Dieses Buch stellt ausgewählte Quellen betriebswirtschaftlichen Denkens umfassend und anschaulich dar. Die Schwerpunkte bilden geschichtliche Aspekte einzelwirtschaftlichen Denkens, Überlegungen zum Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre und Theoriekonzepte, auf denen Allgemeine Betriebswirtschaftslehren errichtet worden sind oder errichtet werden könnten. Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in das Unternehmen eingebettet sind, wird in die Betrachtungen einbezogen, außerdem Aussagen der Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Philosophie und anderer Wissenschaften, soweit sie für eine Allgemeine Betriebswirtschaftslehre relevant sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2019Ökonomie des Überflusses
Die BWL tut sich schwer mit der Digitalisierung
Die akademische Betriebswirtschaftslehre tut sich schwer mit ihrem Fach. Sie läuft der Realität gerade hechelnd hinterher. Die Digitalisierung verändert die Wirklichkeit so schnell und wirft so viele Fragen auf, dass die Theorie kaum nachkommt. Hier nutzt auch der seit Jahren gepflegte Vorrang der sogenannten empirischen Forschung nichts. Um etwas empirisch zu erforschen, muss erst einmal etwas da sein. Das heißt, gerade der empirischen Forschung ist dieser Nachlaufeffekt immanent. Sie kann immer nur feststellen, was schon eingetreten ist. Viele Lehrbücher leben daher immer noch nur von empirischen Untersuchungen, aus denen man ablesen kann, wie es zur Zeit der Untersuchung war. Der Aussagewert für die Zukunft ist sehr begrenzt - und wird immer begrenzter, wenn man daran glaubt, dass die Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit ein wichtiges Merkmal der Digitalisierung ist.
Manfred Bardmann von der Hochschule Kaiserslautern hat den Mangel seines Fachs erkannt. In der dritten Auflage fügt er seinen "Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre" noch einmal fast 300 Seiten über die Digitalisierung hinzu. Schon diese Vorgehensweise des Anhängens zeigt, dass auch Bardmann nicht richtig weiß, wie man die Digitalisierung in die bestehende BWL integrieren kann und muss. Er macht sich aber wenigstens die Mühe, die Digitalisierung umfassend zu beschreiben und richtige Fragen an die BWL zu stellen.
Die Fragen gehen nur leider manchmal unter in der schier überbordenden Materialfülle. Bardmann ist ein Sammler, dem man mehr Mut wünschte, sich von interessantem, aber nicht immer wichtigem Material zu trennen. Was nicht im Text unterzubringen war, hat er in den 2223 (!) Fußnoten untergebracht. Dass die Kürze nicht Bardmanns Stärke ist, zeigt sich auch in 20 Seiten Vorwort. Diese Vorgehensweise macht das Buch zwar zu einer wahren Fundgrube für jeden Material- und Faktensucher, lässt vor lauter Einzelheiten aber an einigen Stellen den roten Faden nicht mehr erkennen. Das ist schade, weil sich Bardmann bemüht, seine Inhalte allgemeinverständlich darzustellen. Er muss nicht durch eine Häufung von Fremdwörtern seine Kenntnis beweisen, sondern kann sie in der Regel in gutem Deutsch erklären.
Allerdings vermisst man an vielen Stellen den Bezug zur Praxis. Unter den mehr als 2000 Fußnoten ist nur eine einzige mit einem praktischen Bezug: Fußnote 2146 auf Seite 763 verweist auf Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden der Continental AG über den Produktlebenszyklus. Solche Verweise hätte man gern mehr gefunden.
Die Digitalisierung bricht sich derzeit Bahn in der Wirtschaft und verändert schon die gesamte Unternehmensorganisation - und damit auch die Betriebswirtschaft. Hätte Bardmann mehr Unternehmensnachrichten gesucht, wäre ihm der "Digitale Zwilling" untergekommen, der heute in der Wirtschaft zum Standard gehört. Er bedeutet, dass sowohl neue Produkte als auch neue Anlagen und Verfahren zunächst einmal digital simuliert werden, bevor ein erstes Muster erstellt wird.
Was Bardmann gut erkennt, sind die grundsätzlichen Veränderungen durch die Digitalisierung. Er wendet sich zu Recht gegen den betriebswirtschaftlich dummen Vergleich, wonach die Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind. Betriebswirtschaftlich sind sie genau das Gegenteil: Öl ist begrenzt, mit Daten steht erstmals ein Rohstoff unbegrenzt zur Verfügung. Der Datenbestand nimmt täglich zu, und noch so starke Nutzung verbraucht ihn nicht. Bardmann stellt hier die richtige Frage, ob man die immer von Knappheiten ausgehende ökonomische Theorie nicht zumindest durch eine "Ökonomie des Überflusses" ergänzen muss. Auch sein richtiger Hinweis darauf, dass Daten ihrer Natur nach eher öffentliche Güter als Privatgüter sind, ist in seiner Konsequenz bisher nur wenig ausgeleuchtet - und dürfte in Wissenschaft und Praxis auch auf Widerspruch stoßen. Diese Einsicht rüttelt an der hergebrachten Eigentumsordnung. Es stellt sich die Frage, wer über die Daten des autonomen Fahrens entscheiden darf, der Autofahrer, der Autohersteller oder jedermann?
