Bereits seit Monaten unterrichtet Schramm nicht mehr; etwas soll vorgefallen sein zwischen ihm und einem Schüler. Die Kollegen haben es schon immer gewußt, hinter seinem Rücken zerrissen sie sich über ihn, der immer korrekt war, die Mäuler. Und in der Tat, Schramm war porös geworden über die Zeit mit dem Jungen, der ihm in seiner Radikalität gegen sich selbst so ähnlich schien, und plötzlich hörte Schramm ein "wir" und war wie verzaubert, vollkommen ungeschützt in einem Moment, und dann -. Zeit hat er jetzt genug, sollte man meinen, aber die Sache ist längst nicht ausgestanden. Und so wendet Schramm sich widerwillig an den einzigen Menschen, den er noch hat, seinen Bruder. Vielleicht kann dieser ihm helfen herauszufinden, wie eins zum andern kam, wer hier wen in der Hand hatte, wie die Dinge sich so gegen Schramm verschwören konnten. Mit unheimlicher Präzision zieht Nina Bußmann uns hinein in ein Indizienspiel von parabolischer Gestalt. Während wir noch Opfer von Tätern zu unterscheiden suchen, drängt es uns unaufhaltsam hin zu jenem Moment, in dem ein Mann alles auf eine Karte setzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2012Nach mir das Unkraut
Mit "Große Ferien" hat die Debütantin Nina Bußmann einen erstaunlich lebensklugen Roman über die Frage geschrieben, wie man ein Eigenbrötler wird.
Von Lena Bopp
Der Suhrkamp Verlag ist zu beneiden - oder zu bedauern. Da hat das Haus gleich zwei junge Schriftstellerinnen an sich gebunden, und dann schreiben die beiden Romane, deren Ähnlichkeiten so frappierend sind, dass man sie keinesfalls gleichzeitig veröffentlichen kann. Nina Bußmann und Judith Schalanksy, beide 1980 geboren, widmen sich einer Lebensphase, der sie eigentlich längst entwachsen sind: Sie kehren beide zurück an die Schule. Und selbst wenn man davon ausgehen darf, dass sie sich weder abgesprochen haben, noch die eine bei der anderen abgeschrieben hat, wird es sich kaum vermeiden lassen, dass bald sehr viele Leser sagen werden: Die Bußmann ist wie die Schalansky.
Dafür kann Nina Bußmann nichts. Ihr Debütroman "Große Ferien", aus dem sie im vergangenen Sommer beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt einen Auszug las und mit dem sie einen Preis gewann, sei, wie sie sagte, schon damals fertig gewesen. Aber weil er eben so vollständig in das gleiche Universum eintaucht wie Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe", der im vergangenen Herbst erschien (F.A.Z. vom 10. September 2011), erreicht Bußmanns Werk die Buchhandlungen erst in diesen Tagen.
Den Vergleich mit der Vorgängerin braucht sie indes nicht zu scheuen. Ja, auch sie macht einen Lehrer zur Hauptfigur ihres Werks, der ein seltsam intimes Verhältnis zu einem seiner Schüler pflegt. Auch bei ihr ist dieser Lehrer ein Eigenbrötler erster Güte, einer von denen, deren Unglück die Schüler sofort erahnen, ein Mensch, den eine Reihe von größeren und kleineren Demütigungen bitter und ungesellig haben werden lassen. Und auch bei Nina Bußmann spiegelt sich der Zwangscharakter dieses tragischen Helden in seinem Blick auf die Natur, die in dem Roman als Bedrohung erscheint, als Großmetapher für das stets scheiternde menschliche Bemühen, eine bleibende Ordnung zu errichten. Auch ihr Roman erweist so im Grunde einer vor fast genau einhundert Jahren erschienenen Erzählung die Ehre, die sich ebenfalls dem wahnhaften Ringen eines Menschen mit der Natur widmete, Alfred Döblins "Die Ermordung einer Butterblume".
