Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.1997Wasserträger des Wortes, Schwärmer der Schreibmaschinen
Was ist eigentlich aus dem Hund geworden, der Jens Heppner bei der Tour de France ins Rad lief? Eine alberne Frage? Gewiß. Aber sie ist fast die einzige, die das offizielle Jan-Ullrich-Tour-de-France-Fan-uch offenläßt.
Unter dem merkwürdigen Titel "Große Schleife die Zweite" wird der erste Erste aus Deutschland gefeiert, daß sich die Buchdeckel biegen. Und wenn Fans feiern, dann gleich die ganze Familie - zu der auch die Merdinger Freundin Gaby und ihr Hund, die Mutter in Rostock, der Berliner Trainer Peter Becker (einer der vielen Co-Autoren des Buches) sowie die Kollegen und Chefs vom Team Deutsche Telekom gehören, die Ullrich im Fahrradsattel und im Autositz den Weg nach Paris bereiteten. Sogar ein Tagebuch der triumphalen Tour de France enthält das bunte Album.
Das Wort ist, wie Millionen von Fernsehzuschauern wissen, nicht Ullrichs Metier. So hat der Radprofi die Tagebuchnotizen - diese und frühere für eine Illustrierte - journalistischen Wasserträgern überlassen. Der Fernsehreporter Hagen Boßdorf hat sich dafür ebenfalls der Familie Ullrich anschließen und von seinesgleichen distanzieren dürfen. "2000 Journalisten befragten, belagerten, ja belästigten die 198 Radfahrer", steht im Vorwort. "Mit Hagen Boßdorf habe ich mich trotzdem jeden Tag getroffen."
So ist der kleinformatige Band zu einer liebevollen Sammlung all dessen geworden, was man auch unter dem Titel "Unser erster Tour-Sieg" hätte veröffentlichen können. Fotos vom kleinen Jan bei der ersten Siegerehrung seines Lebens, Fotos vom großen Jan mit der ersten Freundin beim Kirschenpflücken bilden den Auftakt zu Souvenirs, Souvenirs: Streckenprofil und Erinnerungsfotos Tag für Tag, Ergebnisse und Konkurrenten, Zeitungsausrisse, Bonmots und vor allem Begeisterung. Da fährt Ullrich wieder alleine hinauf nach Andorra und hinein ins Gelbe Trikot, da wiederholt er an jedem Etappenziel, noch sei die Tour nicht gewonnen.
"Ich hoffe, er bewahrt sich seine jugendliche Naivität noch ein bißchen", wird Ullrichs Mannschaftskamerad Udo Bölts zitiert - leider fehlt seine berühmt gewordene Anfeuerung aus den Vogesen "Quäl dich, du Sau!" -, und beim Blättern versteht man ihn: Hier entdeckt jemand die Tour de France, unbelastet von der bald hundertjährigen Geschichte des Rennens und unberührt von seinem Mythos. Da sind Ullrich und seine Ghostwriter mit den Millionen Begeisterten in Deutschland eins, für die die Tour eine wunderschöne, dreiwöchige Fernsehserie des Sommers 1997 war.
Ullrich hat auch der seit Jahren vergriffenen und gesuchten "Tour de France" von Hans Blickensdörfer zurück in die Buchläden verholfen. Die letzten zwanzig Jahre Tour auf vierzig Seiten angehängt, vorn aufs Cover den Mann in Gelb - schon ist das umfangreiche Werk mit dem Anspruch eines Cyclo-Standardwerks recycelt. Und doch belegt es zunächst und vor allem, was sich geändert hat im Sport und auf den Straßen Frankreichs. Zuerst fallen die rauhen Trikots der Fahrer ins Auge, die altmodischen Pedalhaken und Schalthebel an den Rennrädern. Dann erkennt man jugendfrisch die Ullrichs von gestern: Altig und Merckx, Zoetemelk und Godefroot, Kuiper, Pevenage und Thevenet - allesamt auch bei der Tour 1997 dabei, allerdings in Sponsorenautos und auf Kommentatorenplätzen. Und immer wieder sieht man einen ranken, schlanken Dietrich Thurau: im Raleigh-Trikot, im Weißen Trikot, im Gelben Trikot. Sein Erfolg 1977 war, bis heute unübersehbar, der Grund, dieses Buch herauszugeben.
