Als Georges Benoît-Jean, ein Comiczeichner in einer Schaffenskrise, die Einladung erhält an einer Expedition in den Nordosten Grönlands teilzunehmen erhofft er sich neue Inspiration für ein kommendes Buch. Er sagt spontan zu.
An Bord des Segelschiffs Aurora trifft er sein Idol, den norwegischen Schriftsteller Jørn Freuchen, der Georges unter seine Obhut nimmt. Aber Freuchen hat ganz eigene Interessen die er während der Reise verfolgt ...
Hauptsponsor der Expedition ist der finnische Maler, Bildhauer und Performance-Künstler Ville Hakkola, ein verschrobener Perfektionist, dessen riesige Installation auf einem Gletscher den Höhepunkt der Reise darstellen soll. Doch Hakkolas zunehmende Angst vor Sabotage wird für die Mitreisenden immer mehr zur Zerreißprobe. Grönland Vertigo ist eine wunderschön gezeichnete (und an den zeitlosen Stil Hergés angelehnte) Reise in den hohen Norden. Eine Reise in welcher der Autor die Erlebnisse seiner eigenen Expedition nach Grönland mit viel Witz undLeichtigkeit verarbeitet.
"Dieser Geschichte fehlt es wahrlich nicht an Charme und überraschenden Wendungen." Le Monde
An Bord des Segelschiffs Aurora trifft er sein Idol, den norwegischen Schriftsteller Jørn Freuchen, der Georges unter seine Obhut nimmt. Aber Freuchen hat ganz eigene Interessen die er während der Reise verfolgt ...
Hauptsponsor der Expedition ist der finnische Maler, Bildhauer und Performance-Künstler Ville Hakkola, ein verschrobener Perfektionist, dessen riesige Installation auf einem Gletscher den Höhepunkt der Reise darstellen soll. Doch Hakkolas zunehmende Angst vor Sabotage wird für die Mitreisenden immer mehr zur Zerreißprobe. Grönland Vertigo ist eine wunderschön gezeichnete (und an den zeitlosen Stil Hergés angelehnte) Reise in den hohen Norden. Eine Reise in welcher der Autor die Erlebnisse seiner eigenen Expedition nach Grönland mit viel Witz undLeichtigkeit verarbeitet.
"Dieser Geschichte fehlt es wahrlich nicht an Charme und überraschenden Wendungen." Le Monde
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2017Was ist eigentlich aus den großen Abenteuern geworden?
Zum Beispiel das hier: Hervé Tanquerelles Nordlandfahrt-Bildnovelle "Grönland Vertigo" lässt uns noch einmal das Glück der großen Freiheit finden - auf den Planken, die die Welt befahren.
Die Zeiten der Abenteuerreisen, wie sie etwa Scott und seine "Terra Nova", die "Golden Hind" des Francis Drake, Nansen und seine "Fram", Shackleton und die "Endurance" unternahmen, die Zeiten der Segelschiffe, als die Schiffe aus Holz, die Männer aber, wie ein flotter Seemannsspruch sagt, aus Eisen waren, sie scheinen vorbei zu sein, auch wenn es die Barfußroute (trotz aller Warnungen vor Piraterie) und die Blauwasserfahrt noch gibt, die beiden Wilts noch in jüngster Zeit mit ihrer "Freydis", Volkwin Marg und Jonas Bergsøe mit der "Activ" unterwegs waren, und Thor Heyerdahls Expeditionen mit einem Balsafloß über den Pazifik, später mit einem Papyrusboot über den Atlantik, gerade ein Menschenalter her sind.
Zum großen Abenteuer gehört nach klassischer Überlieferung ein Schiff. In "Grönland Vertigo", einer Abenteuernovelle in Bildern von Hervé Tanquerelle, koloriert von Isabelle Merlet, heißt das Schiff "Aurora", wie die Göttin der Morgenröte und wie jener Panzerkreuzer, der vor hundert Jahren mit einem Kanonenschuss eine folgenreiche Revolution beginnen ließ. Die Einladung, an einer Expedition in den Nordosten Grönlands teilzunehmen, erreicht Tanquerelles Alter Ego Georges in einer Krise, nichts scheint ihm mehr einzufallen. Aber wann kommt man schon mal nach Grönland? Noch dazu auf einem Holzschiff mit Eisklasse, wie Nansens legendäre "Fram"? Georges ist der einzige Franzose auf einer Expedition, die mit den Entdeckungsreisen der Vergangenheit, ihrem Pathos, ihrem Willen zur Welterkundung, auf den ersten Blick nichts mehr zu tun hat: Kapitän Kuller möchte die Expedition heil durchführen und nach Hause bringen; der Hauptsponsor, der Bildhauer und Maler Hakkola, eine Installation errichten, mit der gegen die Ausbeutung der Natur durch Erdölkonzerne demonstriert werden soll; Georges, der Zeichner und Erzähler, sucht nach Ideen für eine neue Geschichte; Jørn Freuchen, Reiseschriftsteller und Abenteurer, möchte etwas wiederfinden, das er einst auf Grönland zurückließ. Es gibt einen Ornithologen, Besitzer eines Flugboots, ein Geologe ist an Bord, ein Kamerateam, das Hakkolas Installation filmen soll.