Den ganzen Roman hindurch nennt Nina Bußmann ihren Lehrer nur beim Nachnamen: Schramm. Der eine Tag aus seinem Leben, den sie schildert, beginnt mit der Arbeit im Vorgarten, in dem Schramm für gewöhnlich viele Stunden damit verbringt, Unkraut zu zupfen. Dabei offenbart sich in der Art, wie er den Pflanzen zu Leibe rückt, die sich zwischen den Gehwegplatten ausbreiten, seine manische Pedanterie: "Schramm scharrte. Er hieb die Spitzhacke tief in die Ritzen, bis er die Stränge der Wurzeln zu fassen bekam, und lockerte sie in kleinen, wiederholten Bewegungen, einem Rucken und Heben. Manche Triebe ließen sich dann sogar schon mit den Fingern herauszupfen, andere durch Ziehen mit verkanteter Klinge heranholen; abschließend schabte er die Reste der Wurzelhärchen aus der Fuge."
Damit ist der Ton vorgegeben, in dem sich die Geschichte bewegt. Es ist Schramms Ton, denn aus seinem Innenleben entsteht der Roman. Wie es Gedanken eigen ist, sind sie jedoch nicht zielgerichtet, so dass der Leser zwar einiges über Schramms Leben erfährt, vieles aber im Ungefähren bleibt. Dass Schramm unter einem strengen Vater und einer schwachen Mutter litt, dass er im Vergleich mit dem Bruder Viktor, dem früh die Mädchenherzen zuflogen, immer den Kürzeren zog, dass er eigentlich gar nicht Lehrer werden wollte und sich schließlich an der Schule den Ruf eines Tyrannen erworben hat - all diese Informationen werden dem Leser gleichsam en passant zuteil, wobei die Beiläufigkeit, mit der Schramm sie erinnert, den Dingen nur vordergründig den Schrecken nimmt. Darin liegt eine große Stärke dieses Romans: Wie das unaufhaltsam sich ausbreitende Unkraut langsam, aber stetig durch den Garten wuchert, so ergreift auch das Grauen allmählich vom Leser Besitz. Irgendwann ist man bereit, hinter Schramms Fernbleiben von der Schule ein echtes Verbrechen zu vermuten.
"Etwas ist vorgefallen", heißt es denn auch an einer Stelle, und in dieser passiven, unpersönlichen Formulierung, die klug gewählt ist, spiegeln sich sowohl die Anlage als auch die Dramatik des gesamten Geschehens. Denn was genau vorgefallen ist, wird man nicht erfahren, und strenggenommen ist es auch nicht entscheidend. Es reicht zu wissen, dass Schramm mit dem Schüler Artur Waidschmidt aneinandergeraten ist, nachdem sich die beiden zuvor eine Weile recht nah gestanden haben. Ob homoerotische Neigungen auf Seiten des Lehrers eine Rolle spielten? Gut möglich. Ob Waidschmidt einfach nur ein böses Spiel mit Schramm trieb? Auch möglich. Sicher ist nur, dass es Waidschmidt war, der die Pausen zunächst lieber mit dem Lehrer verbrachte, bevor er später doch die Gesellschaft von seinesgleichen, vor allem von einem Mädchen, vorzog. Was bleibt, sind Verdächtigungen und Mutmaßungen - und zwar sowohl auf Seiten Schramms als auch auf Seiten des Lesers.
Denn auf ähnliche Weise wie Schramm, der im Laufe seines Lebens immer tiefer in einen Sog aus verschwörerischen Gedanken, Zweifeln und diffusen Ahnungen gerissen wird - und zwar so lange, bis diese Gedanken sein Leben selbst werden -, so verfängt sich auch der Leser in einer Folge von Ereignissen, die er gewissermaßen nur vom Hörensagen kennt und die ihn seltsam beunruhigt zurücklassen. Für Schramm werden die kruden Ahnungen schließlich zu Gewissheiten, weil es ihm nicht mehr gelingt, sie mit anderen zu teilen und an anderen auszuprobieren. Genau dies vergrößert seine Isolation und macht ihn zu dem Außenseiter, als der er uns entgegentritt.
Es zeugt von großem Talent, mit welcher Sicherheit sich Nina Bußmann in den Kopf dieses sonderbaren Menschen versetzt und mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Leser auf diese Reise mitnimmt. Sie erzählt davon, wie jemand verschroben wird - und welches aggressive Potential in so einer Einsamkeit lauert. Ein lebenskluges, erstaunlich reifes Debüt.