Doch Thurau ist nicht Gegenstand des Werkes. Der Star ist der Autor. Wenn er vom Tod des gedopten Radprofis Tom Simpson schreiben will, schwadroniert er von sich und dem Reporterleben. Als er die Anfänge der Tour zu beschreiben versucht, erfindet er ellenlange Dialoge. Und wenn er vom Mythos Tour schwärmt, dann führt er ihn umstandslos auf die Kunst der Sportreporter an ihren Schreibmaschinen zurück. Schreibmaschinen? In einer Zeit der Laptops mit Funkverbindung hätte der Romantiker und Romancier Blickensdörfer zumindest das Kapitel von der "Herrschaft der Firmen" aktualisieren müssen. Sie drückt sich nicht nur in der Abschaffung von Nationalmannschaften aus, wie hier zu lesen ist; inzwischen hat die Reklamemaschinerie Tour sogar den Asphalt der Straßen und die Hänge der Berge, ganz zu schweigen von den Rücken der Fahrer, in teure Werbeflächen verwandelt.
Geschichten sind die Stärke Blickensdörfers: phantasievoll ausgeschmückte Anekdoten von den Holzfällerwegen der Pyrenäen und dem "Vieux Gaulois", von Stöpel und Bautz, von Coppi, Kübler und Koblet, von Anquetil, Merckx und Ocaña. Immer neu beschreibt er schwärmerisch den Kampf gegen ein Schicksal, das hinter jeder Kurve und hinter jedem Gipfel lauert. Damit wird er noch manchem Leser, der sich einen Rest jugendlicher Naivität erhalten hat, Freude und eine Ahnung von dem großen Ereignis Tour de France verschaffen. Was hätte Blickensdörfer aus dem Hund gemacht, der Heppner ins Rad lief! MICHAEL REINSCH
Besprochene Bücher: Jan Ullrich, Hagen Boßdorf, Peter Becker: "Große Schleife die Zweite", 144 Seiten, 150 Fotos von Gero Breloer, Sportverlag Berlin, 34,90 Mark. Hans Blickensdörfer: "Tour de France", 232 Seiten mit ebenso vielen Fotos, Sigloch Edition Künzelsau, 39,80 Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was ist eigentlich aus dem Hund geworden, der Jens Heppner bei der Tour de France ins Rad lief? Eine alberne Frage? Gewiß. Aber sie ist fast die einzige, die das offizielle Jan-Ullrich-Tour-de-France-Fan-uch offenläßt.
Unter dem merkwürdigen Titel "Große Schleife die Zweite" wird der erste Erste aus Deutschland gefeiert, daß sich die Buchdeckel biegen. Und wenn Fans feiern, dann gleich die ganze Familie - zu der auch die Merdinger Freundin Gaby und ihr Hund, die Mutter in Rostock, der Berliner Trainer Peter Becker (einer der vielen Co-Autoren des Buches) sowie die Kollegen und Chefs vom Team Deutsche Telekom gehören, die Ullrich im Fahrradsattel und im Autositz den Weg nach Paris bereiteten. Sogar ein Tagebuch der triumphalen Tour de France enthält das bunte Album.
Das Wort ist, wie Millionen von Fernsehzuschauern wissen, nicht Ullrichs Metier. So hat der Radprofi die Tagebuchnotizen - diese und frühere für eine Illustrierte - journalistischen Wasserträgern überlassen. Der Fernsehreporter Hagen Boßdorf hat sich dafür ebenfalls der Familie Ullrich anschließen und von seinesgleichen distanzieren dürfen. "2000 Journalisten befragten, belagerten, ja belästigten die 198 Radfahrer", steht im Vorwort. "Mit Hagen Boßdorf habe ich mich trotzdem jeden Tag getroffen."
So ist der kleinformatige Band zu einer liebevollen Sammlung all dessen geworden, was man auch unter dem Titel "Unser erster Tour-Sieg" hätte veröffentlichen können. Fotos vom kleinen Jan bei der ersten Siegerehrung seines Lebens, Fotos vom großen Jan mit der ersten Freundin beim Kirschenpflücken bilden den Auftakt zu Souvenirs, Souvenirs: Streckenprofil und Erinnerungsfotos Tag für Tag, Ergebnisse und Konkurrenten, Zeitungsausrisse, Bonmots und vor allem Begeisterung. Da fährt Ullrich wieder alleine hinauf nach Andorra und hinein ins Gelbe Trikot, da wiederholt er an jedem Etappenziel, noch sei die Tour nicht gewonnen.
