In einer rasant erzählten, ebenso komischen wie furchtlosen Familiensaga verleiht Irene Dische ihrer Großmutter eine ganz eigene Stimme. Die gute Katholikin Elisabeth Rother kennt kein Tabu, ganz egal, ob es sich um ihr Ehebett, um die Juden, um den lieben Gott oder um die Gestapo handelt. Allerdings gibt es keine Katastrophe, nicht einmal die Flucht nach Amerika oder der Zweite Weltkrieg, die sie so sehr beschäftigt wie ihr weitverzweigter Clan. Irene Dische löst auf virtuose Weise ein ewiges Problem der Literatur: das der Autobiographie. Bekanntlich verstrickt sich jeder in ein Lügenknäuel, der sein eigenes Leben beschreiben will. Aus diesem Dilemma befreit sich die Autorin, indem sie sich dem gnadenlosen Blick ihrer überlebensgroßen Großmama aussetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2005Großmama packt aus
Irene Disches neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Romananfänge sind bekanntlich eine Kunst für sich. Dieser beginnt mit einem Paukenschlag: "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen." Die hier zu sprechen anhebt, ebenso unverblümt wie respektlos, trotz ihres Jahrgangs 1891 ganz und gar nicht etepetete und doch mit einer verbrämten Keuschheit, die sie viel, viel später im Leben zu reuen kommt, ist Elisabeth Rother, geborene Gierlich, Tochter aus anständigem Hause, gute Katholikin, rheinische Frohnatur und unangefochtenes Oberhaupt eines chaotischen, weitverzweigten, ungewöhnlichen und liebenswerten Familienclans. Als Mutter von Renate und Großmutter von Irene hat sie alle Hände voll zu tun, deren in jeder Hinsicht unorthodoxes Verhalten zu begutachten und zu kommentieren. Die Hoffnung, daß die rebellische Tochter und die aufsässige Enkelin mehr ihrem vernünftigen Wesen nachschlagen würden, hat sie frühzeitig aufgeben müssen. "Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr Niveau hält", hat Elisabeth beschlossen, und danach richtet sie sich ihr Leben lang, auch wenn es ihr niemand dankt und Tochter und Enkelin ihr dabei gerne in die Parade fahren.
"Großmama packt aus" heißt der Roman von Irene Dische, den wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, und selten hielt ein Werk so sehr, was sein Titel verheißt. Die ganze Familiengeschichte wird von ihr aufs Tapet gebracht, ohne Rücksicht auf Verluste, aber auch ohne Beschwerden oder gar Bitterkeit. Diese Großmutter lehnt jeden Gemütszustand außer resoluter Munterkeit ab und ist verärgert, wenn ihre Familienmitglieder diesbezüglich schwächeln. Enkelin Irene, die schon als Kind "vor lauter Stolz fast an der eigenen Zunge" erstickte, macht dieser unsentimentalen Lebenseinstellung nun alle Ehre.
Denn hinter den stattlichen Umrissen von Großmutter Elisabeth, von Tochter Renate ebenso zärtlich wie respektlos "Mops" genannt, lugt Irene Disches Autobiographie hervor, die mit der Hochzeit ihrer Großmutter mit dem jüdischen Arzt Carl Rother beginnt. Es ist die dramatische Geschichte einer Liebe, einer Flucht und eines Neuanfangs fern der Heimat, wie sie Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert oft erzwungen hat. Doch so exemplarisch das Schicksal des Ehepaares Rother und seiner Verwandtschaft anmuten mag, so einzigartig ist es auch. Charakter, besagt dieses Schicksal, hat man oder hat man nicht: Mildernde Umstände läßt Großmutter auch bei sich selbst nicht gelten.
"Politik interessierte mich nicht", bekennt sie freimütig. Aber wenn der Staat ihren Mann "belästigt", versteht Frau Professor Doktor keinen Spaß. Elisabeth Rother, eingehüllt in einen Kokon aus angeborenem Glauben an den lieben Gott und anerzogenem gesellschaftlichen Standesbewußtsein, läßt sich weder von der Gestapo noch von den sich dramatisch verändernden Verhältnissen einschüchtern; als die ersten antijüdischen Gesetze erlassen werden, packt sie nicht die Furcht, sondern der gerechte Zorn. Sie ist es, die rechtzeitig darauf besteht, mit dem Land auch das große Haus im oberschlesischen Leobschütz, den Komfort von Vermögen und Dienstboten zu verlassen. Sie schmuggelt ihren widerstrebenden Mann außer Landes, verlädt die verbliebenen Habseligkeiten und kommt später mit den Kindern nach. Die Anfänge in New York, ohne Geld, ohne Stellung und zu viert auf engstem Raum, streift sie nur kurz: Von solchen Widrigkeiten läßt sich die zähe Dame nicht unterkriegen.
