Der Leser unternimmt mit diesem Band einen Streifzug durch achthundert Jahre griechische Geschichte. Von Homer bis Kleopatra, von Sokrates bis Archimedes werden zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten anhand historischer Porträts vorgestellt. Angesehene Fachleute, Historiker, Philologen, Archäologen und Philosophen beschreiben jeweils eine der großen Gestalten des antiken Griechenland und bieten so einen informativen Überblick über eine faszinierende Epoche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.1999Wo die Rose hier blüht, wo Reben um Lorbeer sich schlingen
Ein Spaziergang um die Gräber großer Griechen in achtundfünfzig Stationen unter kundiger Führung: In Kai Brodersens Biographiensammlung soll kein Denker dunkel bleiben
Zu den Paradoxien der griechischen Kultur gehört es, daß sie einerseits so viele literarische Formen entwickelte, eine große Zahl von Personen ins Licht der Geschichte rückte, ein umfassendes Interesse am Menschen in seiner Welt zeigte, andererseits jedoch die Biographie erst relativ spät profilierte und ihr stets mit Vorbehalten gegenüberstand. Ob man mit Arnaldo Momigliano in Skylax von Karyanda und in Xanthos, dem Lyder, die Impulse aus dem Orient im frühen fünften Jahrhundert vor Christus betont oder mit Albrecht Dihle die Reaktionen auf die provozierende Gestalt des Sokrates als entscheidenden Impuls sieht, es ist offenkundig, daß sich die griechische Biographie erst seit dem vierten Jahrhundert voll entfalten konnte, durch Isokrates und Xenophon wohl neue Anstöße, dann aber vor allem in der Schule des Aristoteles, bei den Peripatetikern, und schließlich in Alexandria ihre systematische Realisierung erlebte. Ihr eigentlicher Höhepunkt, die Weltwirkung der griechischen Biographie, aber liegt noch später, in jenen "Parallelbiographien" des Plutarch von Chaironeia (circa 45 bis 125 nach Christus), die für das europäische Bild der Antike seit den Tagen Shakespeares grundlegend bleiben sollten.
Auflösen läßt sich die Paradoxie nur dann, wenn man die Voraussetzungen berücksichtigt und die Entwicklung nicht isoliert betrachtet. Zu den entscheidenden Voraussetzungen zählt sowohl in der archaischen als auch in der klassischen Epoche der griechischen Geschichte die Bindung des einzelnen an die jeweils bestimmenden sozialen und politischen Strukturen. Die in der archaischen Gesellschaft dominierende Aristokratie denunzierte jeden, der sich über ihre Normen erhob, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Tyrannen. Erst recht wandte sich die demokratische Gesellschaft im Banne ihrer Parolen von Freiheit und Gleichheit immer schärfer gegen die permanente oder langfristige Macht von einzelnen; das Präventivmittel der Ostrakisierung bedrohte jeden herausragenden Politiker. Aristokratische Standesnormen verhinderten somit einen frühen Individualisierungsprozeß nicht weniger als das Gleichheitsideal der Polis.
Für diese Lage erscheint - neben der Spätentwicklung der Biographie - die Geschichte des griechischen Porträts charakteristisch, insbesondere aber jene der Bildnisse lebender Herrscher oder Politiker auf den griechischen Münzen. Wie die jüngst publizierte "Berliner Dissertation von Ralf Krumeich (Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im fünften Jahrhundert vor Christus", Biering und Brinkmann Verlag, München) wieder ins Bewußtsein gerufen hat, ist die geringe Zahl zeitgenössischer griechischer Porträts in jenem Zeitraum ebenso bezeichnend wie die Tatsache, daß die erfolgreichen Politiker und Feldherrn häufig in Gruppenkompositionen dargestellt wurden oder daß, nach einem Hinweis des Demosthenes, Konon im Jahre 393 der erste Athener war, der seit den "Tyrannenmördern" durch eine Ehrenstatue auf der Agora ausgezeichnet wurde.
Noch eindeutiger sind die Phänomene im numismatischen Bereich. Es ist für Athen typisch, daß keiner der großen Politiker des sechsten und fünften Jahrhunderts im Münzbild erschien, weder Solon noch Kleisthenes, weder Themistokles noch Perikles, sondern daß die ersten Porträts Lebender, die mit den Eulen-Rückseiten der attischen Prägung verbunden wurden, die Bildnisse jener persischen Satrapen zeigten, deren Finanzhilfe im Namen des Großkönigs schließlich den Peloponnesischen Krieg entschied. Noch die Münzen Alexanders des Großen ließen dessen Profil allenfalls in den Heraklesporträts ahnen, erst seit den Diadochen waren dann die hellenistischen Könige im Münzbild präsent. Die Parallelen, die hier zur Grundeinstellung gegenüber der Selbständigkeit des Individuums, der Voraussetzung der Biographie, bestanden, sind evident.