Nina Bußmann: "Große Ferien". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 200 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit "Große Ferien" hat die Debütantin Nina Bußmann einen erstaunlich lebensklugen Roman über die Frage geschrieben, wie man ein Eigenbrötler wird.
Von Lena Bopp
Der Suhrkamp Verlag ist zu beneiden - oder zu bedauern. Da hat das Haus gleich zwei junge Schriftstellerinnen an sich gebunden, und dann schreiben die beiden Romane, deren Ähnlichkeiten so frappierend sind, dass man sie keinesfalls gleichzeitig veröffentlichen kann. Nina Bußmann und Judith Schalanksy, beide 1980 geboren, widmen sich einer Lebensphase, der sie eigentlich längst entwachsen sind: Sie kehren beide zurück an die Schule. Und selbst wenn man davon ausgehen darf, dass sie sich weder abgesprochen haben, noch die eine bei der anderen abgeschrieben hat, wird es sich kaum vermeiden lassen, dass bald sehr viele Leser sagen werden: Die Bußmann ist wie die Schalansky.
Dafür kann Nina Bußmann nichts. Ihr Debütroman "Große Ferien", aus dem sie im vergangenen Sommer beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt einen Auszug las und mit dem sie einen Preis gewann, sei, wie sie sagte, schon damals fertig gewesen. Aber weil er eben so vollständig in das gleiche Universum eintaucht wie Judith Schalanskys Roman "Der Hals der Giraffe", der im vergangenen Herbst erschien (F.A.Z. vom 10. September 2011), erreicht Bußmanns Werk die Buchhandlungen erst in diesen Tagen.
Den Vergleich mit der Vorgängerin braucht sie indes nicht zu scheuen. Ja, auch sie macht einen Lehrer zur Hauptfigur ihres Werks, der ein seltsam intimes Verhältnis zu einem seiner Schüler pflegt. Auch bei ihr ist dieser Lehrer ein Eigenbrötler erster Güte, einer von denen, deren Unglück die Schüler sofort erahnen, ein Mensch, den eine Reihe von größeren und kleineren Demütigungen bitter und ungesellig haben werden lassen. Und auch bei Nina Bußmann spiegelt sich der Zwangscharakter dieses tragischen Helden in seinem Blick auf die Natur, die in dem Roman als Bedrohung erscheint, als Großmetapher für das stets scheiternde menschliche Bemühen, eine bleibende Ordnung zu errichten. Auch ihr Roman erweist so im Grunde einer vor fast genau einhundert Jahren erschienenen Erzählung die Ehre, die sich ebenfalls dem wahnhaften Ringen eines Menschen mit der Natur widmete, Alfred Döblins "Die Ermordung einer Butterblume".
Den ganzen Roman hindurch nennt Nina Bußmann ihren Lehrer nur beim Nachnamen: Schramm. Der eine Tag aus seinem Leben, den sie schildert, beginnt mit der Arbeit im Vorgarten, in dem Schramm für gewöhnlich viele Stunden damit verbringt, Unkraut zu zupfen. Dabei offenbart sich in der Art, wie er den Pflanzen zu Leibe rückt, die sich zwischen den Gehwegplatten ausbreiten, seine manische Pedanterie: "Schramm scharrte. Er hieb die Spitzhacke tief in die Ritzen, bis er die Stränge der Wurzeln zu fassen bekam, und lockerte sie in kleinen, wiederholten Bewegungen, einem Rucken und Heben. Manche Triebe ließen sich dann sogar schon mit den Fingern herauszupfen, andere durch Ziehen mit verkanteter Klinge heranholen; abschließend schabte er die Reste der Wurzelhärchen aus der Fuge."
Damit ist der Ton vorgegeben, in dem sich die Geschichte bewegt. Es ist Schramms Ton, denn aus seinem Innenleben entsteht der Roman. Wie es Gedanken eigen ist, sind sie jedoch nicht zielgerichtet, so dass der Leser zwar einiges über Schramms Leben erfährt, vieles aber im Ungefähren bleibt. Dass Schramm unter einem strengen Vater und einer schwachen Mutter litt, dass er im Vergleich mit dem Bruder Viktor, dem früh die Mädchenherzen zuflogen, immer den Kürzeren zog, dass er eigentlich gar nicht Lehrer werden wollte und sich schließlich an der Schule den Ruf eines Tyrannen erworben hat - all diese Informationen werden dem Leser gleichsam en passant zuteil, wobei die Beiläufigkeit, mit der Schramm sie erinnert, den Dingen nur vordergründig den Schrecken nimmt. Darin liegt eine große Stärke dieses Romans: Wie das unaufhaltsam sich ausbreitende Unkraut langsam, aber stetig durch den Garten wuchert, so ergreift auch das Grauen allmählich vom Leser Besitz. Irgendwann ist man bereit, hinter Schramms Fernbleiben von der Schule ein echtes Verbrechen zu vermuten.