Die Männer, ob in Gestalt von Gatten, Söhnen, Enkeln oder, Gott bewahre, Liebhabern, nehmen in dem, was Elisabeth mit typischer Untertreibung ihre "schauderhafte, kleine Geschichte" nennt, höchstens Nebenrollen ein. Sie werden geliebt, wie man ein notwendiges Übel eben lieben kann. Großmamas wenig enthusiastische Meinung von den Herren der Schöpfung, obwohl schon als junges Mädchen fest installiert, wird durch die Wahl des ersten Ehemanns ihrer Tochter, eines gewissen verabscheuungswürdigen Dr. Dische, noch bestärkt. Wie recht sie hatte, dessen antiautoritär gepolten Genen zu mißtrauen, zeigt sich an Enkeltochter Irene, der der fulminante literarische Auftritt ihrer überlebensgroßen Großmama nun zu verdanken ist. Geschrieben in jenem zupackenden, lakonisch kessen Ton, den mancher noch aus "Fromme Lügen" (1989) und "Der Doktor braucht ein Heim" (1990) im Ohr hat, wendet Irene Dische ihre ureigene Mischung aus Berliner Schnauze und New Yorker Biß nach ihrem letzten, 2001 erschienenen Roman "Ein Job" nun auf die eigene Familie an. Die Frage nach Schuld souverän ignorierend, zierliche Artigkeiten oder interfamiliäre Lobhudelei meidend wie der Teufel das Weihwasser, steuert der Roman mit unbekümmerter Chuzpe und flinkem Witz durch die Strudel der eigenen Geschichte. Dank Großmutters Beispiel wäre jegliche Form von Larmoyanz für diese Autorin gleichbedeutend mit Banalität. So bezwingt Irene Dische aus der gnadenlos direkten Perspektive der Großmutter im Himmel das heikle Problem der Autobiographie.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Irene Disches neuer Roman als Vorabdruck in der F.A.Z.
Romananfänge sind bekanntlich eine Kunst für sich. Dieser beginnt mit einem Paukenschlag: "Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen." Die hier zu sprechen anhebt, ebenso unverblümt wie respektlos, trotz ihres Jahrgangs 1891 ganz und gar nicht etepetete und doch mit einer verbrämten Keuschheit, die sie viel, viel später im Leben zu reuen kommt, ist Elisabeth Rother, geborene Gierlich, Tochter aus anständigem Hause, gute Katholikin, rheinische Frohnatur und unangefochtenes Oberhaupt eines chaotischen, weitverzweigten, ungewöhnlichen und liebenswerten Familienclans. Als Mutter von Renate und Großmutter von Irene hat sie alle Hände voll zu tun, deren in jeder Hinsicht unorthodoxes Verhalten zu begutachten und zu kommentieren. Die Hoffnung, daß die rebellische Tochter und die aufsässige Enkelin mehr ihrem vernünftigen Wesen nachschlagen würden, hat sie frühzeitig aufgeben müssen. "Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr Niveau hält", hat Elisabeth beschlossen, und danach richtet sie sich ihr Leben lang, auch wenn es ihr niemand dankt und Tochter und Enkelin ihr dabei gerne in die Parade fahren.
"Großmama packt aus" heißt der Roman von Irene Dische, den wir von heute an im Feuilleton dieser Zeitung vorabdrucken, und selten hielt ein Werk so sehr, was sein Titel verheißt. Die ganze Familiengeschichte wird von ihr aufs Tapet gebracht, ohne Rücksicht auf Verluste, aber auch ohne Beschwerden oder gar Bitterkeit. Diese Großmutter lehnt jeden Gemütszustand außer resoluter Munterkeit ab und ist verärgert, wenn ihre Familienmitglieder diesbezüglich schwächeln. Enkelin Irene, die schon als Kind "vor lauter Stolz fast an der eigenen Zunge" erstickte, macht dieser unsentimentalen Lebenseinstellung nun alle Ehre.