"Ich hoffe, er bewahrt sich seine jugendliche Naivität noch ein bißchen", wird Ullrichs Mannschaftskamerad Udo Bölts zitiert - leider fehlt seine berühmt gewordene Anfeuerung aus den Vogesen "Quäl dich, du Sau!" -, und beim Blättern versteht man ihn: Hier entdeckt jemand die Tour de France, unbelastet von der bald hundertjährigen Geschichte des Rennens und unberührt von seinem Mythos. Da sind Ullrich und seine Ghostwriter mit den Millionen Begeisterten in Deutschland eins, für die die Tour eine wunderschöne, dreiwöchige Fernsehserie des Sommers 1997 war.
Ullrich hat auch der seit Jahren vergriffenen und gesuchten "Tour de France" von Hans Blickensdörfer zurück in die Buchläden verholfen. Die letzten zwanzig Jahre Tour auf vierzig Seiten angehängt, vorn aufs Cover den Mann in Gelb - schon ist das umfangreiche Werk mit dem Anspruch eines Cyclo-Standardwerks recycelt. Und doch belegt es zunächst und vor allem, was sich geändert hat im Sport und auf den Straßen Frankreichs. Zuerst fallen die rauhen Trikots der Fahrer ins Auge, die altmodischen Pedalhaken und Schalthebel an den Rennrädern. Dann erkennt man jugendfrisch die Ullrichs von gestern: Altig und Merckx, Zoetemelk und Godefroot, Kuiper, Pevenage und Thevenet - allesamt auch bei der Tour 1997 dabei, allerdings in Sponsorenautos und auf Kommentatorenplätzen. Und immer wieder sieht man einen ranken, schlanken Dietrich Thurau: im Raleigh-Trikot, im Weißen Trikot, im Gelben Trikot. Sein Erfolg 1977 war, bis heute unübersehbar, der Grund, dieses Buch herauszugeben.
Doch Thurau ist nicht Gegenstand des Werkes. Der Star ist der Autor. Wenn er vom Tod des gedopten Radprofis Tom Simpson schreiben will, schwadroniert er von sich und dem Reporterleben. Als er die Anfänge der Tour zu beschreiben versucht, erfindet er ellenlange Dialoge. Und wenn er vom Mythos Tour schwärmt, dann führt er ihn umstandslos auf die Kunst der Sportreporter an ihren Schreibmaschinen zurück. Schreibmaschinen? In einer Zeit der Laptops mit Funkverbindung hätte der Romantiker und Romancier Blickensdörfer zumindest das Kapitel von der "Herrschaft der Firmen" aktualisieren müssen. Sie drückt sich nicht nur in der Abschaffung von Nationalmannschaften aus, wie hier zu lesen ist; inzwischen hat die Reklamemaschinerie Tour sogar den Asphalt der Straßen und die Hänge der Berge, ganz zu schweigen von den Rücken der Fahrer, in teure Werbeflächen verwandelt.
Geschichten sind die Stärke Blickensdörfers: phantasievoll ausgeschmückte Anekdoten von den Holzfällerwegen der Pyrenäen und dem "Vieux Gaulois", von Stöpel und Bautz, von Coppi, Kübler und Koblet, von Anquetil, Merckx und Ocaña. Immer neu beschreibt er schwärmerisch den Kampf gegen ein Schicksal, das hinter jeder Kurve und hinter jedem Gipfel lauert. Damit wird er noch manchem Leser, der sich einen Rest jugendlicher Naivität erhalten hat, Freude und eine Ahnung von dem großen Ereignis Tour de France verschaffen. Was hätte Blickensdörfer aus dem Hund gemacht, der Heppner ins Rad lief! MICHAEL REINSCH
Besprochene Bücher: Jan Ullrich, Hagen Boßdorf, Peter Becker: "Große Schleife die Zweite", 144 Seiten, 150 Fotos von Gero Breloer, Sportverlag Berlin, 34,90 Mark. Hans Blickensdörfer: "Tour de France", 232 Seiten mit ebenso vielen Fotos, Sigloch Edition Künzelsau, 39,80 Mark.
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