Produktdetails
  • Verlag: Vahlen
  • 1992.
  • Seitenzahl: 286
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 504g
  • ISBN-13: 9783800616954
  • ISBN-10: 3800616955
  • Artikelnr.: 04849063
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2002

Verfahren statt Ergebnis
Der gerechte Preis für die Leistung eines Computeringenieurs

Friedrich Breyer/Martin Kolmar: Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2001, 418 Seiten, 29 Euro.

In ihren "Grundlagen der Wirtschaftspolitik" haben sich Friedrich Breyer und Martin Kolmar das Ziel gesetzt, eine Theorie der Staatsaufgaben zu entwickeln. Es soll geklärt werden, wie das Regelwerk Staat strukturiert sein sollte, damit in einer Volkswirtschaft ein möglichst gutes Wirtschaftsergebnis erreicht wird (Maximierungsparadigma). Eine Beurteilung institutioneller Strukturen sei nur möglich, wenn die Güter- und Ressourcenallokation berücksichtigt werde, die sich aus den institutionellen Strukturen ergebe (Allokationsparadigma). Ob diese Allokation einer gerechten Verteilung der Güter auf die Individuen entspreche, sei dann von normativen Bewertungsmaßstäben abhängig.

Breyer und Kolmar legen ihrer Untersuchung das Paradigma des methodologischen und normativen Individualismus zugrunde. Da daraus folge, daß die Gesellschaft als solche nichts wolle und wollen könne, sondern nur die Individuen, müsse jede Antwort auf die Frage einer gerechten Verteilung der Güter auf Werturteile der Gesellschaftsmitglieder zurückgeführt werden. Dieser Schluß ist höchst problematisch, weil er aus der prämodernen Fragestellung nach dem gerechten Preis abgeleitet ist, aber als eine postmoderne Antwort bezeichnet werden muß. Das zeigt ein von den Autoren selbst eingeführtes Beispiel.

Betrachtet wird ein Computeringenieur, der in einer entwickelten Volkswirtschaft eine sehr hohe Produktivität besitzt. Diese ist sowohl Leistung des Ingenieurs als auch der restlichen Gesellschaft. In einer unterentwickelten Volkswirtschaft hätte der Ingenieur - ohne daß sich seine persönliche und fachliche Qualifikation änderte - eine wesentlich geringere Produktivität. Das Ergebnis des Handelns eines Individuums hängt auch von den Handlungen anderer Gesellschaftsmitglieder ab ("strategische Interdependenz"). Welcher Anteil des vom Ingenieur zusätzlich erzeugten Sozialprodukts steht nun ihm selbst zu? Was ist der gerechte Preis für die Leistung des Computeringenieurs?

An dieser Stelle führen Breyer und Kolmar nicht aus, daß diese Frage bereits bei Aristoteles und fortgeführt in der Preisethik der frühen Kirchenväter zu finden ist. Sie bildet die zentrale individualismuskritische Kategorie bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Die Suche nach dem "iustum pretium" dient dem Wohl der organisch verfaßten Gemeinschaft. Deshalb ist der gerechte Preis für ein Gut aus der standesmäßigen Position sowie der persönlichen und fachlichen Qualifikation des Produzenten abzuleiten (suum cuique). Das Beispiel des Ingenieurs zeigt jedoch, daß die strategische Interdependenz zwischen den Individuen im prämodernen, aristotelisch-thomistischen Denken systematisch ignoriert wird. Selbstverständlich folgen Breyer und Kolmar keiner organischen Gemeinschaftsideologie. Im Ergebnis ignorieren sie aber die strategische Interdependenz zwischen den Individuen, weil sie versäumen, aus ihrem Problemaufriß die Konsequenz zu ziehen, daß die wohlfahrtstheoretische Allokationstheorie samt ihrem Maximierungsparadigma aufzugeben ist.

Unstrittig ist, daß aufgrund der strategischen Interdependenz zwischen den Individuen die Produktivität des Computeringenieurs in einer hochentwickelten Volkswirtschaft höher ist als in einer unterentwickelten. Daraus läßt sich jedoch keine Aussage über die Höhe der Entlohnung ableiten, die der Computeringenieur in der hoch- oder unterentwickelten Volkswirtschaft erzielt. Aufgrund der strategischen Interdependenz hängt der Preis für seine Arbeit nicht primär von der Produktivität ab, sondern von den Verhältnissen von Angebot und Nachfrage, die sowohl auf den Absatzmärkten für Hard- und Software als auch auf den Arbeitsmärkten für Computeringenieure bestehen. Es ist deshalb durchaus möglich, daß ein Computeringenieur in einer unterentwickelten Volkswirtschaft einen wesentlich höheren Preis für seine Arbeit erzielt als in einer hochentwickelten.