Denn hinter den stattlichen Umrissen von Großmutter Elisabeth, von Tochter Renate ebenso zärtlich wie respektlos "Mops" genannt, lugt Irene Disches Autobiographie hervor, die mit der Hochzeit ihrer Großmutter mit dem jüdischen Arzt Carl Rother beginnt. Es ist die dramatische Geschichte einer Liebe, einer Flucht und eines Neuanfangs fern der Heimat, wie sie Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert oft erzwungen hat. Doch so exemplarisch das Schicksal des Ehepaares Rother und seiner Verwandtschaft anmuten mag, so einzigartig ist es auch. Charakter, besagt dieses Schicksal, hat man oder hat man nicht: Mildernde Umstände läßt Großmutter auch bei sich selbst nicht gelten.
"Politik interessierte mich nicht", bekennt sie freimütig. Aber wenn der Staat ihren Mann "belästigt", versteht Frau Professor Doktor keinen Spaß. Elisabeth Rother, eingehüllt in einen Kokon aus angeborenem Glauben an den lieben Gott und anerzogenem gesellschaftlichen Standesbewußtsein, läßt sich weder von der Gestapo noch von den sich dramatisch verändernden Verhältnissen einschüchtern; als die ersten antijüdischen Gesetze erlassen werden, packt sie nicht die Furcht, sondern der gerechte Zorn. Sie ist es, die rechtzeitig darauf besteht, mit dem Land auch das große Haus im oberschlesischen Leobschütz, den Komfort von Vermögen und Dienstboten zu verlassen. Sie schmuggelt ihren widerstrebenden Mann außer Landes, verlädt die verbliebenen Habseligkeiten und kommt später mit den Kindern nach. Die Anfänge in New York, ohne Geld, ohne Stellung und zu viert auf engstem Raum, streift sie nur kurz: Von solchen Widrigkeiten läßt sich die zähe Dame nicht unterkriegen.
Die Männer, ob in Gestalt von Gatten, Söhnen, Enkeln oder, Gott bewahre, Liebhabern, nehmen in dem, was Elisabeth mit typischer Untertreibung ihre "schauderhafte, kleine Geschichte" nennt, höchstens Nebenrollen ein. Sie werden geliebt, wie man ein notwendiges Übel eben lieben kann. Großmamas wenig enthusiastische Meinung von den Herren der Schöpfung, obwohl schon als junges Mädchen fest installiert, wird durch die Wahl des ersten Ehemanns ihrer Tochter, eines gewissen verabscheuungswürdigen Dr. Dische, noch bestärkt. Wie recht sie hatte, dessen antiautoritär gepolten Genen zu mißtrauen, zeigt sich an Enkeltochter Irene, der der fulminante literarische Auftritt ihrer überlebensgroßen Großmama nun zu verdanken ist. Geschrieben in jenem zupackenden, lakonisch kessen Ton, den mancher noch aus "Fromme Lügen" (1989) und "Der Doktor braucht ein Heim" (1990) im Ohr hat, wendet Irene Dische ihre ureigene Mischung aus Berliner Schnauze und New Yorker Biß nach ihrem letzten, 2001 erschienenen Roman "Ein Job" nun auf die eigene Familie an. Die Frage nach Schuld souverän ignorierend, zierliche Artigkeiten oder interfamiliäre Lobhudelei meidend wie der Teufel das Weihwasser, steuert der Roman mit unbekümmerter Chuzpe und flinkem Witz durch die Strudel der eigenen Geschichte. Dank Großmutters Beispiel wäre jegliche Form von Larmoyanz für diese Autorin gleichbedeutend mit Banalität. So bezwingt Irene Dische aus der gnadenlos direkten Perspektive der Großmutter im Himmel das heikle Problem der Autobiographie.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Friedmar Apel hat Irene Disches deutsch-jüdisch-amerikanische Familiengeschichte als "schwierige Identitätsfindung" einer Autorin zwischen nordamerikanischer Sozialisation und "zwiespältiger Anziehung" durch die europäische Kultur gelesen. Aber auch die ausgelöschte "deutsch-jüdischen Kultursymbiose" kommt ihm in den Sinn. Der Geschichte ist er augenscheinlich mit vergnüglicher Anteilnahme gefolgt, immer wieder beeindruckt, wie Dische darin eine Familiengeschichte "über alle Brüche" hinweg in einen Zusammenhang zu bringen versteht. Einen Zusammenhang, in dem Apel schließlich selbst Lügen und Selbsttäuschungen wahrhaftig werden sieht. Auch das Stilmittel "erzählende Großmutter" überzeugt ihn. Auch deshalb, weil diese aus seine Sicht im Verlauf des Romans zu einer "komplexen Metapher" von Literatur an sich wird. Gelobt wird auch die stilsichere Ungezwungenheit, mit der Reinhard Kaiser Disches originelle Sprache aus dem Amerikanischen ins Deutsche gebracht hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005Gedämpftes Kichern im Salon