Eine spannende Frage ist jene nach dem Einfluss der Digitalisierung auf die Unternehmensführung. Sie sei mit einem hohen Grad an Unwissenheit über die zukünftigen Markt- und Unternehmensgeschehnisse konfrontiert, schreibt Bardmann, um dann zu konstatieren: "Im Falle derartig schlecht strukturierter Entscheidungssituationen sind Intuition, Erfahrung, Einfallsreichtum und Kreativität notwendig." Dieses Fazit des Autors käme einer Kapitulation der BWL als Wissenschaft gleich. So schlimm ist es Gott sei Dank nicht; es gibt Ansätze über agile Unternehmen und andere moderne Formen der Führung. Aber es sind Ansätze und bis heute keine geschlossenen Theorien.
Überbewertet wird von Bardmann das Modethema der Moral in der digitalen Welt. Das Beispiel des autonomen Fahrzeugs, dass sich angesichts eines plötzlich aufgetauchten Hindernisses vor die Wahl gestellt sieht, bei seinem Ausweichmanöver links ein Kind oder rechts eine Oma zu überfahren, wird auch durch Wiederholung nicht einleuchtender. Dieser Fall kommt schon heute kaum vor und wird künftig noch seltener sein, so dass man von ihm keine Technik abhängig machen sollte. Etwas abstrus klingt auch die Ansicht Bardmanns, dass die Anschnallpflicht im Auto dem grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Entfaltung widerspricht.
Trotz dieser Einwände ist es ein lobenswerter Versuch, die sich aus der Digitalisierung ergebenden Fragen für die Betriebswirtschaftslehre zumindest zu stellen. In seiner lesenswerten Schlussbetrachtung stellt der Autor - jetzt offenbar befreit von seiner abgearbeiteten Materialsammlung - noch einmal in Kurzform alle Herausforderungen der BWL durch die Digitalisierung heraus. Wer im Wust der vorderen 800 Seiten steckenbleibt, sollte zumindest diese letzten fünf Seiten des Buches lesen.
GEORG GIERSBERG
Manfred Bardmann: Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre. Geschichte - Konzepte - Digitalisierung. Springer-Gabler, dritte Auflage, Wiesbaden 2019, 885 Seiten, 65 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die BWL tut sich schwer mit der Digitalisierung
Die akademische Betriebswirtschaftslehre tut sich schwer mit ihrem Fach. Sie läuft der Realität gerade hechelnd hinterher. Die Digitalisierung verändert die Wirklichkeit so schnell und wirft so viele Fragen auf, dass die Theorie kaum nachkommt. Hier nutzt auch der seit Jahren gepflegte Vorrang der sogenannten empirischen Forschung nichts. Um etwas empirisch zu erforschen, muss erst einmal etwas da sein. Das heißt, gerade der empirischen Forschung ist dieser Nachlaufeffekt immanent. Sie kann immer nur feststellen, was schon eingetreten ist. Viele Lehrbücher leben daher immer noch nur von empirischen Untersuchungen, aus denen man ablesen kann, wie es zur Zeit der Untersuchung war. Der Aussagewert für die Zukunft ist sehr begrenzt - und wird immer begrenzter, wenn man daran glaubt, dass die Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit ein wichtiges Merkmal der Digitalisierung ist.
Manfred Bardmann von der Hochschule Kaiserslautern hat den Mangel seines Fachs erkannt. In der dritten Auflage fügt er seinen "Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre" noch einmal fast 300 Seiten über die Digitalisierung hinzu. Schon diese Vorgehensweise des Anhängens zeigt, dass auch Bardmann nicht richtig weiß, wie man die Digitalisierung in die bestehende BWL integrieren kann und muss. Er macht sich aber wenigstens die Mühe, die Digitalisierung umfassend zu beschreiben und richtige Fragen an die BWL zu stellen.
Die Fragen gehen nur leider manchmal unter in der schier überbordenden Materialfülle. Bardmann ist ein Sammler, dem man mehr Mut wünschte, sich von interessantem, aber nicht immer wichtigem Material zu trennen. Was nicht im Text unterzubringen war, hat er in den 2223 (!) Fußnoten untergebracht. Dass die Kürze nicht Bardmanns Stärke ist, zeigt sich auch in 20 Seiten Vorwort. Diese Vorgehensweise macht das Buch zwar zu einer wahren Fundgrube für jeden Material- und Faktensucher, lässt vor lauter Einzelheiten aber an einigen Stellen den roten Faden nicht mehr erkennen. Das ist schade, weil sich Bardmann bemüht, seine Inhalte allgemeinverständlich darzustellen. Er muss nicht durch eine Häufung von Fremdwörtern seine Kenntnis beweisen, sondern kann sie in der Regel in gutem Deutsch erklären.
