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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1998

Bleib, Schwesterlein, bleib
Peter Härtling plaudert Serienstoff · Von Heinz Ludwig Arnold

Peter Härtling ist ein Schriftsteller, der soziale Konflikte und historische Konstellationen in seinen Romanen gern um starke Figuren inszenierte. Weshalb ihm das Leben von Künstlern häufig Anlaß zu biographischen Romanen war. Härtling erzählt diese fiktionalen und faktenkundigen Bücher inzwischen mit faltenloser Routine, eingängig und unterhaltsam. Er ist zu einem Volksschriftsteller mit aufklärerischen Impulsen geworden. Sein neues Buch, der Roman "Große, kleine Schwester", gehorcht diesem Verfahren: Es fokussiert geschichtliche Entwicklung und soziale Problematik in den Lebensläufen zweier fast gleichaltriger Schwestern: Lea und Ruth, geboren 1906 und 1907. Die deutschen Mädchen sind aufgewachsen im mährischen Brünn. Das war damals habsburgisch, wurde nach dem Ersten Weltkrieg tschechisch, von 1939 bis Kriegsende von Nazi-Deutschland okkupiert und von 1948 bis 1990 kommunistisch.

Allein die geschichtliche Folie, vor deren Hintergrund Härtling seinen Lebensroman entwickelt, liefert einen Stoff voller sozialer, ethnischer und ideologischer Konflikte bis in die Gegenwart. Viel, vielleicht zu viel Material für ein Erzählpanorama, zumal Härtling die neunzehn Kapitel seines Romans zweispurig anlegte. Achtzehn Kapitel erzählen im jeweils ersten Teil vom Verfall der beiden alten Frauen, die seit Ende der vierziger Jahre zusammenleben, von den achtziger bis in die neunziger Jahre; und im jeweils zweiten Kapitelteil den historischen Verlauf und darin die Geschichte der Schwestern von ihrer Kindheit am Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum Tode ihrer Mutter im Jahre 1953.

Das letzte Kapitel erzählt vom Ende der beiden, von Ruths schnellem Tod und von Leas langsamem Sterben im Pflegeheim. Es soll den Höhepunkt der Symbiose darstellen, zu der das immer unerträglichere Zusammenleben der Schwestern führte: Lea kann ihr Leben ohne die Schwester nicht mehr denken, ihr Tod dringt nicht mehr in ihr Bewußtsein.

Härtling hat eine ertragreiche, fast analytische Romanstruktur gefunden. Für die Entwicklung des aktuellen Bewußtseinszustands der beiden Schwestern könnte damit gleichsam erzählend Ursachenforschung betrieben, mit dem Bericht der Vergangenheit auch Gegenwart erklärt werden. Doch Härtling nutzt die opulenten Erzählmöglichkeiten leider nicht, für die er sich einen so komfortablen Erzählrahmen schuf. Seine Parallelgeschichten verschränken sich nicht und treffen sich kaum. Zwar gibt es hin und wieder Bezüge, Erinnerungen. Aber sie sind nicht transformiert in ein reflektiertes Bewußtsein, sondern bestehen in der Wiederholung des Geschehenen oder im Lamento über verpaßte Gelegenheiten: "Wir haben zuviel gehabt und deshalb zuviel verloren. Genaugenommen blieb uns nichts."

Im Grunde geht alles, was Härtling erzählt, in seiner erzählerischen Kraft über solche Lamenti nicht hinaus. In den Gegenwartsteilen wird der Schrecken des Zusammenlebens etwas heftiger ausgemalt, allerdings mit deutlichen Wiederholungen absonderlichen Verhaltens; und in den historischen Kapitelteilen werden anekdotische Kindheitsgeschichtchen ausgebreitet und wird Realgeschichte oft im Eilverfahren abgehandelt, um nur ja keine historische Station auszulassen. Ergriffen wird man von solchem Erzählen nicht. Es ähnelt zu sehr dem Entwurf einer Vorabend-Fernsehserie.

Peter Härtling: "Große, kleine Schwester". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 346 S., geb., 39,80 DM.

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Peter Härtling gelingt es, das Leben beider voller Einfühlungsvermögen und Raffinesse zu erzählen. Jutta Gunz Aktion, Juni 2017