Kleine Anzüglichkeiten in besseren Kreisen: „Großmama packt aus”, der neue Roman von Irene Dische, holt die Familiengeschichte in die Kaffee- und Kuchenrunde zurück
Von Helmut Böttiger
Wenn gleich im ersten Satz eines Romans die „geringe Spermiendichte” eines Mannes auftaucht, ist klar, wohin der Hase läuft. Der Mund wird spitz, die Lippen formen sich zu einem spöttischen Lächeln, und die Romanautorin und die potenzielle Leserin zwinkern sich vertraulich zu. Das Teetässchen steht bereit, der kleine Finger spreizt sich ab, und man kichert gemeinsam ein bisschen. Anvisiert ist so etwas wie eine vergnügliche Lektüre, aber da es sich bei uns allen erwiesenermaßen um etwas bessere Kreise handelt, muss man auch aufs Niveau achten. Selbstredend geht es um ein eigentlich recht ernstes Thema.
„Großmama packt aus”, der Titel, ist ganz wörtlich zu nehmen: Wir haben es das ganze Buch über mit einer nicht sonderlich variantenreichen Rollenprosa zu tun. 365 Seiten lang spricht die Oma. Sie spricht so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Die formellen Angelegenheiten des Familienfestes sind absolviert, jetzt sitzt man in eher lockerer Runde, ein paar Cremetörtchen stehen vor einem, hie und da prickelt auch schon ein Sektgläschen, und die Grande Dame des Hauses nimmt auf einmal ein Löffelchen und schlägt damit gegen das Glas. Dann steht sie auf und beginnt mit ihrer launigen Rede. Ein bisschen tatterig ist sie vielleicht schon, aber gleichzeitig noch unglaublich resolut. Sie hat sich extra herausgeputzt. Manchmal ist sie unfreiwillig komisch. Aber manchmal ist sie auch mit Absicht witzig. Wenn sie sich dann wieder hinsetzt, ist man ganz amüsiert und fühlt sich in allem bestätigt, was man von der Welt und von den Menschen schon immer dachte.
Das, was Irene Dische uns als ihren neuen Roman vorlegt, fühlt sich dieser Situation verpflichtet. Ein bisschen spritzig muss es schon sein, wenn man die Tafel unterhalten will, aber es empfiehlt sich auch, die Grenze des Schicklichen zu wahren: ein paar Tabubrüche zwar anzudeuten, aber sie doch gleich wieder zurückzudirigieren in das, was der common sense noch zulässt. Die Autorin kann sich, wenns drauf ankommt, immer hinter ihrer Hauptperson verstecken, sich irgendwie über sie lustig machen, aber letztlich doch auf ihre einfache Weltsicht vertrauen. Außerdem muss sie sich sprachlich nicht sonderlich anstrengen. So eine launige Tischrede - das geht doch locker von der Hand. Und hinterher verziehen sich die männlichen Teilnehmer schmauchend ins Herrenzimmer, während die Damen in ihren gepolsterten Sesselchen lustig weiterkichern.
Also noch mal von vorn. Die ersten Sätze gehen so: „Dass meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen. Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit ermordet. Darüber später mehr. Jedenfalls brachte er nur ein Kind zustande.” Neben der Koketterie mit so genannten schlüpfrigen Andeutungen fallen vor allem die rhetorischen Elemente auf. Die Wendung „darüber später mehr” kommt in der ersten Hälfte des Buchs sehr oft vor, und die Absicht ist eindeutig: Das soll Spannung erzeugen. Der Satzanfang mit „Jedenfalls” ist ebenfalls der Kaffeetafel-Diktion geschuldet, wobei es nicht ganz sicher ist, wann genau man geschlossen zu eher alkoholischen Getränken übergegangen ist.