Selbstverständlich wurden auch die Griechen auf Herkunft, Entwicklung und Lebensweise der bedeutenden Dichter, "Weisen", Philosophen und Politiker neugierig. Doch in der Regel war über deren Vita nur wenig bekannt. So mußten zahlreiche Anekdoten Wissenslücken füllen, oft beiläufige Angaben in den Werken zur Rekonstruktion dienen. Unter dem Einfluß der Rhetorik lagen zudem Idealisierung oder Diffamierung nahe, Gestaltungseffekte führten zu Mißtrauen und Distanz. Während die großen historischen Werke eines Herodot und Thukydides volle Anerkennung fanden, blieben die Reserven gegen die Biographien bestehen. Noch deren einflußreichster Autor, Plutarch, rechtfertigte dieses Genus in seiner Alexanderbiographie, indem er darauf hinwies, daß "oft eine unbedeutende Handlung, ein Wort oder ein Scherz ein schärferes Licht auf den Charakter wirft als Schlachten mit zahllosen Gefallenen, Zusammenstöße der größten Heere und Belagerungskämpfe um die größten Städte".
Dies sind die besonderen Schwierigkeiten, die einer Sammlung historischer Porträts des antiken Griechentums entgegenstehen, wie sie der Münchner Lektor Stefan von der Lahr anregte und der Mannheimer Althistoriker Kai Brodersen realisierte. Beide erstrebten eine repräsentative Auswahl von Biographien aus der gesamten griechischen Welt des achten bis ersten Jahrhunderts vor Christus, wobei Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Kunst gegenüber der Politik eindeutig dominieren. Herrscherlisten, Dynastiegruppen und Heldengalerien sind hier nicht zu befürchten. Andererseits war auch dem Herausgeber bewußt, daß jede solche Auswahl subjektiv bleiben muß und daß zum Beispiel frühe Künstler, Musiker, die Initiatoren der Wirtschaft hier schon auf Grund der Quellenlage fehlen werden.
Die achtundfünfzig Biographien, die nach Sachgebieten und Epochen zusammengefaßt sind, weisen in der Regel einen Umfang von sieben Seiten auf, in einzelnen Fällen etwas mehr. Doch in diesen kleinen Rahmen kam die Individualität der Autoren zu ihrem Recht. Die Vielzahl der Ansätze und Perspektiven verhindert die Monotonie einer einheitlichen Serie. Die glänzende literarische Miniatur findet sich hier ebenso wie die genaue, konventionelle Nachzeichnung, packende Vergegenwärtigungen der Menschen wie sorgfältige Werkanalysen. Vor allem ist es dem Herausgeber gelungen, kompetente Spezialisten für sein Vorhaben zu gewinnen, in der Mehrzahl Althistoriker, klassische Philologen, Archäologen und Philosophen, aber auch Vertreter der Technikgeschichte, der Geschichte der Medizin und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen.
Sämtlichen Beiträgen im einzelnen gerecht zu werden ist sehr schwierig und hier nicht möglich. Möglich ist allein, durch eine Auswahl besonders auffallender oder typischer Porträts die Problematik, Spannweite und Methodenvielfalt der Miniaturen aufzuzeigen. In der archaischen Epoche stand Fritz Gschnitzer vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Auf neun Seiten den Ertrag der Forschungen zur "homerischen Frage" mit den Anfängen griechischer Geschichte und Kultur zu verbinden mußte wohl jeden Bearbeiter überfordern. Gschnitzer konzentrierte sich überwiegend auf die sehr komplizierten Probleme um Entstehung, Chronologie, Eigenart und Umwelt der unter dem Namen Homers überlieferten Epen. Wer einst Wolfgang Schadewaldts suggestive Rezitationen von "Dichter A" und "Dichter B" hören konnte, wird sich hier heimisch finden, gleichzeitig aber bedauern, daß Wirkung und Bedeutung dieser Epen für die gesamte griechische Kultur nur eben skizziert werden konnten. Die Kenntnis des Inhalts der großen Werke ist im einzelnen vorausgesetzt; in dem gelehrten, gut geschriebenen Essay wird kein einziger Homervers präsentiert.
