Die Babyboomer gehen in Rente. Die große Generation tritt ab, die die Bundesrepublik geprägt hat wie keine vor ihr - auf wenig aufsehenerregende, aber souveräne Weise. Die zwischen 1955 und 1969 Geborenen waren der Kindersegen und das statistisch Allgemeine, und sie waren immer mittendrin: zwischen den Ruinen des Krieges, mit Adenauer und Brandt, der RAF und dem Pop, mit Habermas und Kohl, dem Mauerfall und den Kanzlern Schröder und Merkel.
Thomas E. Schmidt ist einer von ihnen, auch er immer mittendrin. Spielerisch verfolgt er den Lebensweg der geburtenstarken Jahrgänge und schreibt dabei einen Bildungsroman der Bundesrepublik. «Im Wesentlichen haben wir unsere Aufträge erfüllt», meint Schmidt, «wir haben die Demokratie in Deutschland stabil gehalten, sind nie historisch rückfällig geworden und widerstanden nationalistischen Versuchungen.» Doch währenddessen machte diese Generation auch Karriere, sie lebte gut und verbrauchte die Ressourcen der Erde. Sie muss nun erkennen, dass die nächste Generation mit dem Erbe hadert: Dankbarkeit ist im Angesicht der Klimakrise kaum zu erwarten.
Mit den Boomern vergeht auch die alte Bundesrepublik, und Thomas E. Schmidt blickt aus der eigenen Erfahrung auf die neue Gegenwart: ein autobiografischer Essay für die große Leserschaft dieser Generation, ebenso scharfsichtig wie ironisch.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Thomas E. Schmidt ist einer von ihnen, auch er immer mittendrin. Spielerisch verfolgt er den Lebensweg der geburtenstarken Jahrgänge und schreibt dabei einen Bildungsroman der Bundesrepublik. «Im Wesentlichen haben wir unsere Aufträge erfüllt», meint Schmidt, «wir haben die Demokratie in Deutschland stabil gehalten, sind nie historisch rückfällig geworden und widerstanden nationalistischen Versuchungen.» Doch währenddessen machte diese Generation auch Karriere, sie lebte gut und verbrauchte die Ressourcen der Erde. Sie muss nun erkennen, dass die nächste Generation mit dem Erbe hadert: Dankbarkeit ist im Angesicht der Klimakrise kaum zu erwarten.
Mit den Boomern vergeht auch die alte Bundesrepublik, und Thomas E. Schmidt blickt aus der eigenen Erfahrung auf die neue Gegenwart: ein autobiografischer Essay für die große Leserschaft dieser Generation, ebenso scharfsichtig wie ironisch.
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Unterhaltsam und klug. Hannoversche Allgemeine Zeitung 20220912
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein in jeder Hinsicht widersprüchliches Buch hat der Zeitungsjournalist Thomas E. Schmidt geschrieben, findet Jan Wiele. Handelt es sich um einen Roman oder ein Sachbuch? Der Rezensent ist unentschieden, weil er das Buch als Roman für schlecht und als Sachbuch für zu undifferenziert hält. Womöglich, weil Wiele sich vom Titel der Geschichte über die Generation, die demnächst in Rente geht,viel versprochen hat. Ja, ein wenig Selbstkritik gebe es vom Boomer Schmidt, schreibt Wiele, aber viel mehr Paradoxes: Über das autobiografische Schreiben, die DDR und die BRD, die Elterngeneration, Spießertum und Popkultur. Übel nimmt Wiele dem Kollegen den Abgesang auf den hochwertigen Journalismus. Bis zuletzt hatte der Rezensent offensichtlich gehofft, Schmidt würde sich von den gelobten Feuilletons der eigenen Vergangenheit leiten lassen und nicht von Klickzahlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2022Rote Bäckchen?
Thomas E. Schmidt erklärt seine Boomer
Ist das nun ein Sachbuch, oder ist es eher ein Roman? Der Titel "Große Erwartungen" zitiert Weltliteratur von Charles Dickens, und auch im Text kommt Thomas E. Schmidt öfter auf literarische Vorbilder zu sprechen, etwa um die Schwierigkeit autobiographischen Schreibens festzustellen und zu behaupten, er halte seine Erfahrungen weder für typisch noch für symbolisch. Aber das kann man kaum glauben, wenn der Buchumschlag eine "Bilanz der Babyboomer" verspricht.