Heutzutage werden Schiffe wie die "Aurora" nicht mehr gechartert, um den Südpol zu entdecken oder die Nordwestpassage, sondern damit ein Event möglich wird, Ethan Hawke in einem Remake von "Moby-Dick" einen Wal (aus Schaumstoff) jagen kann oder Präsident Putin, durch einen Törn an die Jenissej-Mündung, wo man eine uralte Siedlung fand, in seiner Vermutung bestätigt wird, der erste Mensch auf dieser Erde sei ein Russe gewesen. Die Egos zahlen für sich, nicht mehr für die hehre Sache. Und doch gibt es die noch, auch davon erzählt "Grönland Vertigo". Auf der Storyebene: dass die hehre Sache die Reise selbst ist, weniger ihr Ziel. Auf der Bildebene: dass es möglich ist, eine Hommage (an Hergé und seine Ligne claire) zu gestalten, ohne ins Plagiat oder in die Unselbständigkeit abzugleiten. Interessant ist, auf welche Weise die Realität hineinspielt: Die Bildhintergründe sind einem Abenteuer entnommen, das Tanquerelle 2011 als Gast auf der "Activ" während eines Grönlandtörns erlebte.
Julien Gracq hat einmal an Tschechows Stücken kritisiert, dass sie sich nicht zwingend in der dramatischen Form ausdrücken. Was Tanquerelle erzählt, kann ich mir nur in dieser Form, als Bildnovelle, vorstellen (die Bezeichnung Comic habe ich immer als unzutreffend, als abwertend empfunden); sie wahrt die Wirklichkeit und kann sie doch den künstlerischen Zwecken gemäß umformen. Auch das eine Reise: Wirklichkeit und Phantastik durchdringen einander, kollidieren nicht; die Kraft des Wirklichen, hier vor allem die grandiose Polarlandschaft, wird durch die Verfremdung auf der Figurenebene nicht geschwächt, der Eigenwillen der Phantastik durch zu viel Wirklichkeit nicht angetastet. So gelingt es Tanquerelle, eine moderne Expedition mit ihren Eigenheiten vorzustellen - und zugleich eine Möglichkeit, ihr Erlebnis künstlerisch zu gestalten. Die Spannung zwischen Vorder- und Hintergrund - der Hommage an Hergé und Tanquerelles eigenem Stil - verleiht dem Buch auch Tiefe; was sich vor dieser Natur abspielt, hält nur ein Gastdasein, wird wieder in die Welt verschwinden, aus der es kam - diese hier braucht nichts von uns.
Vom Inhalt will ich nicht allzu viel verraten. Es ist eine spannende und auch sehr komische Geschichte, Erwartungen werden überzeugend unterlaufen. Die Schatzsuche, auf die Freuchen den Erzähler mitnimmt, wird man nicht so schnell vergessen. Übrigens: Freuchen ... gab es da nicht einen Peter Freuchen, einen dänischen Polarforscher, der Thor Heyerdahl und seine Kon-Tiki-Expedition unterstützte? Ein Zweimeterriese, der Grönlandfahrten mit den Herren Rasmussen und Erichsen unternahm - so heißen auch Erster Offizier und Leutnant auf der "Aurora". Hintergrund also auch hier. Tanquerelle ist ein guter Beobachter, er spart nicht aus, wie man abseits von den Gegenden mit Supermärkten an Essen kommt, er hat ein Auge für die absurden Momente, an denen solche Törns nicht arm sind, vor allem nicht mit einem Dreimastbramsegelschoner, auf dem das Riesenfass voll bestem Rum wohl immer noch nicht ausgetrunken ist, in der Messe, neben dem Schild mit der Aufschrift "LEEVER DOD AS SLAV!". Wer Abenteuer- und Seefahrtsgeschichten liebt, wird an dem Buch seine Freude haben.
UWE TELLKAMP
Hervé Tanquerelle: "Grönland Vertigo".