Die darauf folgende, besonders lebendige Hesiod-Miniatur von Christiane Reitz geht dagegen von sicher ausgewählten und überzeugend interpretierten Abschnitten der "Theogonie" und der "Werke und Tage" aus, dem "Aufruf zu einem Leben in Fleiß und Anstand" und der direkten "Reflexion des eigenen Tuns". Obwohl auch über Hesiod nur wenig überliefert und aus den Werken zu entnehmen ist, gelang hier ein besonders plastisches Bild. Ähnliches gilt auch für Wolfgang Röslers Doppelporträt von Sappho und Alkaios. Für Sapphos Kreis und Erleben werden die Zusammenhänge mit ethnologisch erforschten Initiationsriten sowie die Verbindung von Sexualität und Erziehung betont, zentrale Gedichte wie die berühmte Ode an Aphrodite übersetzt und interpretiert - zwei Seiten Alkaios konnten dagegen a limine nicht genügen.
Im politischen Bereich der archaischen Epoche demonstriert Klaus Bringmann in einer peniblen Quellenanalyse und -interpretation, dem derzeitigen Forschungsstand gemäß, die Auflösung der einstigen fable convenue der Persönlichkeit des großen spartanischen Gesetz- und Verfassungsgebers Lykurg. Klaus Rosen stellt in seinem originell strukturierten Beitrag über Peisistratos und dessen Söhne die Verbindung mit der Institution der griechischen Tyrannis her und gelangt auf diese Weise zu einem sehr ausgewogenen Gesamturteil. Für den in jüngster Zeit so vieldiskutierten Kleisthenes bringt Heinrich Chantraine eine akribische Darstellung ein, die den bedeutenden Reformer in die Konstellationen der Adelsgruppen und der innenpolitischen Auseinandersetzungen einordnet, aus denen dann die bekannte Phylenordnung als Grundlage der athenischen "Isonomie" hervorging.
Gerade diese, aber auch die übrigen Gestalten der archaischen Epoche zeigen so die methodischen Kernprobleme dieser Sammlung antiker Porträts auf: die oft völlig unzulängliche Quellenlage, die chronologischen Unsicherheiten, nicht zuletzt das Gespinst von Anekdoten und phantasievollen Fiktionen, Gerüchten, Klatsch, Heroisierung und Idealisierung oder aber Médisance und Verleumdung, das sich über jene herausragenden Lebensgeschichten und Werke gelegt hatte. Und diese Bedingungen bestimmten dann auch weithin noch die folgenden Beiträge zur klassischen und nachklassischen Geschichte, die allein schon zahlenmäßig ganz eindeutig im Zentrum der langen Reihe standen.
Der umfangreiche Literaturteil wird dabei durch die besonders gelungenen Beiträge von Thomas Gelzer und Barbara Feichtinger eröffnet. Während Gelzer in seiner souveränen Pindar-Miniatur Leben und Werk des Dichters in geradezu idealer Weise ineinander verflechten konnte, fügte Frau Feichtinger die Tragödien des Aischylos in ihren einläßlichen Inhaltsbeschreibungen und Würdigungen bewußt in die politischen und geistigen Wechselverhältnisse ihrer Zeit ein. Dazu kommt hier noch eine imponierende sprachliche Ausdruckskraft. Im Kontrast dazu steht nach den Bildnissen der übrigen Tragiker Bernhard Zimmermanns Aristophanes, wo vor allem die formalen und strukturellen Probleme der Komödien behandelt, auf Zitate der so plastischen Texte jedoch verzichtet wurde.
Aus dem Kreis der klassischen Historiker sind die Porträts von Thukydides und Xenophon besonders hervorzuheben. In didaktisch sehr geschickter Weise geht Klaus Meister von den Gegensätzen zwischen Herodot und dem Geschichtsschreiber des Peloponnesischen Krieges aus, zeigt den Einfluß der Sophistik auf dessen Werk, von dem eine präzise Inhaltsübersicht gegeben und das schließlich temperamentvoll gegen einseitige moderne Kritik (Ernst Badian) verteidigt wird. Die wechselvolle Vita des durch manche qualvolle Schullektüre diskreditierten, doch für nicht wenige Geschehensstränge und neue literarische Formen wichtigen Xenophon ist selten so verständnisvoll und überzeugend dargestellt worden wie von Otto Lendle.