Die Bezeichnung "Boomer", von der jüngsten Generation inzwischen oft abwertend verwendet, klingt auch für Schmidt angeblich zweifelhaft, nach "ewig roten Bäckchen und dicker Hose". Und doch scheint er, Jahrgang 1959, seine Boomer irgendwie zu lieben, auch wenn er sich von den über sie bekannten Klischees abzuheben versucht. Ja, er scheint durchaus wehmütig darüber zu sein, dass diese Boomer nun abtreten: "Wir beginnen zu verstummen, und die Ersten von uns sind schon gestorben." Obwohl Schmidt erkennt, dass die Rede vom Wir eine Anmaßung sei ("ich schließe all jene aus, die zur selben Zeit wie ich in der DDR aufwuchsen"), obwohl er konzediert, dass sich eine Frau vielleicht anders an die Boomzeit der Bundesrepublik erinnern werde als er, ist sein Buch natürlich der Versuch und auch das Versprechen, trotz allem für dieses Wir einzutreten.
Er grenzt es etwa ab von der Generation der um 1945 Geborenen. Sie nennt er "Generation Limbus", und aus ihrer Not, teils Verwahrlosung heraus erklärt er sowohl das Phänomen der Halbstarken als auch das der RAF. An diesem Beispiel etwa zeigt sich, dass das Buch durchzogen ist von Paradoxien: Erst analysiert Schmidt, dass Mitglieder der RAF, selbst nachdem sie zu Mördern geworden waren, sich noch wie Halbstarke benommen haben. Und wenig später kritisiert er diese Feststellung: "Genau diesem Muster entsprechend wurden die RAF-Leute auch wahrgenommen, als monströse, sich bis zur Kenntlichkeit steigernde Verkörperungen der Idee des Halbstarken."
Ein anderes Beispiel ist die geistige Aufbruchssituation, die Schmidt etwa an der Suhrkamp-Kultur festmacht: Erst hält er eine Lobrede auf Siegfried Unselds Empfänge in der Frankfurter Klettenbergstraße, bei denen sich gezeigt habe, "wie sich die Stimmung in den intellektuellen Kreisen Frankfurts langsam lockerte" - dann wird derselbe Ort plötzlich geschmäht als "Golfclub" für jüngere Feuilletonisten, eine "Zugehörigkeitsagentur".
Die vielen Widersprüche mögen Schmidts Form der Selbstkritik sein, sie machen es allerdings schwer, dem Buch Thesen zu entnehmen. Einem mäandernden Roman wird man das nicht vorwerfen können, einem Sachbuch eher. Insgesamt scheint der Autor mehr Errungenschaften der Bundesrepublik zu erkennen als Defizite. Er sieht nicht so sehr das "braune Netz" (Willi Winkler) der Kontinuität des Nationalsozialismus, auch keine "BRD noir" (Philipp Felsch), sondern eher eine anfangs graue und spießige Republik, die langsam bunter wird. Während er die Hippies unter teils klischeehaften Verkürzungen eher abwertet, entdeckt Schmidt in der Popkultur dennoch eine Triebkraft seiner Generation, die dann auch die Politik besser gemacht habe - kulminierend in Gerhard Schröder als "Held in der letzten virilen Performance", als König von Deutschland, bevor die Sozialdemokratie "der Postmoderne zum Opfer fällt".
Unter Angela Merkel sieht Schmidt dann eine Politik der Krisenverdrängung - bis zum bösen Erwachen, bei dem man feststellt, dass Putin mit seinem Krieg die Welt in eine "Vergangenheit vor 1990" zurückkatapultiert hat. Den Boomern attestiert der Autor dabei teils Phlegma, den Jüngeren kindliche Sicherheitserwartungen.
Da er zuletzt auch den Niedergang des Qualitätsjournalismus bedauert, hätte man sich ein vehementeres Eintreten für die vorher im Buch stolz beschriebenen Meriten eines kritischen Feuilletons erhofft, die sich der Publizist, der heute für die "Zeit" arbeitet, auch selbst mit anrechnet. Man sieht inzwischen aber auch Boomer offenbar ohne Bauchschmerzen einen Journalismus umarmen, dem eine Agenturmeldung wichtiger ist als ein Autorenstück, wenn sie mehr Klicks bringt. JAN WIELE
Thomas E. Schmidt: "Große Erwartungen". Die Boomer, die Bundesrepublik und ich.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 256 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas E. Schmidt erklärt seine Boomer
Ist das nun ein Sachbuch, oder ist es eher ein Roman? Der Titel "Große Erwartungen" zitiert Weltliteratur von Charles Dickens, und auch im Text kommt Thomas E. Schmidt öfter auf literarische Vorbilder zu sprechen, etwa um die Schwierigkeit autobiographischen Schreibens festzustellen und zu behaupten, er halte seine Erfahrungen weder für typisch noch für symbolisch. Aber das kann man kaum glauben, wenn der Buchumschlag eine "Bilanz der Babyboomer" verspricht.