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant Verlag,
Berlin 2017. 104 S.,
Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Beispiel das hier: Hervé Tanquerelles Nordlandfahrt-Bildnovelle "Grönland Vertigo" lässt uns noch einmal das Glück der großen Freiheit finden - auf den Planken, die die Welt befahren.
Die Zeiten der Abenteuerreisen, wie sie etwa Scott und seine "Terra Nova", die "Golden Hind" des Francis Drake, Nansen und seine "Fram", Shackleton und die "Endurance" unternahmen, die Zeiten der Segelschiffe, als die Schiffe aus Holz, die Männer aber, wie ein flotter Seemannsspruch sagt, aus Eisen waren, sie scheinen vorbei zu sein, auch wenn es die Barfußroute (trotz aller Warnungen vor Piraterie) und die Blauwasserfahrt noch gibt, die beiden Wilts noch in jüngster Zeit mit ihrer "Freydis", Volkwin Marg und Jonas Bergsøe mit der "Activ" unterwegs waren, und Thor Heyerdahls Expeditionen mit einem Balsafloß über den Pazifik, später mit einem Papyrusboot über den Atlantik, gerade ein Menschenalter her sind.
Zum großen Abenteuer gehört nach klassischer Überlieferung ein Schiff. In "Grönland Vertigo", einer Abenteuernovelle in Bildern von Hervé Tanquerelle, koloriert von Isabelle Merlet, heißt das Schiff "Aurora", wie die Göttin der Morgenröte und wie jener Panzerkreuzer, der vor hundert Jahren mit einem Kanonenschuss eine folgenreiche Revolution beginnen ließ. Die Einladung, an einer Expedition in den Nordosten Grönlands teilzunehmen, erreicht Tanquerelles Alter Ego Georges in einer Krise, nichts scheint ihm mehr einzufallen. Aber wann kommt man schon mal nach Grönland? Noch dazu auf einem Holzschiff mit Eisklasse, wie Nansens legendäre "Fram"? Georges ist der einzige Franzose auf einer Expedition, die mit den Entdeckungsreisen der Vergangenheit, ihrem Pathos, ihrem Willen zur Welterkundung, auf den ersten Blick nichts mehr zu tun hat: Kapitän Kuller möchte die Expedition heil durchführen und nach Hause bringen; der Hauptsponsor, der Bildhauer und Maler Hakkola, eine Installation errichten, mit der gegen die Ausbeutung der Natur durch Erdölkonzerne demonstriert werden soll; Georges, der Zeichner und Erzähler, sucht nach Ideen für eine neue Geschichte; Jørn Freuchen, Reiseschriftsteller und Abenteurer, möchte etwas wiederfinden, das er einst auf Grönland zurückließ. Es gibt einen Ornithologen, Besitzer eines Flugboots, ein Geologe ist an Bord, ein Kamerateam, das Hakkolas Installation filmen soll.
Heutzutage werden Schiffe wie die "Aurora" nicht mehr gechartert, um den Südpol zu entdecken oder die Nordwestpassage, sondern damit ein Event möglich wird, Ethan Hawke in einem Remake von "Moby-Dick" einen Wal (aus Schaumstoff) jagen kann oder Präsident Putin, durch einen Törn an die Jenissej-Mündung, wo man eine uralte Siedlung fand, in seiner Vermutung bestätigt wird, der erste Mensch auf dieser Erde sei ein Russe gewesen. Die Egos zahlen für sich, nicht mehr für die hehre Sache. Und doch gibt es die noch, auch davon erzählt "Grönland Vertigo". Auf der Storyebene: dass die hehre Sache die Reise selbst ist, weniger ihr Ziel. Auf der Bildebene: dass es möglich ist, eine Hommage (an Hergé und seine Ligne claire) zu gestalten, ohne ins Plagiat oder in die Unselbständigkeit abzugleiten. Interessant ist, auf welche Weise die Realität hineinspielt: Die Bildhintergründe sind einem Abenteuer entnommen, das Tanquerelle 2011 als Gast auf der "Activ" während eines Grönlandtörns erlebte.