Besonders dicht sind in diesem Zeitraum die großen griechischen Philosophen vertreten. Dabei steht Martin Dreher mit einer klaren Einführung in Werk und Bedeutung des Protagoras und der Sophistik am Anfang. In der kenntnisreichen Demokrit-Skizze von Thomas Rütten wird das "Rezeptionsamalgam" besonders herausgearbeitet, Demokrits Lehre von den Atomen wie dessen mechanistische Deutung der physikalischen Welt veranschaulicht. Michael Erler und Aloys Winterling haben für Platon und Aristoteles gewiß das in diesem Rahmen Mögliche geleistet; ihre systematischen Lebens- und Werkübersichten konnten die jeweils besonders komplexe und so anspruchsvolle Materie kaum ausschöpfen. In anderer Weise problematisch sind die folgenden Künstlerbiographien über Phidias, Polyklet, Kallikrates und Iktinos, Praxiteles und Apelles. Sosehr man sie in diesem Verband begrüßen wird und so prägnant und überzeugend die Beschreibungen der Kunstwerke wirken - ohne Abbildungen und Pläne war eine angemessene Vergegenwärtigung hier nicht möglich.
Von den insgesamt elf Vertretern der Politik seien das Perikles-Porträt von Manfred Clauss und die Alkibiades-Biographie von Wolfgang Schuller näher beleuchtet. Clauss stemmt sich gegen jede Idealisierung des athenischen Staatsmannes. Für ihn war Perikles im Gegenteil einer "der energischsten Kriegstreiber der klassischen griechischen Zeit". Indem er so zum Perikles-Bild eines Karl Julius Beloch zurückkehrt, steht Perikles für ihn "paradigmatisch für das Düstere" der Antike. Daß in diesem konsequent und leidenschaftlich konzipierten Bild manche Aspekte in den Hintergrund treten, war wohl unumgänglich. In ganz ähnlicher Weise beeindruckt Schullers Alkibiades. In geradezu mitreißender Form ist hier die außerordentliche Gestalt eines völlig skrupellosen Individuums, des Vorläufers und Symbols einer neuen Epoche, vermittelt worden.
Der Schlußteil des Bandes über die hellenistische Zeit vermag am wenigsten zu befriedigen. Gewiß finden sich auch hier zuverlässige, eher konventionelle, informative Miniaturen, gewiß sind nicht nur die wirkungsvollen Gründer philosophischer Schulen, Epikur und Zenon, berücksichtigt, sondern auch die seltener einbezogenen Gestalten eines Theophrast und Archimedes, aber glänzende Profile fehlen. Im politischen Sektor gibt freilich Wolfgang Orth ein durchaus kritisches und ausgewogenes Alexanderbild, Werner Huß eine fundierte Biographie von Ptole maios I., doch die folgenden Diadochen- und Epigonenminiaturen, auch diejenige Kleopatras, sind überwiegend durch das verwirrende politische Geschehen und die wenig anziehende Ereignisgeschichte bestimmt. Der Ausklang des Buches ist so etwas enttäuschend.
Man mag angesichts dieser Sammlung von Kurzbiographien, die ein sehr mutiges Projekt realisiert, über die Auflösung der Geschichte in Biographien lamentieren, in ihr ein typisches Spätzeitphänomen, vergleichbar der spätantiken "Historia Augusta", erblicken, den Übergang von den anspruchsvollen großen Formen klassischer Historiographie zu Produkten der Unterhaltungsliteratur dokumentiert sehen - ohne Zweifel entspricht der vorliegende Band den Bedürfnissen und Wünschen vieler Leser. Für die Meister der Abstraktion und der Langzeitstudien, die Epigonen der "Annales" und die Vorkämpfer postmodernistischer Theorien und Methoden ist er gewiß ein Ärgernis und eine Provokation - der Erfolg hat auch hier "eine richtende Stimme".
Aber die Sammlung gibt in jedem Falle weit mehr als eine Aneinanderreihung personenbezogener Informationen; sie verklammert die Persönlichkeiten nahezu stets mit Gesellschaft und Epoche. In solch engem Rahmen lassen sich Leistungen, Relevanz und Rezeption dieser "Großen" gewiß nicht erschöpfen, sondern nur andeuten. Doch diese Kurzbiographien machen neugierig und locken vielleicht zu eingehenderer Beschäftigung und Lektüre, welche die Angaben des Anhangs erleichtern. Die bunten Steine fügen sich, trotz kleinerer Lücken, zum großen Mosaik. Hier liegt somit ein durchaus empfehlenswerter Band von hohem Informationswert vor, zugleich eine überzeugende Repräsentation lebendiger Altertumswissenschaft.