Jedenfalls steigt die Stimmung, und die Hauptperson, die ständig sprechende, sich dabei fast um Kopf und Kragen redende und dann doch wieder obenauf schwimmende Oma, ist dafür ideal. Sie ist nämlich erzkatholisch und lehnt Sex in fast jeder Form ab. Sie hat damit ihren Carl zur Verzweiflung gebracht. Wenn sie ihn doch mal ranlässt, dann nur in dem Bestreben, endlich einen männlichen Nachkommen zu produzieren. Und weil das nicht klappt, fühlt sie sich umso mehr in ihrem Ekel bestätigt.
Wichtig ist, dass dieser Carl Jude ist. Damit kommt die Zeitgeschichte ins Blickfeld, oder, wie der Verlag und Irene Disches erster Förderer Hans Magnus Enzensberger mit vereinten Kräften intonieren, das ganze „schreckliche zwanzigste Jahrhundert”. Die Oma beschreibt, wie ihr Carl trotz seiner Orden aus dem Ersten Weltkrieg 1937 doch noch ein Schiff in die USA besteigt. Sie thematisiert durchaus, dass fast alle Verwandten Carls von den Nazis umgebracht wurden. Natürlich sagt sie das eher nebenbei, denn es illustriert vor allem ihre Überlebenstechnik und ihren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber wenn man Irene Disches Rollenprosa mit jüdisch-amerikanischen Selbstironikern wie Philip Roth oder Woody Allen vergleicht, ein Vergleich, mit dem sie punkten möchte - dann bemerkt man eine beträchtliche Fallhöhe.
Überhaupt: Selbstironie ist Glückssache. Irene Dische versucht offenkundig, ihr eigenes Auftauchen in diesem Buch, wenn sie in der Suada der Großmutter als Enkelin Irene Dische namentlich erscheint, mit diesem Etikett zu beglaubigen. Dennoch beschleicht den Leser ein unangenehmes Gefühl. Wie diese Enkelin hier geschildert wird, dieses ach so freche Luder, das drogen- und hippiemäßig rummacht und unglaublich unkonventionell ist: das hat längst nicht alle Züge eines primären Narzissmus abgestreift. Dies ist saturierte Salon-Prosa. Da hilft es auch nichts, dass der Roman „aus dem Amerikanischen” übersetzt wurde. Irene Dische spielt in den USA keine Rolle. Sie ist ein rein deutsches Phänomen. Und das ist in diesem Zusammenhang wohl ein doch recht vernichtendes Urteil.
Irene Dische
Großmama packt aus
Roman. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005. 368 Seiten, 49 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Kleine Anzüglichkeiten in besseren Kreisen: „Großmama packt aus”, der neue Roman von Irene Dische, holt die Familiengeschichte in die Kaffee- und Kuchenrunde zurück
Von Helmut Böttiger
Wenn gleich im ersten Satz eines Romans die „geringe Spermiendichte” eines Mannes auftaucht, ist klar, wohin der Hase läuft. Der Mund wird spitz, die Lippen formen sich zu einem spöttischen Lächeln, und die Romanautorin und die potenzielle Leserin zwinkern sich vertraulich zu. Das Teetässchen steht bereit, der kleine Finger spreizt sich ab, und man kichert gemeinsam ein bisschen. Anvisiert ist so etwas wie eine vergnügliche Lektüre, aber da es sich bei uns allen erwiesenermaßen um etwas bessere Kreise handelt, muss man auch aufs Niveau achten. Selbstredend geht es um ein eigentlich recht ernstes Thema.
„Großmama packt aus”, der Titel, ist ganz wörtlich zu nehmen: Wir haben es das ganze Buch über mit einer nicht sonderlich variantenreichen Rollenprosa zu tun. 365 Seiten lang spricht die Oma. Sie spricht so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Die formellen Angelegenheiten des Familienfestes sind absolviert, jetzt sitzt man in eher lockerer Runde, ein paar Cremetörtchen stehen vor einem, hie und da prickelt auch schon ein Sektgläschen, und die Grande Dame des Hauses nimmt auf einmal ein Löffelchen und schlägt damit gegen das Glas. Dann steht sie auf und beginnt mit ihrer launigen Rede. Ein bisschen tatterig ist sie vielleicht schon, aber gleichzeitig noch unglaublich resolut. Sie hat sich extra herausgeputzt. Manchmal ist sie unfreiwillig komisch. Aber manchmal ist sie auch mit Absicht witzig. Wenn sie sich dann wieder hinsetzt, ist man ganz amüsiert und fühlt sich in allem bestätigt, was man von der Welt und von den Menschen schon immer dachte.