"Etwas ist vorgefallen", heißt es denn auch an einer Stelle, und in dieser passiven, unpersönlichen Formulierung, die klug gewählt ist, spiegeln sich sowohl die Anlage als auch die Dramatik des gesamten Geschehens. Denn was genau vorgefallen ist, wird man nicht erfahren, und strenggenommen ist es auch nicht entscheidend. Es reicht zu wissen, dass Schramm mit dem Schüler Artur Waidschmidt aneinandergeraten ist, nachdem sich die beiden zuvor eine Weile recht nah gestanden haben. Ob homoerotische Neigungen auf Seiten des Lehrers eine Rolle spielten? Gut möglich. Ob Waidschmidt einfach nur ein böses Spiel mit Schramm trieb? Auch möglich. Sicher ist nur, dass es Waidschmidt war, der die Pausen zunächst lieber mit dem Lehrer verbrachte, bevor er später doch die Gesellschaft von seinesgleichen, vor allem von einem Mädchen, vorzog. Was bleibt, sind Verdächtigungen und Mutmaßungen - und zwar sowohl auf Seiten Schramms als auch auf Seiten des Lesers.
Denn auf ähnliche Weise wie Schramm, der im Laufe seines Lebens immer tiefer in einen Sog aus verschwörerischen Gedanken, Zweifeln und diffusen Ahnungen gerissen wird - und zwar so lange, bis diese Gedanken sein Leben selbst werden -, so verfängt sich auch der Leser in einer Folge von Ereignissen, die er gewissermaßen nur vom Hörensagen kennt und die ihn seltsam beunruhigt zurücklassen. Für Schramm werden die kruden Ahnungen schließlich zu Gewissheiten, weil es ihm nicht mehr gelingt, sie mit anderen zu teilen und an anderen auszuprobieren. Genau dies vergrößert seine Isolation und macht ihn zu dem Außenseiter, als der er uns entgegentritt.
Es zeugt von großem Talent, mit welcher Sicherheit sich Nina Bußmann in den Kopf dieses sonderbaren Menschen versetzt und mit welcher Selbstverständlichkeit sie den Leser auf diese Reise mitnimmt. Sie erzählt davon, wie jemand verschroben wird - und welches aggressive Potential in so einer Einsamkeit lauert. Ein lebenskluges, erstaunlich reifes Debüt.
Nina Bußmann: "Große Ferien". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 200 S., geb., 17,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit viel Lob bespricht Rezensent Nico Bleutge Nina Bussmanns ersten Roman "Große Ferien". Tief beeindruckt liest der Kritiker, wie es der Autorin gelingt, ihre Geschichte um einen Mathematik-, Physik- und Erdkundelehrer, der seinen Dienst nach einem nicht näher benannten Vorkommnis mit einem Schüler quittiert, in Thomas-Bernhard-Satzschleifen atmosphärisch dicht und intensiv zu entwickeln. In abwechselnden Momenten von Nähe und Distanz beobachtet Bleutge Bussmanns eigensinnigen Protagonisten bei seinem Versuch, durch Rückzug und Ordnungssucht seinen verdrängten Gefühlen und unterdrückten Wünschen, etwa beim Unkraut-Jäten, zu entfliehen. Von Bussmanns "angerautem" Ton und ihren verwirrenden, ausdrucksstarken Bildern hat sich der Rezensent schnell in den Bann ziehen lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"So handelt Nina Bußmann in diesem ausgefeilten und bravourösen Debüt auch von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten literarischen Sprechens".
Detlef Grumbach, Deutschlandfunk 07.05.2012
Detlef Grumbach, Deutschlandfunk 07.05.2012