KARL CHRIST
Kai Brodersen (Hrsg.): "Große Gestalten der griechischen Antike". Achtundfünfzig historische Porträts von Homer bis Kleopatra. Verlag C. H. Beck, München 1999. 507 S., 1 Karte, 1 Zeittaf., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Spaziergang um die Gräber großer Griechen in achtundfünfzig Stationen unter kundiger Führung: In Kai Brodersens Biographiensammlung soll kein Denker dunkel bleiben
Zu den Paradoxien der griechischen Kultur gehört es, daß sie einerseits so viele literarische Formen entwickelte, eine große Zahl von Personen ins Licht der Geschichte rückte, ein umfassendes Interesse am Menschen in seiner Welt zeigte, andererseits jedoch die Biographie erst relativ spät profilierte und ihr stets mit Vorbehalten gegenüberstand. Ob man mit Arnaldo Momigliano in Skylax von Karyanda und in Xanthos, dem Lyder, die Impulse aus dem Orient im frühen fünften Jahrhundert vor Christus betont oder mit Albrecht Dihle die Reaktionen auf die provozierende Gestalt des Sokrates als entscheidenden Impuls sieht, es ist offenkundig, daß sich die griechische Biographie erst seit dem vierten Jahrhundert voll entfalten konnte, durch Isokrates und Xenophon wohl neue Anstöße, dann aber vor allem in der Schule des Aristoteles, bei den Peripatetikern, und schließlich in Alexandria ihre systematische Realisierung erlebte. Ihr eigentlicher Höhepunkt, die Weltwirkung der griechischen Biographie, aber liegt noch später, in jenen "Parallelbiographien" des Plutarch von Chaironeia (circa 45 bis 125 nach Christus), die für das europäische Bild der Antike seit den Tagen Shakespeares grundlegend bleiben sollten.
Auflösen läßt sich die Paradoxie nur dann, wenn man die Voraussetzungen berücksichtigt und die Entwicklung nicht isoliert betrachtet. Zu den entscheidenden Voraussetzungen zählt sowohl in der archaischen als auch in der klassischen Epoche der griechischen Geschichte die Bindung des einzelnen an die jeweils bestimmenden sozialen und politischen Strukturen. Die in der archaischen Gesellschaft dominierende Aristokratie denunzierte jeden, der sich über ihre Normen erhob, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Tyrannen. Erst recht wandte sich die demokratische Gesellschaft im Banne ihrer Parolen von Freiheit und Gleichheit immer schärfer gegen die permanente oder langfristige Macht von einzelnen; das Präventivmittel der Ostrakisierung bedrohte jeden herausragenden Politiker. Aristokratische Standesnormen verhinderten somit einen frühen Individualisierungsprozeß nicht weniger als das Gleichheitsideal der Polis.
Für diese Lage erscheint - neben der Spätentwicklung der Biographie - die Geschichte des griechischen Porträts charakteristisch, insbesondere aber jene der Bildnisse lebender Herrscher oder Politiker auf den griechischen Münzen. Wie die jüngst publizierte "Berliner Dissertation von Ralf Krumeich (Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im fünften Jahrhundert vor Christus", Biering und Brinkmann Verlag, München) wieder ins Bewußtsein gerufen hat, ist die geringe Zahl zeitgenössischer griechischer Porträts in jenem Zeitraum ebenso bezeichnend wie die Tatsache, daß die erfolgreichen Politiker und Feldherrn häufig in Gruppenkompositionen dargestellt wurden oder daß, nach einem Hinweis des Demosthenes, Konon im Jahre 393 der erste Athener war, der seit den "Tyrannenmördern" durch eine Ehrenstatue auf der Agora ausgezeichnet wurde.
Noch eindeutiger sind die Phänomene im numismatischen Bereich. Es ist für Athen typisch, daß keiner der großen Politiker des sechsten und fünften Jahrhunderts im Münzbild erschien, weder Solon noch Kleisthenes, weder Themistokles noch Perikles, sondern daß die ersten Porträts Lebender, die mit den Eulen-Rückseiten der attischen Prägung verbunden wurden, die Bildnisse jener persischen Satrapen zeigten, deren Finanzhilfe im Namen des Großkönigs schließlich den Peloponnesischen Krieg entschied. Noch die Münzen Alexanders des Großen ließen dessen Profil allenfalls in den Heraklesporträts ahnen, erst seit den Diadochen waren dann die hellenistischen Könige im Münzbild präsent. Die Parallelen, die hier zur Grundeinstellung gegenüber der Selbständigkeit des Individuums, der Voraussetzung der Biographie, bestanden, sind evident.
