Ihre ersten Lebensjahre verbringt Seyran Ates in der Geborgenheit einer türkischen Großfamilie in Istanbul. Eines Tages verschwindet ihre Mutter, einige Monate später auch der Vater. Die Eltern sind als "Gastarbeiter" nach Deutschland gegangen, doch das erfährt Seyran erst viel später, als sie endlich nachkommen darf. Das Leben im fremden Land ist nicht einfach: Die siebenköpfige Familie wohnt in einer Einzimmerwohnung im Berliner Wedding. Dort herrschen die traditionellen Regeln, nach denen türkische Mädchen aufwachsen: Sie muß den Vater und die Brüder bedienen, darf das Haus nur für die Schulstunden verlassen und wird auf die Heirat mit einem türkischen Mann vorbereitet. In der Schule erringt Seyran die Anerkennung, die ihr zu Hause fehlt, entfernt sich dabei jedoch immer mehr vom strengen Elternhaus. Mit der Zeit glaubt sie "zwei Gesichter" zu haben, ein türkisches und ein deutsches. Mit 17 hält sie die Spannungen nicht mehr aus und läuft von zu Hause weg. Für die Familie ein Skandal, für Seyran ein erster Schritt in die Freiheit, ihre Zukunft selbst zu gestalten.
Sie studiert Jura, setzt sich für die Rechte türkischer Frauen ein, sie erlaubt sich, zu lieben wen und wie lange sie will. Ihr Freiheitsdrang kostet sie fast das Leben ... Die Geschichte einer couragierten jungen Frau, die sich ihren Platz in einer noch längst nicht multikulturellen Gesellschaft erobert.
Sie studiert Jura, setzt sich für die Rechte türkischer Frauen ein, sie erlaubt sich, zu lieben wen und wie lange sie will. Ihr Freiheitsdrang kostet sie fast das Leben ... Die Geschichte einer couragierten jungen Frau, die sich ihren Platz in einer noch längst nicht multikulturellen Gesellschaft erobert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2003„Sie sprechen aber gut Deutsch!”
Eine gebürtige Türkin, Juristin und inzwischen eingebürgert, erzählt von der Annäherung an ihre neue Heimat
SEYRAN ATES: Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin. Rowohlt Verlag, Berlin, 2003. 250 Seiten, 16,90 Euro.
Seyran Ates ist eine selbstbewusste, erfolgreiche Rechtsanwältin und aktive Feministin, und sie ist mit ihrem Leben zufrieden. Dennoch befindet sie sich in einem immerwährenden Kampf. Die geborene Türkin mit deutschem Pass sagt es in ihrem Buch: „Der tägliche Rassismus ist zu einem Bestandteil meines Lebens geworden.” Das äußere sich etwa darin, dass Menschen ihr, nachdem sie in tadellosem Deutsch eine Frage gestellt habe, radebrechend antworten würden. Auch das Erstaunen darüber, wie gut sie sich „als Türkin” im deutschen Recht auskenne, gehört für sie in diese Kategorie. Dass eine Juristin aus einer Gastarbeiterfamilie stammt und hierzulande Recht studiert hat, scheint immer noch außerhalb der Vorstellung so manches Deutschen zu liegen, sagt sie.
Bei ihrem Bericht über alltägliche Diskriminierung könnten auch diejenigen ins Grübeln kommen, die glauben, keiner Nachhilfe im Umgang mit Menschen aus anderen Ländern zu bedürfen. Immer wieder beklagt die Autorin zudem, wie wenig Interesse auch aufgeschlossene Menschen für die Kultur ihres Herkunftslandes aufbringen würden.
Kurdische Söhne und Töchter
Als kleines Mädchen von sechs Jahren wird Seyran Ates zusammen mit ihren Geschwistern von den Eltern, die schon eine Weile in Berlin arbeiten, nachgeholt. Der Vater ist Kurde – einer von jenen, die keinen Groll gegen die Türken hegen und am liebsten als Türken durchgehen. Doch hilft ihm das nicht, als er um seine türkische Ehefrau freit. Deren Familie lehnt einen kurdischen Schwiegersohn ab. Also entführt er seine Zukünftige kurzerhand, ein Verfahren, das keineswegs aus dem Rahmen fällt. Hinterher schließen die beiden Familien Frieden.
