählfunktion geschaffen wurde, einer einfach nur mit den erschreckenden Daten unserer Welt gefütterten Künstlichen Intelligenz. Aber so gerne man Sibylle Berg auch als Person ihren Zynismus vorhält - ihr Roman, der in der Schilderung einer pornographischen Welt durchaus selbst pornographische Züge aufweist, ist wohl doch dazu gemacht, eine starke moralische Reaktion hervorzurufen. Das merkt man auch an dem extra auf den Klappentext gedruckten Hinweis: "Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben." Und immerhin endet das Buch vom englischen Weltuntergang mit einem Traum vom irischen Landleben.
JAN WIELE
Sibylle Berg:
"GRM". Brainfuck.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 636 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grundlagen des Programmierens in Brainfuck: Sibylle Bergs bittere Satire "GRM" bietet apokalyptische Unterhaltung und zugleich märchenhafte Empörung über den Zustand der Welt.
Dieses Buch ist eine Entschädigung für viele langweilige und schlechte Bücher der Gegenwartsliteratur, insbesondere für die furchtbare Debütanten- und Agenturprosa, die seit einiger Zeit Verlagsprogramme dominiert. Gegen all die Familiengeschichten und mühsam fiktionalisierten Sachbuchthemen schleudert die erfahrene Autorin Sibylle Berg, die man im besten Sinne als abgebrüht bezeichnen kann, einen Blitz von einem Buch, der ihre halb so alten Kollegen locker an Gegenwärtigkeit, vor allem aber an Witz übertrifft und bei dem schon die Genrebezeichnung satirisch anmutet: "Brainfuck".
Wer nun aber nur ungeordnete Assoziationsprosa erwartet, geht fehl: Es handelt sich vielmehr um sehr durchgeformte, ja zugespitzte Literatur. ("Brainfuck" ist zudem auch der Name einer Programmiersprache, die 1993 von einem Schweizer erfunden wurde und in der sich im Roman künstliche Intelligenzen äußern.)
Schon die ersten paar Seiten, eine sarkastische Beschreibung unserer Gegenwart seit Beginn des neuen Jahrtausends, haben eine Dichte und Schärfe, die einen zutiefst zynischen Blick auf die sich zu ihrem baldigen Ende hinmurksenden Menschheit suggeriert.
Dann werden die Personen vorgestellt, ebenfalls mit sehr knappen, sarkastischen Attributen. Auftritt eines jungen Mädchens namens Don: "Gefährderpotenzial: hoch. Ethnie: Unklare Schattierung von nicht-weiß. Interessen: Grime, Karate, Süßigkeiten. Sexualität: homosexuell, vermutlich. Soziales Verhalten: unsozial. Familienverhältnisse: 1 Bruder, 1 Mutter, Vater - ab und zu, aber eher nicht."
Man merkt hier, dass Sibylle Berg auch Dramatikerin ist, alle Figuren werden auf diese Weise eingeführt, der Text ist in kleinen Blöcken strukturiert, die an Arno Schmidts "Snapshots" erinnern, und bleibt so, trotz mehr als sechshundert Seiten, bis zum Schluss sehr kurzweilig.
Wir befinden uns in einer Zukunft, in der viele schlechte Entwicklungen der Gegenwart potenziert sind. Die meisten Menschen gehören inzwischen zu einem "komplett verblödeten Schwarm", der von einer Minderheit mittels Gehirnimplantaten kontrolliert wird. Der Schwarm ist glücklich dabei, sein Leben virtuell mit digitalem Spielzeug zu verbringen, draußen in der Realität ist eh nur schlechtes Wetter, oder man wird überfallen.
"Die nicht so Intelligenten verschwinden mit allem, was sie ausmacht, auch wenn es nicht viel ist, im Netz, unfähig geworden oder immer gewesen, längere Texte zu lesen, komplexe Informationen zu verstehen. Sie leben als Überschriften, im Takt der blinkenden Eilnachrichten." Dass sie ADHS haben, merken die Jungen gar nicht mehr, die Alten kommen ihnen nur unendlich langsam vor. Die wenigen intelligenten Menschen orientieren sich weiter nach oben: Sie sehen ein, dass "künstliche Intelligenz der menschlichen so unglaublich überlegen ist, dass es dem Programmierer leichter fallen würde, sich in einen Deep-Learning-Rechner zu verlieben". Und für den kleinen Rest, der noch etwas anderes vom Leben will als einen Überwachungsstaat, sieht es leider nicht so rosig aus. Das "eine Prozent Gefährder der Demokratie" sitzt in Einzelhaft, weggesperrt für immer.