Die Bezeichnung "Boomer", von der jüngsten Generation inzwischen oft abwertend verwendet, klingt auch für Schmidt angeblich zweifelhaft, nach "ewig roten Bäckchen und dicker Hose". Und doch scheint er, Jahrgang 1959, seine Boomer irgendwie zu lieben, auch wenn er sich von den über sie bekannten Klischees abzuheben versucht. Ja, er scheint durchaus wehmütig darüber zu sein, dass diese Boomer nun abtreten: "Wir beginnen zu verstummen, und die Ersten von uns sind schon gestorben." Obwohl Schmidt erkennt, dass die Rede vom Wir eine Anmaßung sei ("ich schließe all jene aus, die zur selben Zeit wie ich in der DDR aufwuchsen"), obwohl er konzediert, dass sich eine Frau vielleicht anders an die Boomzeit der Bundesrepublik erinnern werde als er, ist sein Buch natürlich der Versuch und auch das Versprechen, trotz allem für dieses Wir einzutreten.
Er grenzt es etwa ab von der Generation der um 1945 Geborenen. Sie nennt er "Generation Limbus", und aus ihrer Not, teils Verwahrlosung heraus erklärt er sowohl das Phänomen der Halbstarken als auch das der RAF. An diesem Beispiel etwa zeigt sich, dass das Buch durchzogen ist von Paradoxien: Erst analysiert Schmidt, dass Mitglieder der RAF, selbst nachdem sie zu Mördern geworden waren, sich noch wie Halbstarke benommen haben. Und wenig später kritisiert er diese Feststellung: "Genau diesem Muster entsprechend wurden die RAF-Leute auch wahrgenommen, als monströse, sich bis zur Kenntlichkeit steigernde Verkörperungen der Idee des Halbstarken."
Ein anderes Beispiel ist die geistige Aufbruchssituation, die Schmidt etwa an der Suhrkamp-Kultur festmacht: Erst hält er eine Lobrede auf Siegfried Unselds Empfänge in der Frankfurter Klettenbergstraße, bei denen sich gezeigt habe, "wie sich die Stimmung in den intellektuellen Kreisen Frankfurts langsam lockerte" - dann wird derselbe Ort plötzlich geschmäht als "Golfclub" für jüngere Feuilletonisten, eine "Zugehörigkeitsagentur".
Die vielen Widersprüche mögen Schmidts Form der Selbstkritik sein, sie machen es allerdings schwer, dem Buch Thesen zu entnehmen. Einem mäandernden Roman wird man das nicht vorwerfen können, einem Sachbuch eher. Insgesamt scheint der Autor mehr Errungenschaften der Bundesrepublik zu erkennen als Defizite. Er sieht nicht so sehr das "braune Netz" (Willi Winkler) der Kontinuität des Nationalsozialismus, auch keine "BRD noir" (Philipp Felsch), sondern eher eine anfangs graue und spießige Republik, die langsam bunter wird. Während er die Hippies unter teils klischeehaften Verkürzungen eher abwertet, entdeckt Schmidt in der Popkultur dennoch eine Triebkraft seiner Generation, die dann auch die Politik besser gemacht habe - kulminierend in Gerhard Schröder als "Held in der letzten virilen Performance", als König von Deutschland, bevor die Sozialdemokratie "der Postmoderne zum Opfer fällt".
Unter Angela Merkel sieht Schmidt dann eine Politik der Krisenverdrängung - bis zum bösen Erwachen, bei dem man feststellt, dass Putin mit seinem Krieg die Welt in eine "Vergangenheit vor 1990" zurückkatapultiert hat. Den Boomern attestiert der Autor dabei teils Phlegma, den Jüngeren kindliche Sicherheitserwartungen.
Da er zuletzt auch den Niedergang des Qualitätsjournalismus bedauert, hätte man sich ein vehementeres Eintreten für die vorher im Buch stolz beschriebenen Meriten eines kritischen Feuilletons erhofft, die sich der Publizist, der heute für die "Zeit" arbeitet, auch selbst mit anrechnet. Man sieht inzwischen aber auch Boomer offenbar ohne Bauchschmerzen einen Journalismus umarmen, dem eine Agenturmeldung wichtiger ist als ein Autorenstück, wenn sie mehr Klicks bringt. JAN WIELE
Thomas E. Schmidt: "Große Erwartungen". Die Boomer, die Bundesrepublik und ich.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022. 256 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main