Selbstverständlich wurden auch die Griechen auf Herkunft, Entwicklung und Lebensweise der bedeutenden Dichter, "Weisen", Philosophen und Politiker neugierig. Doch in der Regel war über deren Vita nur wenig bekannt. So mußten zahlreiche Anekdoten Wissenslücken füllen, oft beiläufige Angaben in den Werken zur Rekonstruktion dienen. Unter dem Einfluß der Rhetorik lagen zudem Idealisierung oder Diffamierung nahe, Gestaltungseffekte führten zu Mißtrauen und Distanz. Während die großen historischen Werke eines Herodot und Thukydides volle Anerkennung fanden, blieben die Reserven gegen die Biographien bestehen. Noch deren einflußreichster Autor, Plutarch, rechtfertigte dieses Genus in seiner Alexanderbiographie, indem er darauf hinwies, daß "oft eine unbedeutende Handlung, ein Wort oder ein Scherz ein schärferes Licht auf den Charakter wirft als Schlachten mit zahllosen Gefallenen, Zusammenstöße der größten Heere und Belagerungskämpfe um die größten Städte".
Dies sind die besonderen Schwierigkeiten, die einer Sammlung historischer Porträts des antiken Griechentums entgegenstehen, wie sie der Münchner Lektor Stefan von der Lahr anregte und der Mannheimer Althistoriker Kai Brodersen realisierte. Beide erstrebten eine repräsentative Auswahl von Biographien aus der gesamten griechischen Welt des achten bis ersten Jahrhunderts vor Christus, wobei Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Kunst gegenüber der Politik eindeutig dominieren. Herrscherlisten, Dynastiegruppen und Heldengalerien sind hier nicht zu befürchten. Andererseits war auch dem Herausgeber bewußt, daß jede solche Auswahl subjektiv bleiben muß und daß zum Beispiel frühe Künstler, Musiker, die Initiatoren der Wirtschaft hier schon auf Grund der Quellenlage fehlen werden.
Die achtundfünfzig Biographien, die nach Sachgebieten und Epochen zusammengefaßt sind, weisen in der Regel einen Umfang von sieben Seiten auf, in einzelnen Fällen etwas mehr. Doch in diesen kleinen Rahmen kam die Individualität der Autoren zu ihrem Recht. Die Vielzahl der Ansätze und Perspektiven verhindert die Monotonie einer einheitlichen Serie. Die glänzende literarische Miniatur findet sich hier ebenso wie die genaue, konventionelle Nachzeichnung, packende Vergegenwärtigungen der Menschen wie sorgfältige Werkanalysen. Vor allem ist es dem Herausgeber gelungen, kompetente Spezialisten für sein Vorhaben zu gewinnen, in der Mehrzahl Althistoriker, klassische Philologen, Archäologen und Philosophen, aber auch Vertreter der Technikgeschichte, der Geschichte der Medizin und anderer naturwissenschaftlicher Disziplinen.
Sämtlichen Beiträgen im einzelnen gerecht zu werden ist sehr schwierig und hier nicht möglich. Möglich ist allein, durch eine Auswahl besonders auffallender oder typischer Porträts die Problematik, Spannweite und Methodenvielfalt der Miniaturen aufzuzeigen. In der archaischen Epoche stand Fritz Gschnitzer vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Auf neun Seiten den Ertrag der Forschungen zur "homerischen Frage" mit den Anfängen griechischer Geschichte und Kultur zu verbinden mußte wohl jeden Bearbeiter überfordern. Gschnitzer konzentrierte sich überwiegend auf die sehr komplizierten Probleme um Entstehung, Chronologie, Eigenart und Umwelt der unter dem Namen Homers überlieferten Epen. Wer einst Wolfgang Schadewaldts suggestive Rezitationen von "Dichter A" und "Dichter B" hören konnte, wird sich hier heimisch finden, gleichzeitig aber bedauern, daß Wirkung und Bedeutung dieser Epen für die gesamte griechische Kultur nur eben skizziert werden konnten. Die Kenntnis des Inhalts der großen Werke ist im einzelnen vorausgesetzt; in dem gelehrten, gut geschriebenen Essay wird kein einziger Homervers präsentiert.