Julien Gracq hat einmal an Tschechows Stücken kritisiert, dass sie sich nicht zwingend in der dramatischen Form ausdrücken. Was Tanquerelle erzählt, kann ich mir nur in dieser Form, als Bildnovelle, vorstellen (die Bezeichnung Comic habe ich immer als unzutreffend, als abwertend empfunden); sie wahrt die Wirklichkeit und kann sie doch den künstlerischen Zwecken gemäß umformen. Auch das eine Reise: Wirklichkeit und Phantastik durchdringen einander, kollidieren nicht; die Kraft des Wirklichen, hier vor allem die grandiose Polarlandschaft, wird durch die Verfremdung auf der Figurenebene nicht geschwächt, der Eigenwillen der Phantastik durch zu viel Wirklichkeit nicht angetastet. So gelingt es Tanquerelle, eine moderne Expedition mit ihren Eigenheiten vorzustellen - und zugleich eine Möglichkeit, ihr Erlebnis künstlerisch zu gestalten. Die Spannung zwischen Vorder- und Hintergrund - der Hommage an Hergé und Tanquerelles eigenem Stil - verleiht dem Buch auch Tiefe; was sich vor dieser Natur abspielt, hält nur ein Gastdasein, wird wieder in die Welt verschwinden, aus der es kam - diese hier braucht nichts von uns.
Vom Inhalt will ich nicht allzu viel verraten. Es ist eine spannende und auch sehr komische Geschichte, Erwartungen werden überzeugend unterlaufen. Die Schatzsuche, auf die Freuchen den Erzähler mitnimmt, wird man nicht so schnell vergessen. Übrigens: Freuchen ... gab es da nicht einen Peter Freuchen, einen dänischen Polarforscher, der Thor Heyerdahl und seine Kon-Tiki-Expedition unterstützte? Ein Zweimeterriese, der Grönlandfahrten mit den Herren Rasmussen und Erichsen unternahm - so heißen auch Erster Offizier und Leutnant auf der "Aurora". Hintergrund also auch hier. Tanquerelle ist ein guter Beobachter, er spart nicht aus, wie man abseits von den Gegenden mit Supermärkten an Essen kommt, er hat ein Auge für die absurden Momente, an denen solche Törns nicht arm sind, vor allem nicht mit einem Dreimastbramsegelschoner, auf dem das Riesenfass voll bestem Rum wohl immer noch nicht ausgetrunken ist, in der Messe, neben dem Schild mit der Aufschrift "LEEVER DOD AS SLAV!". Wer Abenteuer- und Seefahrtsgeschichten liebt, wird an dem Buch seine Freude haben.
UWE TELLKAMP
Hervé Tanquerelle: "Grönland Vertigo".
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant Verlag,
Berlin 2017. 104 S.,
Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Autor Uwe Tellkamp hat an Hervé Tanquerelles Comic seine Freude. Denn er hat nicht nur was für Abenteuer- und Seefahrtsgeschichten übrig, sondern auch für Tanquerelles auf der Bildebene verhandelte Hommage an Hergé und dessen Stil. Vor allem aber fasziniert den Rezensenten, wie der Autor eigenen Erlebnisse einer Grönland-Passage mit Fantastik kreuzt. Grandiose Naturbilder und eine spannende wie auch komische Geschichte halten Tellkamp bei der Stange.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Klar wie Polarluft
Subversive Hommage: der Comic „Grönland Vertigo“
Das Cover des Comics „Grönland Vertigo“ von Hervé Tanquerelle macht kein Geheimnis aus seinem Dasein als Hommage. Zum einen zitiert der französische Comiczeichner Tanquerelle die legendäre „Tim und Struppi“-Reihe des Belgiers Georges Prosper Remi, dessen bekannteres Pseudonym Hergé fast passgenau dem Vornamen Tanquerelles entspricht, also Hervé. Er tut dies auf fast schon nachahmend simple Weise. Die Grönland-Hauptfigur heißt wie? Georges. Und ist was? Ein Comiczeichner.
Außerdem zeigt etwa der Band „Tim in Tibet“ Tim, Haddock und einen Bergführer mit geschulterten Rucksäcken unterwegs in eisiger Berglandschaft. Der Himmel ist blau, die Berge sind weiß. So ist es auch mit „Grönland Vertigo“, dessen Protagonisten sich im verblüffend ähnlichen Gestus durch die grönländische Landschaft bewegen – den Rucksack geschultert, den Karabiner im Anschlag. Der Himmel ist blau, die Eisberge sind weiß. Die Linie der Zeichnung aber ist so klar wie die Luft über Grönland. Tanquerelle ehrt die „Ligne claire“ seines Vorbildes Hergé, also die klare Linie, den präzisen Duktus der Zeichnung und die flächige Kolorierung. Nimmt man allein die Steinbrocken auf den Covern von „Grönland Vertigo“ und „Tim in Tibet“: Man könnte beinahe an ein Imitat denken. An eine Kopie. An den Comic als serielle Fälschung.
