John Giorno war wie wenige andere mit jeder Faser seines Körpers und seinem ganzen Bewusstsein Teil des kulturellen Lebens von New York City, und er schreibt so persönlich und offen darüber wie kein anderer. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er, der bereits in einer intensiven Liebesbeziehung mit Andy Warhol lebte, in Warhols berühmten ersten Film Sleep. Dieser Liebschaft folgten weitere, u.a. mit Robert Rauschenberg und Jasper Johns, und zahllose Freundschaften mit zentralen Figuren der amerikanischen Kunst, Dichtung und Musik: Allen Ginsberg, William S. Burroughs, Brion Gysin, Jane und Paul Bowles, John Cage, Bob Moog, Patti Smith, Robert Mapplethorpe, Keith Haring. Sie alle haben ihren Auftritt wie Giornos Reisen nach Indien, die AIDS-Epidemie und das Sterben von William Burroughs.John Giornos Arbeiten mit öffentlichen und populären Bildern, ihre Wiederholung und Serialisierung, die Überhöhung des Alltäglichen und die Glorifizierung des Gewöhnlichen, die Isolierung und Verallgemeinerung, Individualisierung und Anonymisierung, Mythologisierung und Entwertung, all das gehört ebenso zu den Grundoperationen der Pop Art, wie John Giorno durch seine Aktionen und Ausstellungen, seine Freund- und Liebschaften, Arbeitsbeziehungen und Veröffentlichungssysteme zu den Gestalten und Gestaltern der amerikanischen Kunst von Pop über Punk bis zu Graffiti und Appropriation gehört. Mit seinen Memoiren erleben wir das pulsierende kulturelle Leben von New York City von den 60er Jahren bis in unsere unmittelbare Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Rudolph freut sich, dass John Giornos Autobiografie von 2020 nun auch auf Deutsch vorliegt. Aufmerksam verfolgt sie, wie der Künstler durch die Kunst- und die Schwulenszene im New York der 70er, 80er und 90er Jahre führt und dabei ein lebendiges "Zeitbild" dieser Jahrzehnte entstehen lasse: So bekommt Rudolph exklusive Einblicke etwa in die Entstehungsgeschichte von Giornos berühmtem Kunstprojekt "Dial-a-Poem", bei dem Telefonanrufer unter einer bestimmten Nummer verschiedene kurze Texte, vorgelesen von renommierten Künstlern und Literaten, hören konnten. Auch das New Yorker Partyleben inklusive heftigem Drogenkonsum könne man miterleben, und nicht zuletzt biete Giorno tiefe Einblicke in sein Sexleben: Hier findet die Kritikerin die expliziten Beschreibungen zunächst gewöhnungsbedürftig, versteht dann aber, was es für Giorno für ein Befreiungsschlag gewesen sein muss, so offen über dieses lange tabuisierte Thema zu schreiben. Auch Giornos eher weiche Charakter - mitfühlend, hilfsbereit, zurücksteckend - wird ihr durch die Autobiografie greifbar. Für die Kritikerin ein rundes und aufschlussreiches Buch, scheint es.
© Perlentaucher Medien GmbH
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