Die darauf folgende, besonders lebendige Hesiod-Miniatur von Christiane Reitz geht dagegen von sicher ausgewählten und überzeugend interpretierten Abschnitten der "Theogonie" und der "Werke und Tage" aus, dem "Aufruf zu einem Leben in Fleiß und Anstand" und der direkten "Reflexion des eigenen Tuns". Obwohl auch über Hesiod nur wenig überliefert und aus den Werken zu entnehmen ist, gelang hier ein besonders plastisches Bild. Ähnliches gilt auch für Wolfgang Röslers Doppelporträt von Sappho und Alkaios. Für Sapphos Kreis und Erleben werden die Zusammenhänge mit ethnologisch erforschten Initiationsriten sowie die Verbindung von Sexualität und Erziehung betont, zentrale Gedichte wie die berühmte Ode an Aphrodite übersetzt und interpretiert - zwei Seiten Alkaios konnten dagegen a limine nicht genügen.
Im politischen Bereich der archaischen Epoche demonstriert Klaus Bringmann in einer peniblen Quellenanalyse und -interpretation, dem derzeitigen Forschungsstand gemäß, die Auflösung der einstigen fable convenue der Persönlichkeit des großen spartanischen Gesetz- und Verfassungsgebers Lykurg. Klaus Rosen stellt in seinem originell strukturierten Beitrag über Peisistratos und dessen Söhne die Verbindung mit der Institution der griechischen Tyrannis her und gelangt auf diese Weise zu einem sehr ausgewogenen Gesamturteil. Für den in jüngster Zeit so vieldiskutierten Kleisthenes bringt Heinrich Chantraine eine akribische Darstellung ein, die den bedeutenden Reformer in die Konstellationen der Adelsgruppen und der innenpolitischen Auseinandersetzungen einordnet, aus denen dann die bekannte Phylenordnung als Grundlage der athenischen "Isonomie" hervorging.
Gerade diese, aber auch die übrigen Gestalten der archaischen Epoche zeigen so die methodischen Kernprobleme dieser Sammlung antiker Porträts auf: die oft völlig unzulängliche Quellenlage, die chronologischen Unsicherheiten, nicht zuletzt das Gespinst von Anekdoten und phantasievollen Fiktionen, Gerüchten, Klatsch, Heroisierung und Idealisierung oder aber Médisance und Verleumdung, das sich über jene herausragenden Lebensgeschichten und Werke gelegt hatte. Und diese Bedingungen bestimmten dann auch weithin noch die folgenden Beiträge zur klassischen und nachklassischen Geschichte, die allein schon zahlenmäßig ganz eindeutig im Zentrum der langen Reihe standen.
Der umfangreiche Literaturteil wird dabei durch die besonders gelungenen Beiträge von Thomas Gelzer und Barbara Feichtinger eröffnet. Während Gelzer in seiner souveränen Pindar-Miniatur Leben und Werk des Dichters in geradezu idealer Weise ineinander verflechten konnte, fügte Frau Feichtinger die Tragödien des Aischylos in ihren einläßlichen Inhaltsbeschreibungen und Würdigungen bewußt in die politischen und geistigen Wechselverhältnisse ihrer Zeit ein. Dazu kommt hier noch eine imponierende sprachliche Ausdruckskraft. Im Kontrast dazu steht nach den Bildnissen der übrigen Tragiker Bernhard Zimmermanns Aristophanes, wo vor allem die formalen und strukturellen Probleme der Komödien behandelt, auf Zitate der so plastischen Texte jedoch verzichtet wurde.
Aus dem Kreis der klassischen Historiker sind die Porträts von Thukydides und Xenophon besonders hervorzuheben. In didaktisch sehr geschickter Weise geht Klaus Meister von den Gegensätzen zwischen Herodot und dem Geschichtsschreiber des Peloponnesischen Krieges aus, zeigt den Einfluß der Sophistik auf dessen Werk, von dem eine präzise Inhaltsübersicht gegeben und das schließlich temperamentvoll gegen einseitige moderne Kritik (Ernst Badian) verteidigt wird. Die wechselvolle Vita des durch manche qualvolle Schullektüre diskreditierten, doch für nicht wenige Geschehensstränge und neue literarische Formen wichtigen Xenophon ist selten so verständnisvoll und überzeugend dargestellt worden wie von Otto Lendle.
