„Berlin“ lautete das Thema der Ausschreibung für diese Anthologie – ehe Corona über uns hereinbrach und so vieles in unserem Alltag veränderte. Umso schöner, so die Herausgeberinnen Sophie-Marie Gruber, Liv Modes, Jen Pauli und Katharina Stein, dass die Texte in „Großstadtklänge – Von singenden
Vögeln in dunklen Gassen“ von insgesamt 31 Autor:innen nun an ein Berlin vor der Pandemie erinnern. Es…mehr„Berlin“ lautete das Thema der Ausschreibung für diese Anthologie – ehe Corona über uns hereinbrach und so vieles in unserem Alltag veränderte. Umso schöner, so die Herausgeberinnen Sophie-Marie Gruber, Liv Modes, Jen Pauli und Katharina Stein, dass die Texte in „Großstadtklänge – Von singenden Vögeln in dunklen Gassen“ von insgesamt 31 Autor:innen nun an ein Berlin vor der Pandemie erinnern. Es ist eine brodelnde, berauschende, traurige, nachdenklich und glücklich stimmende Mischung aus Momentaufnahmen. Die Geschichten feiern die großen und kleinen Augenblicke des Lebens und setzen sie in einer Stadt in Szene, die niemals ruht, die abstoßend wirken und gleichzeitig einen unbestreitbaren Sog ausüben kann.
Mit dem Vorwort hatten mich die Herausgeberinnen bereits gebannt. Darin steckt so viel Leidenschaft für diese Anthologie, so Gefühl für das Thema und Hingabe an den Leser. Ich fühlte mich willkommen geheißen und war bereit, diese unterschiedlichen Geschichten kennenzulernen. Besonders an einer Anthologie ist natürlich die Vielseitigkeit von Stil, Thema und Figuren. Das ist auch hier der Fall, die Autor:innen schreiben vom Ankommen und vom Leben in der Großstadt, von Lärm, von der Enge und der unermüdlichen Lebendigkeit Berlins. Sie erzählen von den Menschen, die diese Stadt erleben und fühlen. Die Auswahl hat mich ziemlich überzeugt. Es gab nur sehr wenige Texte – meist abstraktere, mit denen ich grundsätzlich schwer warm werde – die mich nicht vollkommen mitreißen konnten.
Den grandiosen Auftakt macht „Im Ring“ von Jana Thiel. Diese Geschichte ist sprachlich ein Genuss, die Autorin spielt humorvoll mit den Worten, sie hat einen ganz eigenen Rhythmus, der mir sehr gefiel. Dadurch wird ein im Grunde unbedeutendes Ereignis zu etwas Besonderem. „Bitte, bitte, komm‘ nicht zu mir, denkt er, als sich die Taube in seine Richtung bewegt. Natürlich kommt sie zu ihm. War ja klar. Die Taube und der Stumme.“ Ebenso amüsant und ein wenig kurios ist „Luft anhalten“ von Daniel Klaus daher: Musikalisches Luftanhalten in der U2. Das weckt Sehnsucht nach dem Bahnfahren und sollte ich je in der U2 sitzen, wird man mich sicherlich dabei ertappen, wie ich versuche, die Luft von Haltestelle zu Haltestelle anzuhalten.
Bewegt und berührt hat mich hingegen besonders „Die Klippen der Stadt“ von Aylin Ünal. Sie erzählt von Bea, die durch die Stadt taumelnd versucht, den Tod ihrer Tochter zu verarbeiten. Auch „Die Gabel“ von Jennifer Pfalzgraf ist eine zutiefst emotionale Geschichte darüber, wie einen die Kindheit bis ins Erwachsenenalter prägt. Es ist großartig, wie es die Autor:innen schaffen, die vielfältigsten Emotionen im Leser zu wecken. So wie in „Musik im Garten“ von Pêcheuse, worin es um eine Erkrankung, eine zufällige Begegnung mit einer Nachbarin und die Kraft der Musik geht. Alle drei Geschichten haben mich tief bewegt und hängen lange nach.
Doch es gibt auch Texte, die mich auf unterschiedlichste Weise staunen ließen. „Menschenfresser:innen“ von Sofia Banzhoff beispielsweise. So ein ungewöhnliches Thema! Erzählt wird aus Sicht einer toten Frau, die im Seziersaal liegend die Medizinstudent:innen beobachtet und über deren sowie ihr eigenes Leben reflektiert. In eine ähnliche Richtung entwickelt sich „Fleck und Flimmerkasten“ von Claudia van Gozer. Diese Geschichte präsentiert sich aber gleichzeitig als bissige Beobachtung einer jungen Liebe in der ersten gemeinsamen Wohnung.
Einen melancholisch-nachdenklichen Hauch verströmt „Wie die Stadt bei Stille klingt“ von Matthieu Jimenez. Wie ein Vorbote des vergangenen Corona-Jahres und der aktuellen Lage kommt die Geschichte daher. Es heißt darin: „Es fehlt mir, andere Menschen zu sehen. Nicht, um bei ihnen zu sein, sondern um zu wissen, dass ich nicht allein bin.“ So treffend, so voller Empfindung, wundervoll – mich hat diese Anthologie nach Berlin befördert.