Das, was Irene Dische uns als ihren neuen Roman vorlegt, fühlt sich dieser Situation verpflichtet. Ein bisschen spritzig muss es schon sein, wenn man die Tafel unterhalten will, aber es empfiehlt sich auch, die Grenze des Schicklichen zu wahren: ein paar Tabubrüche zwar anzudeuten, aber sie doch gleich wieder zurückzudirigieren in das, was der common sense noch zulässt. Die Autorin kann sich, wenns drauf ankommt, immer hinter ihrer Hauptperson verstecken, sich irgendwie über sie lustig machen, aber letztlich doch auf ihre einfache Weltsicht vertrauen. Außerdem muss sie sich sprachlich nicht sonderlich anstrengen. So eine launige Tischrede - das geht doch locker von der Hand. Und hinterher verziehen sich die männlichen Teilnehmer schmauchend ins Herrenzimmer, während die Damen in ihren gepolsterten Sesselchen lustig weiterkichern.
Also noch mal von vorn. Die ersten Sätze gehen so: „Dass meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen. Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit ermordet. Darüber später mehr. Jedenfalls brachte er nur ein Kind zustande.” Neben der Koketterie mit so genannten schlüpfrigen Andeutungen fallen vor allem die rhetorischen Elemente auf. Die Wendung „darüber später mehr” kommt in der ersten Hälfte des Buchs sehr oft vor, und die Absicht ist eindeutig: Das soll Spannung erzeugen. Der Satzanfang mit „Jedenfalls” ist ebenfalls der Kaffeetafel-Diktion geschuldet, wobei es nicht ganz sicher ist, wann genau man geschlossen zu eher alkoholischen Getränken übergegangen ist.
Jedenfalls steigt die Stimmung, und die Hauptperson, die ständig sprechende, sich dabei fast um Kopf und Kragen redende und dann doch wieder obenauf schwimmende Oma, ist dafür ideal. Sie ist nämlich erzkatholisch und lehnt Sex in fast jeder Form ab. Sie hat damit ihren Carl zur Verzweiflung gebracht. Wenn sie ihn doch mal ranlässt, dann nur in dem Bestreben, endlich einen männlichen Nachkommen zu produzieren. Und weil das nicht klappt, fühlt sie sich umso mehr in ihrem Ekel bestätigt.
Wichtig ist, dass dieser Carl Jude ist. Damit kommt die Zeitgeschichte ins Blickfeld, oder, wie der Verlag und Irene Disches erster Förderer Hans Magnus Enzensberger mit vereinten Kräften intonieren, das ganze „schreckliche zwanzigste Jahrhundert”. Die Oma beschreibt, wie ihr Carl trotz seiner Orden aus dem Ersten Weltkrieg 1937 doch noch ein Schiff in die USA besteigt. Sie thematisiert durchaus, dass fast alle Verwandten Carls von den Nazis umgebracht wurden. Natürlich sagt sie das eher nebenbei, denn es illustriert vor allem ihre Überlebenstechnik und ihren Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber wenn man Irene Disches Rollenprosa mit jüdisch-amerikanischen Selbstironikern wie Philip Roth oder Woody Allen vergleicht, ein Vergleich, mit dem sie punkten möchte - dann bemerkt man eine beträchtliche Fallhöhe.
Überhaupt: Selbstironie ist Glückssache. Irene Dische versucht offenkundig, ihr eigenes Auftauchen in diesem Buch, wenn sie in der Suada der Großmutter als Enkelin Irene Dische namentlich erscheint, mit diesem Etikett zu beglaubigen. Dennoch beschleicht den Leser ein unangenehmes Gefühl. Wie diese Enkelin hier geschildert wird, dieses ach so freche Luder, das drogen- und hippiemäßig rummacht und unglaublich unkonventionell ist: das hat längst nicht alle Züge eines primären Narzissmus abgestreift. Dies ist saturierte Salon-Prosa. Da hilft es auch nichts, dass der Roman „aus dem Amerikanischen” übersetzt wurde. Irene Dische spielt in den USA keine Rolle. Sie ist ein rein deutsches Phänomen. Und das ist in diesem Zusammenhang wohl ein doch recht vernichtendes Urteil.
Irene Dische
Großmama packt aus
Roman. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2005. 368 Seiten, 49 Euro.
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»Eine wunderbar kantige Erzählung.« Georg Leyrer Kurier 20190705