Besonders dicht sind in diesem Zeitraum die großen griechischen Philosophen vertreten. Dabei steht Martin Dreher mit einer klaren Einführung in Werk und Bedeutung des Protagoras und der Sophistik am Anfang. In der kenntnisreichen Demokrit-Skizze von Thomas Rütten wird das "Rezeptionsamalgam" besonders herausgearbeitet, Demokrits Lehre von den Atomen wie dessen mechanistische Deutung der physikalischen Welt veranschaulicht. Michael Erler und Aloys Winterling haben für Platon und Aristoteles gewiß das in diesem Rahmen Mögliche geleistet; ihre systematischen Lebens- und Werkübersichten konnten die jeweils besonders komplexe und so anspruchsvolle Materie kaum ausschöpfen. In anderer Weise problematisch sind die folgenden Künstlerbiographien über Phidias, Polyklet, Kallikrates und Iktinos, Praxiteles und Apelles. Sosehr man sie in diesem Verband begrüßen wird und so prägnant und überzeugend die Beschreibungen der Kunstwerke wirken - ohne Abbildungen und Pläne war eine angemessene Vergegenwärtigung hier nicht möglich.
Von den insgesamt elf Vertretern der Politik seien das Perikles-Porträt von Manfred Clauss und die Alkibiades-Biographie von Wolfgang Schuller näher beleuchtet. Clauss stemmt sich gegen jede Idealisierung des athenischen Staatsmannes. Für ihn war Perikles im Gegenteil einer "der energischsten Kriegstreiber der klassischen griechischen Zeit". Indem er so zum Perikles-Bild eines Karl Julius Beloch zurückkehrt, steht Perikles für ihn "paradigmatisch für das Düstere" der Antike. Daß in diesem konsequent und leidenschaftlich konzipierten Bild manche Aspekte in den Hintergrund treten, war wohl unumgänglich. In ganz ähnlicher Weise beeindruckt Schullers Alkibiades. In geradezu mitreißender Form ist hier die außerordentliche Gestalt eines völlig skrupellosen Individuums, des Vorläufers und Symbols einer neuen Epoche, vermittelt worden.
Der Schlußteil des Bandes über die hellenistische Zeit vermag am wenigsten zu befriedigen. Gewiß finden sich auch hier zuverlässige, eher konventionelle, informative Miniaturen, gewiß sind nicht nur die wirkungsvollen Gründer philosophischer Schulen, Epikur und Zenon, berücksichtigt, sondern auch die seltener einbezogenen Gestalten eines Theophrast und Archimedes, aber glänzende Profile fehlen. Im politischen Sektor gibt freilich Wolfgang Orth ein durchaus kritisches und ausgewogenes Alexanderbild, Werner Huß eine fundierte Biographie von Ptole maios I., doch die folgenden Diadochen- und Epigonenminiaturen, auch diejenige Kleopatras, sind überwiegend durch das verwirrende politische Geschehen und die wenig anziehende Ereignisgeschichte bestimmt. Der Ausklang des Buches ist so etwas enttäuschend.
Man mag angesichts dieser Sammlung von Kurzbiographien, die ein sehr mutiges Projekt realisiert, über die Auflösung der Geschichte in Biographien lamentieren, in ihr ein typisches Spätzeitphänomen, vergleichbar der spätantiken "Historia Augusta", erblicken, den Übergang von den anspruchsvollen großen Formen klassischer Historiographie zu Produkten der Unterhaltungsliteratur dokumentiert sehen - ohne Zweifel entspricht der vorliegende Band den Bedürfnissen und Wünschen vieler Leser. Für die Meister der Abstraktion und der Langzeitstudien, die Epigonen der "Annales" und die Vorkämpfer postmodernistischer Theorien und Methoden ist er gewiß ein Ärgernis und eine Provokation - der Erfolg hat auch hier "eine richtende Stimme".
Aber die Sammlung gibt in jedem Falle weit mehr als eine Aneinanderreihung personenbezogener Informationen; sie verklammert die Persönlichkeiten nahezu stets mit Gesellschaft und Epoche. In solch engem Rahmen lassen sich Leistungen, Relevanz und Rezeption dieser "Großen" gewiß nicht erschöpfen, sondern nur andeuten. Doch diese Kurzbiographien machen neugierig und locken vielleicht zu eingehenderer Beschäftigung und Lektüre, welche die Angaben des Anhangs erleichtern. Die bunten Steine fügen sich, trotz kleinerer Lücken, zum großen Mosaik. Hier liegt somit ein durchaus empfehlenswerter Band von hohem Informationswert vor, zugleich eine überzeugende Repräsentation lebendiger Altertumswissenschaft.
KARL CHRIST
Kai Brodersen (Hrsg.): "Große Gestalten der griechischen Antike". Achtundfünfzig historische Porträts von Homer bis Kleopatra. Verlag C. H. Beck, München 1999. 507 S., 1 Karte, 1 Zeittaf., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main