Allerdings vermisst man an vielen Stellen den Bezug zur Praxis. Unter den mehr als 2000 Fußnoten ist nur eine einzige mit einem praktischen Bezug: Fußnote 2146 auf Seite 763 verweist auf Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden der Continental AG über den Produktlebenszyklus. Solche Verweise hätte man gern mehr gefunden.
Die Digitalisierung bricht sich derzeit Bahn in der Wirtschaft und verändert schon die gesamte Unternehmensorganisation - und damit auch die Betriebswirtschaft. Hätte Bardmann mehr Unternehmensnachrichten gesucht, wäre ihm der "Digitale Zwilling" untergekommen, der heute in der Wirtschaft zum Standard gehört. Er bedeutet, dass sowohl neue Produkte als auch neue Anlagen und Verfahren zunächst einmal digital simuliert werden, bevor ein erstes Muster erstellt wird.
Was Bardmann gut erkennt, sind die grundsätzlichen Veränderungen durch die Digitalisierung. Er wendet sich zu Recht gegen den betriebswirtschaftlich dummen Vergleich, wonach die Daten das Öl des 21. Jahrhunderts sind. Betriebswirtschaftlich sind sie genau das Gegenteil: Öl ist begrenzt, mit Daten steht erstmals ein Rohstoff unbegrenzt zur Verfügung. Der Datenbestand nimmt täglich zu, und noch so starke Nutzung verbraucht ihn nicht. Bardmann stellt hier die richtige Frage, ob man die immer von Knappheiten ausgehende ökonomische Theorie nicht zumindest durch eine "Ökonomie des Überflusses" ergänzen muss. Auch sein richtiger Hinweis darauf, dass Daten ihrer Natur nach eher öffentliche Güter als Privatgüter sind, ist in seiner Konsequenz bisher nur wenig ausgeleuchtet - und dürfte in Wissenschaft und Praxis auch auf Widerspruch stoßen. Diese Einsicht rüttelt an der hergebrachten Eigentumsordnung. Es stellt sich die Frage, wer über die Daten des autonomen Fahrens entscheiden darf, der Autofahrer, der Autohersteller oder jedermann?
Eine spannende Frage ist jene nach dem Einfluss der Digitalisierung auf die Unternehmensführung. Sie sei mit einem hohen Grad an Unwissenheit über die zukünftigen Markt- und Unternehmensgeschehnisse konfrontiert, schreibt Bardmann, um dann zu konstatieren: "Im Falle derartig schlecht strukturierter Entscheidungssituationen sind Intuition, Erfahrung, Einfallsreichtum und Kreativität notwendig." Dieses Fazit des Autors käme einer Kapitulation der BWL als Wissenschaft gleich. So schlimm ist es Gott sei Dank nicht; es gibt Ansätze über agile Unternehmen und andere moderne Formen der Führung. Aber es sind Ansätze und bis heute keine geschlossenen Theorien.
Überbewertet wird von Bardmann das Modethema der Moral in der digitalen Welt. Das Beispiel des autonomen Fahrzeugs, dass sich angesichts eines plötzlich aufgetauchten Hindernisses vor die Wahl gestellt sieht, bei seinem Ausweichmanöver links ein Kind oder rechts eine Oma zu überfahren, wird auch durch Wiederholung nicht einleuchtender. Dieser Fall kommt schon heute kaum vor und wird künftig noch seltener sein, so dass man von ihm keine Technik abhängig machen sollte. Etwas abstrus klingt auch die Ansicht Bardmanns, dass die Anschnallpflicht im Auto dem grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Entfaltung widerspricht.
Trotz dieser Einwände ist es ein lobenswerter Versuch, die sich aus der Digitalisierung ergebenden Fragen für die Betriebswirtschaftslehre zumindest zu stellen. In seiner lesenswerten Schlussbetrachtung stellt der Autor - jetzt offenbar befreit von seiner abgearbeiteten Materialsammlung - noch einmal in Kurzform alle Herausforderungen der BWL durch die Digitalisierung heraus. Wer im Wust der vorderen 800 Seiten steckenbleibt, sollte zumindest diese letzten fünf Seiten des Buches lesen.
GEORG GIERSBERG
Manfred Bardmann: Grundlagen der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre. Geschichte - Konzepte - Digitalisierung. Springer-Gabler, dritte Auflage, Wiesbaden 2019, 885 Seiten, 65 Euro.
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