Die Betrachtung von Ressourcenallokationen und Produktivitäten führt in die Irre, weil durch sie die gesellschaftliche Problemlage falsch strukturiert wird. Durch das Maximierungsparadigma wird ein Umdenken von kleinen auf große Verhältnisse dadurch verhindert, daß Kategorien der individuellen Handlungstheorie unzulässigerweise auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden. Unstrittig ist, daß Individuen ihren Nutzen unter Restriktionen maximieren. Unstrittig ist auch, daß unter Annahme des methodologischen und normativen Individualismus die Gesellschaft nichts will und nichts wollen kann. Dann folgt jedoch auch, daß die Gesellschaft nichts maximieren kann. Das Maximierungsparadigma der Robinson-Ökonomik ist daher für die Betrachtung sozialer Ereignisse von vornherein ungeeignet. Es ist vielmehr durch ein Koordinierungsparadigma im Sinne der Katallaxie von Friedrich August von Hayek, der Verfassungsökonomik von James Buchanan oder der Interaktionsökonomik von Karl Homann zu ersetzen.

Da Breyer und Kolmar diese Konsequenz nicht ziehen, brauchen sie für ihre Maximierungskalküle eine gesellschaftliche Ziel- oder Wohlfahrtsfunktion. Dies widerspricht indes ihrer eigenen Annahme des methodologischen und normativen Individualismus bei Beachtung der Tatsache, daß Nutzen nur ordinal meßbar und interpersonell nicht vergleichbar ist. Der Ausweg aus dieser Mißlichkeit soll wohl in ihrer postmodernen ("anything goes") Antwort liegen: Aus der Annahme des Individualismus folge, daß jede Antwort auf die Frage einer gerechten Verteilung der Güter auf die Werturteile der Gesellschaftsmitglieder zurückgeführt werden müsse. Anything goes? It doesn't matter?

Gesetzt den Fall, ein aristotelisch-thomistisch geprägter Konservativer, der das Satisfaktionsprinzip vertritt, trifft auf einen marxistisch-leninistischen Linken, der einen Manchester-Kapitalisten im Schwitzkasten hält. Während ihrer fairen Debatte über die gerechte Verteilung der Güter in ihrer Gesellschaft stoßen sie auf einen schlagkräftigen Skinhead, der ihnen durch Taten verdeutlicht, daß sich die gerechte Verteilung der Güter aus dem Recht des Stärkeren ergebe. Dieser Zustand der Anarchie ist nicht ohne Verletzung des Kriteriums der Pareto-Effizienz zu überwinden. Und um einzusehen, daß sich aus diesen Gerechtigkeitstheorien keine soziale Wohlfahrtsfunktion aggregieren läßt, die man ersatzweise dem gesellschaftlichen Maximierungsproblem als Ziel vorgeben könnte, muß man nicht erst das (Un-)Möglichkeitstheorem von Kenneth Arrow kennen.

Selbst Arrow stellt durch Nebenbedingungen sicher, daß der Konflikt zwischen Vertretern verschiedener Gerechtigkeitstheorien ausgeschlossen ist. Arrow setzt einen demokratischen Rechtsstaat und damit eine weitreichende Gerechtigkeitsvorstellung für alle Individuen als verbindlich voraus - und zwar die einzige Gerechtigkeitsvorstellung, die mit der Individualismusannahme vereinbar ist: das Postulat der gleichen Freiheit für alle, im Sinne der Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür (Immanuel Kant).

Sowohl Arrow als auch Breyer und Kolmar verkennen jedoch, daß damit die Frage nach der gerechten Verteilung der Güter in einer Gesellschaft nicht mehr eine Frage der individuellen Bewertung von Güterallokationen sein kann. Da der Annahme des methodologischen und normativen Individualismus eine deontologische Fairneß-Ethik zugrunde liegt, läßt sich die Frage der gerechten Güterverteilung ausschließlich darauf reduzieren, ob diese Verteilung auf einem Weg zustande gekommen ist, der das Postulat der gleichen Freiheit für alle nicht verletzt. Es geht um das Verfahren, nicht um das Ergebnis. Hieraus folgt, daß die Wohlfahrtsökonomik zur Beurteilung gesellschaftlicher und staatlicher Strukturen nicht nur deshalb ungeeignet ist, weil durch sie die strategische Interdependenz zwischen den Individuen ignoriert wird, sondern auch, weil sie ihre eigenen individualistischen Grundannahmen verletzt.

NORBERT TOFALL

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