Die Autorin erleidet das Schicksal vieler Immigrantenkinder, fühlt sich hin- und hergerissen zwischen den Kulturen: zwischen der Nestwärme daheim und den unendlichen Möglichkeiten in der neuen Umgebung. Sie wird häufig eingesperrt, Vater, Mutter und Bruder schlagen sie; in der Schule erlebt sie hingegen eine ungewohnte Freiheit. Zwischen den Kulturen ist sie einem Strudel von Gefühlen ausgesetzt, der sie an den Rand der Verzweiflung bringt.
In der Schule erreicht das türkische Mädchen bald überdurchschnittliche Noten und kann sich als Schulsprecherin durchsetzen. Doch sie bleibt in beiden Welten verfangen: Obwohl sie immer selbstständiger wird, überlegt sie, sich von den väterlichen Fesseln durch eine traditionelle Eheschließung zu befreien.
Aber es kommt anders. Seyran macht einen radikalen Schnitt. Mit 17 Jahren läuft sie von zu Hause weg, sucht Zuflucht in einem Jugendhaus. Sie will Juristin werden – und lieben, wen sie will. Dass sie sich später mit ihren Eltern aussöhnt, grenzt an ein Wunder. Es mag für deutsche Leser seltsam klingen, wie sehr die Autorin ihrer Familie verbunden bleibt, obwohl sie sich lieblos behandelt fühlt, und trotz der Gewalt, die sie erfährt. Sie hingegen kann sich nur wundern, wie gering mitunter die Anlässe sind, die zwischen deutschen Eltern und Kindern zum Bruch führen.
Die Strenge ihrer Eltern beruhte keineswegs auf den Grundsätzen des Korans, schreibt Seyran Ates. Man sei nicht fromm gewesen. Allerdings war aus dem ländlichen Anatolien eine in Ehren gehaltene Tradition mitgebracht worden, verbunden mit einem tief verwurzelten Aberglauben. Inzwischen sind ihre Eltern in die Heimat zurückgekehrt und befassen sich intensiv mit dem Islam.
Der Druck und die Gewalttätigkeiten des Vaters gegen seine Tochter wären diesem beinahe zum Verhängnis geworden. Denn ein Mitglied der „Grauen Wölfe”, einer türkischen, rechtsradikalen Bewegung, schießt in dem Frauenladen für türkische Frauen, in dem Seyran Ates zu ihrer Studentenzeit arbeitet, auf die junge Frau. Sie wird schwer verletzt, ihre Kollegin stirbt bei dem Anschlag, und zunächst wird Seyrans Vater verdächtigt. Dennoch berichtet Seyran sehr objektiv über den Prozess und den Freispruch des Mannes, den sie letztlich identifizieren und damit überführen kann. Dass sie, damals noch türkische Staatsangehörige, keine Entschädigung erhält, die deutschen Opfern von Gewalttaten zusteht, ist ihr nur eine Randbemerkung wert. In einem enormen Kraftakt gelingt es ihr schließlich, die Folgen des Attentats so weit zu überwinden, dass sie ihr Studium abschließen kann.
Es gibt zwei gleichermaßen interessante Aspekte in dem Buch. Da ist zum einen die Verwurzelung der ersten türkischen Immigrantengeneration in der orientalisch-islamischen Kultur – samt der Brüche, mit denen deren Nachkommen konfrontiert sind. Zum anderen sensibilisiert die Autorin die Leser in ihrem Umgang mit Türken und Kurden. Es bewahrt sie vor möglicherweise gut gemeinter Mulitkulti-Akzeptanz etwa dort, wo ein offenes Wort durchaus angebracht wäre, beispielsweise beim Tragen eines Kopftuchs. Fast immer, so Seyran Ates, wenn eine Frau sich für die Kopfbedeckung entscheide, stecke dahinter der Druck eines Mannes. Nicht der Koran schreibe den Tschador oder das Kopftuch vor, vielmehr werde das von Männern verlangt, die sich die Verfügungsgewalt über Frauen anmaßten. Derzeit hat die eingebürgerte Rechtsanwältin eine besondere Herausforderung zu bestehen: Sie ist einem türkischen Mann begegnet, den sie liebt.