Genau an diesem Punkt wird der zweite Aspekt der Hommage bedeutsam. Tanquerelle zitiert ja im Titel auch den legendären Hitchcock-Klassiker „Vertigo“. Das ist ein medizinischer Begriff, der sich auf ein Empfinden des Drehens und Schwankens bezieht. Auf ein Gefühl, sich nicht sicher sein zu können. Was die Koordinaten des Raumes betrifft – aber auch die Codes des Lebens. So gesehen stünde die zitierte klare Linie eben nicht für Klarheit, sondern für eine unklare, ahnungsvolle, raunende Gefahr. Darin aber zeigt sich die geniale Doppelbödigkeit von Tanquerelles Hommage. Er sorgt für Schwindel und Tiefe dort, wo beim Original, bei Tim und Struppi, dann doch letztlich immer alles in bester und zugleich auch etwas argloser Ordnung ist. „Grönland Vertigo“ mag eine Hommage sein – es ist aber auch ein Comic der Subversion. Ein Original aus eigener Kraft und Raffinesse.
Dabei nimmt sich der eher geahnte als tatsächliche Grönland-Krimi, der wie „Vertigo“ seinen Suspense dem Reich der Gedanken, nicht der Taten, entleiht, sagenhaft viel Zeit, um in nahezu epischen Einstellungen den Leser allmählich ins Reich des Schwindels und des Schwankens zu führen.
GERHARD MATZIG
Hervé Tanquerelle
(Text & Zeichnung): Grönland Vertigo.
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag,
Berlin 2017. 104 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Subversive Hommage: der Comic „Grönland Vertigo“
Das Cover des Comics „Grönland Vertigo“ von Hervé Tanquerelle macht kein Geheimnis aus seinem Dasein als Hommage. Zum einen zitiert der französische Comiczeichner Tanquerelle die legendäre „Tim und Struppi“-Reihe des Belgiers Georges Prosper Remi, dessen bekannteres Pseudonym Hergé fast passgenau dem Vornamen Tanquerelles entspricht, also Hervé. Er tut dies auf fast schon nachahmend simple Weise. Die Grönland-Hauptfigur heißt wie? Georges. Und ist was? Ein Comiczeichner.
Außerdem zeigt etwa der Band „Tim in Tibet“ Tim, Haddock und einen Bergführer mit geschulterten Rucksäcken unterwegs in eisiger Berglandschaft. Der Himmel ist blau, die Berge sind weiß. So ist es auch mit „Grönland Vertigo“, dessen Protagonisten sich im verblüffend ähnlichen Gestus durch die grönländische Landschaft bewegen – den Rucksack geschultert, den Karabiner im Anschlag. Der Himmel ist blau, die Eisberge sind weiß. Die Linie der Zeichnung aber ist so klar wie die Luft über Grönland. Tanquerelle ehrt die „Ligne claire“ seines Vorbildes Hergé, also die klare Linie, den präzisen Duktus der Zeichnung und die flächige Kolorierung. Nimmt man allein die Steinbrocken auf den Covern von „Grönland Vertigo“ und „Tim in Tibet“: Man könnte beinahe an ein Imitat denken. An eine Kopie. An den Comic als serielle Fälschung.
Genau an diesem Punkt wird der zweite Aspekt der Hommage bedeutsam. Tanquerelle zitiert ja im Titel auch den legendären Hitchcock-Klassiker „Vertigo“. Das ist ein medizinischer Begriff, der sich auf ein Empfinden des Drehens und Schwankens bezieht. Auf ein Gefühl, sich nicht sicher sein zu können. Was die Koordinaten des Raumes betrifft – aber auch die Codes des Lebens. So gesehen stünde die zitierte klare Linie eben nicht für Klarheit, sondern für eine unklare, ahnungsvolle, raunende Gefahr. Darin aber zeigt sich die geniale Doppelbödigkeit von Tanquerelles Hommage. Er sorgt für Schwindel und Tiefe dort, wo beim Original, bei Tim und Struppi, dann doch letztlich immer alles in bester und zugleich auch etwas argloser Ordnung ist. „Grönland Vertigo“ mag eine Hommage sein – es ist aber auch ein Comic der Subversion. Ein Original aus eigener Kraft und Raffinesse.
Dabei nimmt sich der eher geahnte als tatsächliche Grönland-Krimi, der wie „Vertigo“ seinen Suspense dem Reich der Gedanken, nicht der Taten, entleiht, sagenhaft viel Zeit, um in nahezu epischen Einstellungen den Leser allmählich ins Reich des Schwindels und des Schwankens zu führen.
GERHARD MATZIG
Hervé Tanquerelle
(Text & Zeichnung): Grönland Vertigo.
Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Avant-Verlag,
Berlin 2017. 104 Seiten, 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de