Zwischen diese satirischen Spitzen, die das Buch auch sehr unterhaltsam machen, mischt Sibylle Berg dann allerdings Wirklichkeitsmaterial, das gar nicht zum Lachen ist. Im Mittelpunkt stehen Jugendliche, im Grunde noch Kinder, die bereits das Furchtbarste erfahren haben, die misshandelt und vernachlässigt werden. So gibt es im Text etwa eine Figur namens "achtjährige Nutte". Sie steht in einer bis in den letzten Winkel kameraüberwachten Wohnung alten Männern zu Diensten und "hat keine Ahnung, wie ein Leben beschaffen sein kann, das nicht hier in diesem Gefängnis stattfindet".
Aber auch die Schicksale der etwas älteren Protagonisten haben alle, wenn nicht mit grober Verletzung, so doch "mit fehlender Zuneigung" zu tun. Das ist ein Lebens- und Werkthema Sibylle Bergs: der auf sich allein gestellte Jugendliche in einer grausamen Welt, der sich durchschlagen muss. Sie hat es schon in ganz verschiedener Form behandelt, sogar als Märchen - hier begegnet es uns mit schonungsloser, ja pornographischer Härte. "Für Don war die Pubertät nichts Romantisches, Zärtliches. Es ging um Zerstörung, und sie wusste nur noch nicht, wessen", heißt es etwa.
Die Härte wird gespiegelt in einem Soundtrack, der dem Buch seinen Titel gibt: Grime, kurz "GRM", ist eine Mischung aus Hip-Hop und Electronica mit bösen Texten, oder wie es hier heißt: "wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben". Also genau das Richtige für Don und ihre Freunde in einem Vorort von Manchester, der als "Fucking Rochdale" apostrophiert wird. Auch damit nimmt das Buch Realität auf: Rochdale kam vor einigen Jahren in die Schlagzeilen aufgrund einer Gang pakistanischstämmiger Jugendlicher, die dort systematisch minderjährige Mädchen missbraucht hatte. Die von Männern ausgehende Gewalt ist eines der Hauptthemen des Buches, sie wird gezielt so dargestellt, dass dies auch Wut erzeugt.
Don ist in gewisser Weise eine Nachfahrin des Waisenknaben Oliver Twist, sie fragt nach mehr. Und weigert sich, "ihren vorgesehenen Platz als Abschaum einzunehmen". Mit ihren Freunden Peter, Hannah und Karen entdeckt sie die Kraft der Solidarität ("Sie hatten sich gefunden und waren nicht mehr alleine") und zieht nach London, um mit einer Gruppe von Aussteigern und Rebellen die Welt zu verändern. Das gelingt schließlich mittels eines bioterroristischen Attentats, das die männliche Libido auslöschen wird.
Die Vorzüge des Buches liegen aber weniger im Plot des überdrehten oder karikierten Entwicklungsromans, sondern vielmehr in seiner umfassenden Gesellschaftsdarstellung, bei der die Erzählinstanz munter von Kopf zu Kopf springt, sei es der eines machistischen Politikers, eines roboterhaften Geheimdienstmitarbeiters, eines idealistischen Hackers, eines Matratzenhändlers oder einer "Frau mit dünnen Haaren", die in einer Tierkörperbeseitigungsanlage arbeitet: Sie habe "in den neunziger Jahren Literaturwissenschaft studiert", dann später was mit Journalismus gemacht, erfährt man.
Die geballte Ladung menschlicher Misere, die einem in "GRM" auf beinahe jeder Seite entgegenschlägt, lässt fragen, ob womöglich der Text selbst von einer empathielosen Erzählfunktion geschaffen wurde, einer einfach nur mit den erschreckenden Daten unserer Welt gefütterten Künstlichen Intelligenz. Aber so gerne man Sibylle Berg auch als Person ihren Zynismus vorhält - ihr Roman, der in der Schilderung einer pornographischen Welt durchaus selbst pornographische Züge aufweist, ist wohl doch dazu gemacht, eine starke moralische Reaktion hervorzurufen. Das merkt man auch an dem extra auf den Klappentext gedruckten Hinweis: "Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben." Und immerhin endet das Buch vom englischen Weltuntergang mit einem Traum vom irischen Landleben.
JAN WIELE
Sibylle Berg:
"GRM". Brainfuck.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 636 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Während sie ihre Begegnung mit Autorin Sibylle Berg schildert, kommt Journalistin Juliane Liebert auch auf Bergs Buch "GRM. Brainfuck" zu sprechen. Die Faszination des Feuilletons an dem düsteren Bild, das Berg hier von der Realität zeichnet, erklärt Liebert sich damit, dass die jugendlichen Hauptfiguren aus humanistischen Gründen hassen, wie sie findet: Ihre Welt wird von "Gewalt, Überwachung und Drogen" beherrscht und dennoch verweigern sie sich ihr, erzählt die Journalistin. Damit biete Berg zwar keine Lösungen für ihre zugespitzte Gegenwartsproblematik, aber schreibe "eine Welterzählung am Beispiel des sozialen Brennpunkts", meint Liebert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Umwerfend und radikal. Mit einem hypersensiblen Gespür für das Menschliche, für Verletzlichkeiten und für menschliche Abgründe.« Julia Encke FAZ 20190623