ELKENICOLINI
Gefangen in einem Strudel der Gefühle: türkische Kinder zwischen Tradition und Moderne.
Foto: Dirk
Dobiey
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Eine gebürtige Türkin, Juristin und inzwischen eingebürgert, erzählt von der Annäherung an ihre neue Heimat
SEYRAN ATES: Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin. Rowohlt Verlag, Berlin, 2003. 250 Seiten, 16,90 Euro.
Seyran Ates ist eine selbstbewusste, erfolgreiche Rechtsanwältin und aktive Feministin, und sie ist mit ihrem Leben zufrieden. Dennoch befindet sie sich in einem immerwährenden Kampf. Die geborene Türkin mit deutschem Pass sagt es in ihrem Buch: „Der tägliche Rassismus ist zu einem Bestandteil meines Lebens geworden.” Das äußere sich etwa darin, dass Menschen ihr, nachdem sie in tadellosem Deutsch eine Frage gestellt habe, radebrechend antworten würden. Auch das Erstaunen darüber, wie gut sie sich „als Türkin” im deutschen Recht auskenne, gehört für sie in diese Kategorie. Dass eine Juristin aus einer Gastarbeiterfamilie stammt und hierzulande Recht studiert hat, scheint immer noch außerhalb der Vorstellung so manches Deutschen zu liegen, sagt sie.
Bei ihrem Bericht über alltägliche Diskriminierung könnten auch diejenigen ins Grübeln kommen, die glauben, keiner Nachhilfe im Umgang mit Menschen aus anderen Ländern zu bedürfen. Immer wieder beklagt die Autorin zudem, wie wenig Interesse auch aufgeschlossene Menschen für die Kultur ihres Herkunftslandes aufbringen würden.
Kurdische Söhne und Töchter
Als kleines Mädchen von sechs Jahren wird Seyran Ates zusammen mit ihren Geschwistern von den Eltern, die schon eine Weile in Berlin arbeiten, nachgeholt. Der Vater ist Kurde – einer von jenen, die keinen Groll gegen die Türken hegen und am liebsten als Türken durchgehen. Doch hilft ihm das nicht, als er um seine türkische Ehefrau freit. Deren Familie lehnt einen kurdischen Schwiegersohn ab. Also entführt er seine Zukünftige kurzerhand, ein Verfahren, das keineswegs aus dem Rahmen fällt. Hinterher schließen die beiden Familien Frieden.
Die Autorin erleidet das Schicksal vieler Immigrantenkinder, fühlt sich hin- und hergerissen zwischen den Kulturen: zwischen der Nestwärme daheim und den unendlichen Möglichkeiten in der neuen Umgebung. Sie wird häufig eingesperrt, Vater, Mutter und Bruder schlagen sie; in der Schule erlebt sie hingegen eine ungewohnte Freiheit. Zwischen den Kulturen ist sie einem Strudel von Gefühlen ausgesetzt, der sie an den Rand der Verzweiflung bringt.
In der Schule erreicht das türkische Mädchen bald überdurchschnittliche Noten und kann sich als Schulsprecherin durchsetzen. Doch sie bleibt in beiden Welten verfangen: Obwohl sie immer selbstständiger wird, überlegt sie, sich von den väterlichen Fesseln durch eine traditionelle Eheschließung zu befreien.
Aber es kommt anders. Seyran macht einen radikalen Schnitt. Mit 17 Jahren läuft sie von zu Hause weg, sucht Zuflucht in einem Jugendhaus. Sie will Juristin werden – und lieben, wen sie will. Dass sie sich später mit ihren Eltern aussöhnt, grenzt an ein Wunder. Es mag für deutsche Leser seltsam klingen, wie sehr die Autorin ihrer Familie verbunden bleibt, obwohl sie sich lieblos behandelt fühlt, und trotz der Gewalt, die sie erfährt. Sie hingegen kann sich nur wundern, wie gering mitunter die Anlässe sind, die zwischen deutschen Eltern und Kindern zum Bruch führen.
Die Strenge ihrer Eltern beruhte keineswegs auf den Grundsätzen des Korans, schreibt Seyran Ates. Man sei nicht fromm gewesen. Allerdings war aus dem ländlichen Anatolien eine in Ehren gehaltene Tradition mitgebracht worden, verbunden mit einem tief verwurzelten Aberglauben. Inzwischen sind ihre Eltern in die Heimat zurückgekehrt und befassen sich intensiv mit dem Islam.
Der Druck und die Gewalttätigkeiten des Vaters gegen seine Tochter wären diesem beinahe zum Verhängnis geworden. Denn ein Mitglied der „Grauen Wölfe”, einer türkischen, rechtsradikalen Bewegung, schießt in dem Frauenladen für türkische Frauen, in dem Seyran Ates zu ihrer Studentenzeit arbeitet, auf die junge Frau. Sie wird schwer verletzt, ihre Kollegin stirbt bei dem Anschlag, und zunächst wird Seyrans Vater verdächtigt. Dennoch berichtet Seyran sehr objektiv über den Prozess und den Freispruch des Mannes, den sie letztlich identifizieren und damit überführen kann. Dass sie, damals noch türkische Staatsangehörige, keine Entschädigung erhält, die deutschen Opfern von Gewalttaten zusteht, ist ihr nur eine Randbemerkung wert. In einem enormen Kraftakt gelingt es ihr schließlich, die Folgen des Attentats so weit zu überwinden, dass sie ihr Studium abschließen kann.
Es gibt zwei gleichermaßen interessante Aspekte in dem Buch. Da ist zum einen die Verwurzelung der ersten türkischen Immigrantengeneration in der orientalisch-islamischen Kultur – samt der Brüche, mit denen deren Nachkommen konfrontiert sind. Zum anderen sensibilisiert die Autorin die Leser in ihrem Umgang mit Türken und Kurden. Es bewahrt sie vor möglicherweise gut gemeinter Mulitkulti-Akzeptanz etwa dort, wo ein offenes Wort durchaus angebracht wäre, beispielsweise beim Tragen eines Kopftuchs. Fast immer, so Seyran Ates, wenn eine Frau sich für die Kopfbedeckung entscheide, stecke dahinter der Druck eines Mannes. Nicht der Koran schreibe den Tschador oder das Kopftuch vor, vielmehr werde das von Männern verlangt, die sich die Verfügungsgewalt über Frauen anmaßten. Derzeit hat die eingebürgerte Rechtsanwältin eine besondere Herausforderung zu bestehen: Sie ist einem türkischen Mann begegnet, den sie liebt.
ELKENICOLINI
Gefangen in einem Strudel der Gefühle: türkische Kinder zwischen Tradition und Moderne.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Elke Nicolini zeigt sich von diesem Buch, in dem die deutsch-türkische Juristin über ihr Leben in Berlin erzählt, sehr angetan. Dabei bemerkt sie etwas überrascht, dass auch Menschen, die sich selbst als anderen Kulturen gegenüber aufgeschlossen erleben, bei diesem Buch "ins Grübeln" kommen dürften. Die Rezensentin betont zwei wichtige Aspekte des Buches, nämlich einmal die "Verwurzelung der ersten türkischen Immigrantengeneration" in der Kultur ihrer Eltern und die Sensibilisierung der Leser in ihrem "Umgang mit Türken und Kurden". Nicolini bemerkt dankbar, dass es die Autorin bei einigen Themen, wie dem Tragen von Kopftüchern, nicht bei "gut gemeinter Multikulti-Akzeptanz" belasse, sondern hier klare Positionen bezieht. Erstaunt hat die Rezensentin bei der Lektüre, dass Ates trotz der Gewalt, die sie in ihrer Jugend zu Hause erfahren hat, die Bindung zu ihrer Familie nie verloren hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ates scheut klare Urteile nicht, weder über die deutsche noch über die türkisch-kurdische Seite." - Berliner Zeitung
Ein überzeugendes, ein mutiges Buch. Süddeutsche Zeitung